Die Geschichte von den zwei Schülerinnen und ihrem Lehrer, die mit Gott, sich und der Welt ins Reine zu kommen versuchen, verschmilzt Leben und Liebe, Philosophie und Religion, Phantasie und Realität zu einer dramatischen Erzählung, die sowohl Jugendliche als auch Erwachsene anspricht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.1999Der Geist liebt das absolute Blau
Eckhard Nordhofen lehrt Religion und läßt die Lust im Eis büßen · Von Friedrich Wilhelm Graf
Einst verfaßten Philosophen gelehrte Studien über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Neuerdings schreiben sie Bildungsromane. Seit Umberto Ecos "Der Name der Rose" ist es Mode, an alten religiösen Stoffen die Probleme der modernen Semiotik darzustellen. Auch als Romancier will der Philosoph aufklären. Er belehrt das Publikum über die Vieldeutigkeit der Zeichen und die Frage, ob ein Zeichen das Bezeichnete zu repräsentieren vermag.
Der Frankfurter Philosoph und Religionspädagoge Eckhard Nordhofen inszeniert in seinem ersten Roman einen religiösen Bildungsprozeß. Mit hessischem Lokalkolorit beschreibt der Autor eine aus alten Bildungsromanen bekannte pädagogische Konstellation. Ein begnadeter Lehrer verliebt sich in seine beste Schülerin. Nordhofens Helden tragen sprechende Namen. Der juvenile Studienreferendar Ringler, der in Frankfurt Katholische Religionslehre, Philosophie und Französisch unterrichtet, die Schüler duzt und kein "Beamter auf Lebenszeit" werden mag, will seinen Schülerinnen den Sinn von Lessings Ringparabel nahebringen.
Mit der klugen Thea, die zusammen mit ihrer magersüchtigen Freundin Silke gern über das Nichts nachdenkt, beginnt er einen riskanten intellektuellen Flirt. Unter dem gestirnten Himmel der Provence erfährt Thea sich als eins mit dem Universum. Erstmals fühlt sie sich aller Endlichkeit enthoben und absolut geborgen. Als Zeichen dieser neuen Gewißheit meint sie einen Ring empfangen zu haben. Ringler ersteht beim Trödler daraufhin einen Ring, den er Thea, der von Gott Gegebenen, später schenkt. Ihre bohrenden Fragen, ob er an Gott glaube, bieten ihm die Gelegenheit, Thea über das Bilderverbot der hebräischen Bibel, Anselm von Canterburys ontologischen Gottesbeweis und Kants Unterscheidung von Glauben und Wissen zu belehren.
Einen Gott, der sich objektivieren läßt, gibt es nicht, lernen die Mädchen, und Ringlers Ring-Parabel zeigt ihnen anschaulich, daß es allein der subjektive Glaube ist, der die Wahrheit eines Zeichens verbürgt. Deshalb müssen sie ihre "goldenen Kälber" und selbstgemachten Götzen, die projizierten Objekte illusionärer Bedürfnisse der Menschen, töten. Silke schlachtet ihr Maskottchen Pogo und kann, gestärkt durch Zen-Übungen, beim Italiener endlich wieder Pizzen verdauen. Nun sucht Ringler den Mädchen die Wege zu einem Zeichen zu weisen, das dem Absoluten adäquat ist, also das "Zeichending" transzendiert.
Die skeptische Thea ahnt, daß auch ein vermeintlich nichtproduzierter Gott vom denkenden Menschen gemacht, als nichtkonstruiert konstruiert wird. Sie fühlt sich von Ringler intellektuell mißbraucht und will sich für seine "metaphysische Unzucht" rächen, indem sie ihn mit einem Duplikat des Ringes, dem falschen Zeichen vermeintlicher Gewißheit, betrügt. Doch mit dem Mann Moses erkennt sie bald, daß man alle Gegenständlichkeit vernichten muß, um sich der befreienden Grunderfahrung des radikalen Nichts auszusetzen und reine Gegenwärtigkeit zu genießen. So wirft sie ihren Ring schließlich in den Main und kommt sich bei einem Regenspaziergang wahnsinnig befreit vor.
Ringler ist ein gebildeter Religionspädagoge. Er kennt sich in der Heiligen Schrift aus, kann subtil die römisch-katholische Sakramentenlehre erläutern und hat neben den Frankfurter Lokalhelden kritischer Theorie auch Heidegger und Pierce gelesen. Mit täglichen "Abstandsübungen" trainiert er seine Fähigkeit, sich die Menschen auf Distanz zu halten. Durch sogenannte "Zeitschnitte" stellt er sie sich als älter vor, oder er verfremdet sie, indem er ihnen ein anderes Geschlecht gibt. Souverän beherrscht er die wichtigste Kunst der Distanznahme, die Ironie. Doch "sein Abstandstraining führte manchmal in eine Zone eisiger Kälte. Er mußte aufpassen, daß er nicht abstürzte, daß er nicht eines Tages in einem lichtlosen Loch landete, weitab von jeder Menschenseele."
Zu seiner römisch-katholischen Amtskirche hat Ringler ein gebrochenes Verhältnis. Er mag die älteste Institution der Welt, gerade weil sie "so extrem miserabel gemanagt" und von kleinbürgerlichen Pfaffen beherrscht wird. Aber die intellektuelle Arroganz, mit der er sich von der Masse der vielen Angepaßten abzusetzen sucht, läßt ihn einsam werden. Der seichte Moraljargon der in Hessen herrschenden Religionspädagogik widert ihn an, und einen Unterricht, in dem christliche Tradition zu einer ideologischen Drohbotschaft oder zu gutgemeinten, also furchtbaren Umerziehungsprogrammen pervertiert wird, kann er nur mit einem ethnologischen Blick als Veranstaltung eines fremden Stammes sehen.
Gleichwohl liefert er seinem Seminarlehrer, einem "publik forum" lesenden Linkskatholiken, eine Unterrichtseinheit über "Weihnachten in der Konsumgesellschaft", in der, satirisch brillant, alle Stereotypen verlogener religiöser Kommerzialismuskritik und Drittweltsympathie zu Lernzielen erklärt werden. In den verbalerotischen Gedankenspielen mit Thea erfährt er allerdings die Grenzen der Fähigkeit, drinnen und draußen zugleich zu sein, als Intellektueller mit dem magischen Volksglauben und dem kleinbürgerlichen Kirchenmilieu gebrochen zu haben und bei skeptischen Schülerinnen zugleich für die Vernunft der Religion zu werben.
Silke kann er sich trotz ihres tizianroten Haares noch auf Distanz halten, indem er ihr die Lüge auftischt, ein Jesuitenpater zu sein, der sich zu zölibatärer Keuschheit verpflichtet habe. In der Beziehung zu Thea aber verstrickt er sich in Schuldgefühlen und diffusem erotischem Begehren. Je mehr er sich als allwissender Religionsexperte darzustellen versucht, der seinen Mädchen unverständliche religiöse Zeichen entziffert und sie ein reflektiertes Leben zu führen lehrt, desto mehr kultiviert er den "Beziehungswahn", daß die kluge Thea "mit diesem berühmten Open-air-Geruch von Frauenhaut" das absolute weibliche Geschöpf sei. So bleibt ihm nur noch die Flucht an einen Ort größtmöglicher Distanz.
Nordhofen konstruiert dieses Finale als eine Weihnachtsgeschichte eigener Art. Im Museum der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts erläutert Ringler den Mädchen zunächst den christlichen Grundgedanken vom menschgewordenen Gott. Der Prolog des Johannesevangeliums avanciert zum Grundtext für die Lösung aller semiotischen Probleme: Das Wort ward Fleisch, und das Zeichen ist, was es bedeutet. Ringler hat zwar auch Hegel gelesen, weiß also von der Negation der Negation, der Einheit des Differenten und dem absoluten Moment zu schwätzen. Aber lebenspraktisch kann er sich nicht ans andere seiner selbst entäußern und muß seinem ersten pädagogischen Gebot entsprechen, niemals mit einer Schülerin vor deren Abitur zu schlafen.
Intellektuelle sind, so lautet Nordhofens Botschaft, eben Geistmenschen oder höhere Lebewesen reiner Reflexion, weshalb sie physisch, sexuell unbefriedigt bleiben. Dies macht freilich selbst kritische Geister unglücklich, die anderen von jenem Gott künden, den man nicht besitzen oder in ein Objekt der Verfügung durch endliche Subjekte verwandeln kann. In seiner tiefen Zerrissenheit flieht der Distanznahmespezialist Ringler in die Welt des ewigen Eises, wo man, intensiver noch als auf Yves Kleins monochromen Bildern, das absolute Blau sehen kann.
Der Held der intellektuellen Verrückungen und Wortorgasmen setzt sich von der planierten Piste ab, wo nur kleinbürgerliche Kirchenchristen Ski laufen, und begibt sich wagemutig auf einen Gletscher, wo selbst endliche Geistwesen unendlich allein sein, also den absoluten Moment erleben können. Natürlich stürzt Ringler bald in eine Gletscherspalte und gewinnt so die radikale, unbedingte Distanz, die für den kurzen Rest seines Lebens reicht. Der Erfrierende nimmt von fern noch einen Hubschrauber wahr. Bekanntlich gibt es für Frankfurter aber kein wahres Leben im Falschen, und mit Benjamin wissen alle Bildungsbürger, daß rettende Engel nur Imaginationen sind. Immerhin spürt der Erfrierende ganz tief die Gegenwart jenes unverfügbaren Gottes der jüdisch-christlichen Überlieferung, den er den Mädchen als die manifeste Einheit von absolutem Nichts und ewiger Gegenwart nahezubringen versucht hat. Dieser "Ich bin da"-Gott schenkt selbst in der Eiseskälte kritischer Reflexion sterbenden Referendaren noch metaphysische Wärme. Ob die Mädchen, die inzwischen Ringlers semiotische Weihnachtsrätsel gelöst haben und ihm daraufhin in die rufenden Berge nachreisen, ihren Lehrer noch retten können, läßt Nordhofen offen.
Leser anstrengender Romane können sich nicht an Orte absoluter Distanz retten. Ihnen bleibt nach ermüdender Lektüre nur die Erfahrung relativer Ratlosigkeit. Zwar vermitteln Ringlers Lehrgespräche in manchen gelungenen Formulierungen zentrale Einsichten der jüdischen wie christlichen Theologie. Aber man muß schon ein reflektierter theologischer Adornit sein, um mit der altklugen Thea all die Anspielungen und Maskeraden verstehen zu können. Gewiß haben theologische Bildungsprozesse viel mit intellektueller Erotik zu tun. Doch irgendwann will der Geist sich ans andere seiner selbst entäußern und nach der Hingabe an den reinen Gedanken auch die höhere Synthesis mit dem Fleische erleben.
Nordhofen, ein Bildungsbeauftragter der Deutschen katholischen Bischofskonferenz, denkt in Gestalt seines Ringlers aber furchtbar protestantisch. Asketen, die das Unglück absoluter Vereinsamung wählen, sollen Gott nahkommen können, wohingegen Sinnesmenschen mit Fleischeslust an die Grenzen der Endlichkeit gebunden bleiben. Die Mädchen hätten ihren Referendar besser mit Kierkegaard konfrontiert: Nach Zweifel und Reflexion muß man den riskanten Sprung wagen, um den absoluten, erfüllten Moment zu erhaschen. Der inkarnationsunfähige Ringler will hingegen bei sich selbst bleiben und erstarrt im ewigen Eise. Dies kann nur langweilen. Vielleicht wird Ringler einmal als der Ötzi des Frankfurter Kulturkatholizismus ausgestellt werden.
Eckhard Nordhofen: "Die Mädchen, der Lehrer und der liebe Gott". Roman. Reclam Verlag, Stuttgart 1998. 225 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eckhard Nordhofen lehrt Religion und läßt die Lust im Eis büßen · Von Friedrich Wilhelm Graf
Einst verfaßten Philosophen gelehrte Studien über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Neuerdings schreiben sie Bildungsromane. Seit Umberto Ecos "Der Name der Rose" ist es Mode, an alten religiösen Stoffen die Probleme der modernen Semiotik darzustellen. Auch als Romancier will der Philosoph aufklären. Er belehrt das Publikum über die Vieldeutigkeit der Zeichen und die Frage, ob ein Zeichen das Bezeichnete zu repräsentieren vermag.
Der Frankfurter Philosoph und Religionspädagoge Eckhard Nordhofen inszeniert in seinem ersten Roman einen religiösen Bildungsprozeß. Mit hessischem Lokalkolorit beschreibt der Autor eine aus alten Bildungsromanen bekannte pädagogische Konstellation. Ein begnadeter Lehrer verliebt sich in seine beste Schülerin. Nordhofens Helden tragen sprechende Namen. Der juvenile Studienreferendar Ringler, der in Frankfurt Katholische Religionslehre, Philosophie und Französisch unterrichtet, die Schüler duzt und kein "Beamter auf Lebenszeit" werden mag, will seinen Schülerinnen den Sinn von Lessings Ringparabel nahebringen.
Mit der klugen Thea, die zusammen mit ihrer magersüchtigen Freundin Silke gern über das Nichts nachdenkt, beginnt er einen riskanten intellektuellen Flirt. Unter dem gestirnten Himmel der Provence erfährt Thea sich als eins mit dem Universum. Erstmals fühlt sie sich aller Endlichkeit enthoben und absolut geborgen. Als Zeichen dieser neuen Gewißheit meint sie einen Ring empfangen zu haben. Ringler ersteht beim Trödler daraufhin einen Ring, den er Thea, der von Gott Gegebenen, später schenkt. Ihre bohrenden Fragen, ob er an Gott glaube, bieten ihm die Gelegenheit, Thea über das Bilderverbot der hebräischen Bibel, Anselm von Canterburys ontologischen Gottesbeweis und Kants Unterscheidung von Glauben und Wissen zu belehren.
Einen Gott, der sich objektivieren läßt, gibt es nicht, lernen die Mädchen, und Ringlers Ring-Parabel zeigt ihnen anschaulich, daß es allein der subjektive Glaube ist, der die Wahrheit eines Zeichens verbürgt. Deshalb müssen sie ihre "goldenen Kälber" und selbstgemachten Götzen, die projizierten Objekte illusionärer Bedürfnisse der Menschen, töten. Silke schlachtet ihr Maskottchen Pogo und kann, gestärkt durch Zen-Übungen, beim Italiener endlich wieder Pizzen verdauen. Nun sucht Ringler den Mädchen die Wege zu einem Zeichen zu weisen, das dem Absoluten adäquat ist, also das "Zeichending" transzendiert.
Die skeptische Thea ahnt, daß auch ein vermeintlich nichtproduzierter Gott vom denkenden Menschen gemacht, als nichtkonstruiert konstruiert wird. Sie fühlt sich von Ringler intellektuell mißbraucht und will sich für seine "metaphysische Unzucht" rächen, indem sie ihn mit einem Duplikat des Ringes, dem falschen Zeichen vermeintlicher Gewißheit, betrügt. Doch mit dem Mann Moses erkennt sie bald, daß man alle Gegenständlichkeit vernichten muß, um sich der befreienden Grunderfahrung des radikalen Nichts auszusetzen und reine Gegenwärtigkeit zu genießen. So wirft sie ihren Ring schließlich in den Main und kommt sich bei einem Regenspaziergang wahnsinnig befreit vor.
Ringler ist ein gebildeter Religionspädagoge. Er kennt sich in der Heiligen Schrift aus, kann subtil die römisch-katholische Sakramentenlehre erläutern und hat neben den Frankfurter Lokalhelden kritischer Theorie auch Heidegger und Pierce gelesen. Mit täglichen "Abstandsübungen" trainiert er seine Fähigkeit, sich die Menschen auf Distanz zu halten. Durch sogenannte "Zeitschnitte" stellt er sie sich als älter vor, oder er verfremdet sie, indem er ihnen ein anderes Geschlecht gibt. Souverän beherrscht er die wichtigste Kunst der Distanznahme, die Ironie. Doch "sein Abstandstraining führte manchmal in eine Zone eisiger Kälte. Er mußte aufpassen, daß er nicht abstürzte, daß er nicht eines Tages in einem lichtlosen Loch landete, weitab von jeder Menschenseele."
Zu seiner römisch-katholischen Amtskirche hat Ringler ein gebrochenes Verhältnis. Er mag die älteste Institution der Welt, gerade weil sie "so extrem miserabel gemanagt" und von kleinbürgerlichen Pfaffen beherrscht wird. Aber die intellektuelle Arroganz, mit der er sich von der Masse der vielen Angepaßten abzusetzen sucht, läßt ihn einsam werden. Der seichte Moraljargon der in Hessen herrschenden Religionspädagogik widert ihn an, und einen Unterricht, in dem christliche Tradition zu einer ideologischen Drohbotschaft oder zu gutgemeinten, also furchtbaren Umerziehungsprogrammen pervertiert wird, kann er nur mit einem ethnologischen Blick als Veranstaltung eines fremden Stammes sehen.
Gleichwohl liefert er seinem Seminarlehrer, einem "publik forum" lesenden Linkskatholiken, eine Unterrichtseinheit über "Weihnachten in der Konsumgesellschaft", in der, satirisch brillant, alle Stereotypen verlogener religiöser Kommerzialismuskritik und Drittweltsympathie zu Lernzielen erklärt werden. In den verbalerotischen Gedankenspielen mit Thea erfährt er allerdings die Grenzen der Fähigkeit, drinnen und draußen zugleich zu sein, als Intellektueller mit dem magischen Volksglauben und dem kleinbürgerlichen Kirchenmilieu gebrochen zu haben und bei skeptischen Schülerinnen zugleich für die Vernunft der Religion zu werben.
Silke kann er sich trotz ihres tizianroten Haares noch auf Distanz halten, indem er ihr die Lüge auftischt, ein Jesuitenpater zu sein, der sich zu zölibatärer Keuschheit verpflichtet habe. In der Beziehung zu Thea aber verstrickt er sich in Schuldgefühlen und diffusem erotischem Begehren. Je mehr er sich als allwissender Religionsexperte darzustellen versucht, der seinen Mädchen unverständliche religiöse Zeichen entziffert und sie ein reflektiertes Leben zu führen lehrt, desto mehr kultiviert er den "Beziehungswahn", daß die kluge Thea "mit diesem berühmten Open-air-Geruch von Frauenhaut" das absolute weibliche Geschöpf sei. So bleibt ihm nur noch die Flucht an einen Ort größtmöglicher Distanz.
Nordhofen konstruiert dieses Finale als eine Weihnachtsgeschichte eigener Art. Im Museum der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts erläutert Ringler den Mädchen zunächst den christlichen Grundgedanken vom menschgewordenen Gott. Der Prolog des Johannesevangeliums avanciert zum Grundtext für die Lösung aller semiotischen Probleme: Das Wort ward Fleisch, und das Zeichen ist, was es bedeutet. Ringler hat zwar auch Hegel gelesen, weiß also von der Negation der Negation, der Einheit des Differenten und dem absoluten Moment zu schwätzen. Aber lebenspraktisch kann er sich nicht ans andere seiner selbst entäußern und muß seinem ersten pädagogischen Gebot entsprechen, niemals mit einer Schülerin vor deren Abitur zu schlafen.
Intellektuelle sind, so lautet Nordhofens Botschaft, eben Geistmenschen oder höhere Lebewesen reiner Reflexion, weshalb sie physisch, sexuell unbefriedigt bleiben. Dies macht freilich selbst kritische Geister unglücklich, die anderen von jenem Gott künden, den man nicht besitzen oder in ein Objekt der Verfügung durch endliche Subjekte verwandeln kann. In seiner tiefen Zerrissenheit flieht der Distanznahmespezialist Ringler in die Welt des ewigen Eises, wo man, intensiver noch als auf Yves Kleins monochromen Bildern, das absolute Blau sehen kann.
Der Held der intellektuellen Verrückungen und Wortorgasmen setzt sich von der planierten Piste ab, wo nur kleinbürgerliche Kirchenchristen Ski laufen, und begibt sich wagemutig auf einen Gletscher, wo selbst endliche Geistwesen unendlich allein sein, also den absoluten Moment erleben können. Natürlich stürzt Ringler bald in eine Gletscherspalte und gewinnt so die radikale, unbedingte Distanz, die für den kurzen Rest seines Lebens reicht. Der Erfrierende nimmt von fern noch einen Hubschrauber wahr. Bekanntlich gibt es für Frankfurter aber kein wahres Leben im Falschen, und mit Benjamin wissen alle Bildungsbürger, daß rettende Engel nur Imaginationen sind. Immerhin spürt der Erfrierende ganz tief die Gegenwart jenes unverfügbaren Gottes der jüdisch-christlichen Überlieferung, den er den Mädchen als die manifeste Einheit von absolutem Nichts und ewiger Gegenwart nahezubringen versucht hat. Dieser "Ich bin da"-Gott schenkt selbst in der Eiseskälte kritischer Reflexion sterbenden Referendaren noch metaphysische Wärme. Ob die Mädchen, die inzwischen Ringlers semiotische Weihnachtsrätsel gelöst haben und ihm daraufhin in die rufenden Berge nachreisen, ihren Lehrer noch retten können, läßt Nordhofen offen.
Leser anstrengender Romane können sich nicht an Orte absoluter Distanz retten. Ihnen bleibt nach ermüdender Lektüre nur die Erfahrung relativer Ratlosigkeit. Zwar vermitteln Ringlers Lehrgespräche in manchen gelungenen Formulierungen zentrale Einsichten der jüdischen wie christlichen Theologie. Aber man muß schon ein reflektierter theologischer Adornit sein, um mit der altklugen Thea all die Anspielungen und Maskeraden verstehen zu können. Gewiß haben theologische Bildungsprozesse viel mit intellektueller Erotik zu tun. Doch irgendwann will der Geist sich ans andere seiner selbst entäußern und nach der Hingabe an den reinen Gedanken auch die höhere Synthesis mit dem Fleische erleben.
Nordhofen, ein Bildungsbeauftragter der Deutschen katholischen Bischofskonferenz, denkt in Gestalt seines Ringlers aber furchtbar protestantisch. Asketen, die das Unglück absoluter Vereinsamung wählen, sollen Gott nahkommen können, wohingegen Sinnesmenschen mit Fleischeslust an die Grenzen der Endlichkeit gebunden bleiben. Die Mädchen hätten ihren Referendar besser mit Kierkegaard konfrontiert: Nach Zweifel und Reflexion muß man den riskanten Sprung wagen, um den absoluten, erfüllten Moment zu erhaschen. Der inkarnationsunfähige Ringler will hingegen bei sich selbst bleiben und erstarrt im ewigen Eise. Dies kann nur langweilen. Vielleicht wird Ringler einmal als der Ötzi des Frankfurter Kulturkatholizismus ausgestellt werden.
Eckhard Nordhofen: "Die Mädchen, der Lehrer und der liebe Gott". Roman. Reclam Verlag, Stuttgart 1998. 225 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main