Peter Rühmkorfs Märchen gehören zu den ambitioniertesten Experimenten mit dieser Gattung in der Moderne. Dennoch sind sie gegenüber dem lyrischen und essayistischen _uvre lange als spielerisches Nebenwerk vernachlässigt und unterschätzt worden. Der vierte Band der Werkausgabe bietet nun Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen. Neben dem kleinen Märchenroman "Auf Wiedersehen in Kenilworth" und den dreizehn Erzählungen des Zyklus "Der Hüter des Misthaufens" werden hier erstmals auch Rühmkorfs unvollendete Entwürfe, seine Notizen, "Ahamomente und Sternschnuppeneinfälle" in einer kommentierten Edition präsentiert. Hier lässt sich der romantisch-ironische Zauber dieser "aufgeklärten Märchen" in all seinen Facetten erleben - ein Vergnügen für Leser und eine literarische Entdeckungsreise nicht nur für Rühmkorf-Fans.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2007Als Blaubart noch erblaute
Peter Rühmkorfs Märchen aus poesiefeindlicher Zeit
Der vierte Band der Werkausgabe, die der Rowohlt-Verlag Peter Rühmkorf seit dessen siebzigstem Geburtstag vor acht Jahren angedeihen lässt, enthält Märchen - das längere Katzenmärchen "Auf Wiedersehen in Kenilworth" von 1980 und die dreizehn "Aufgeklärten Märchen" unter dem Titel "Der Hüter des Misthaufens" von 1983. Dazu kommen gut einhundert Seiten Märchen-Notizen und -Aphorismen, Bruchteile aus Rühmkorfs Märchen-Werkstatt, die man sich offenbar äußerst weitläufig zu denken hat. Aus Kenntnis des Rühmkorfschen Archivs wie des "Vorlasses", der sich bereits in Marbach befindet, berichten die Herausgeber, dass für jedes der nicht eben langen Märchen-Stücke weit mehr als hundert Druckseiten zur Entstehungsgeschichte parat wären (zum Glück ersparen sie uns einen Gesamtabdruck, wie man sie überhaupt für ihre wohltuend zurückhaltende Begleitung des Bandes loben muss). Zumindest für ein kurze Zeit wurden Märchen zur Passion des Polit- und Protest-Lyrikers - Rühmkorf ließ sich als poet in residence im wundersamen "Es war einmal . . ." nieder.
Warum Märchen? Der Misserfolg seiner Theaterstücke habe ihn zur Gattung Märchen geführt, erklärt der Autor selbst. Auch kam dem Verleger jede Flucht aus der Lyrik in die Prosa gelegen; dass sein Autor (wie alle genuinen Lyriker) keine Romane mochte, musste er hinnehmen. Doch Marktstrategie erklärt nicht alles. Die Gattung Märchen, hoffnungslos romantisch, aber nicht ganz aufklärungsresistent, sollte zur Vertretung, ja zum Asyl der Poesie werden, die es seinerzeit nicht leichthatte.
Die Nöte der Poesie in politiksüchtiger Zeit hat Rühmkorf am eigenen Leibe zu spüren bekommen; ein bisschen Zauberlehrling war er dabei auch. Am heftigsten gebärdeten sich die Genossen Literaturstudenten. Rühmkorf selbst hatte unter dem Studium der Germanistik gelitten und zurückgeschlagen. Jetzt aber begegneten ihm Inquisitoren mit dem puren Willen zur Vernichtung. "Poet am Marterpfahl" nannte er seine Abrechnung mit den "Damen und Herren Studierenden der Literaturwissenschaft". Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Von universitären "Freisleriana" ist die Rede (was man sehr anstößig fand) und vom "Säbelbereich der neu Korporierten", von der "neuen Generation von Arschpaukern der Poesie und Rohrstockpädagogen der sozialen Revolution", die, von Vollversammlung zu Vollversammlung schlurfend, den Gedanken an "Verbrennungswissenschaften", "Müllvertilgungskunde" und einen "mittleren Säuberungsdienst" nahelegen. Wie zum Trotz kehrt Rühmkorf gegen die politische Poesievernichtung das Inkommensurable der Poesie hervor - das Gedicht sei "astral konstruiert", eine idealische Ganzheit von eigener Wirklichkeit und, anstößiger und romantischer geht es nicht, durchaus magisch.
Nicht von ungefähr liebt Rühmkorf das aparte Motiv der Levitation, der anmutig-zauberischen Aufhebung der Schwerkraft - so "dass der Zauber der Levitation bald auf die Zuschauer übergriff und mancher Anwesende sich selbst auf unsichtbaren Luftkissen emporgetragen wähnte". So stellt er sich Poesie vor, der Poet ist dann "Hochspannungsartist oder Levitationstechniker". Märchen, versteht sich, eignen sich für Levitationsübungen besonders gut. Allerdings darf das "nicht wie Gewichtheben aussehen", postuliert Rühmkorf. Leicht gesagt, aber die Gewichte der Welt, der Politik, der Gesellschaft lösen sich ja keineswegs in nichts auf.
Wohin mit der drückenden Wucht der Wirklichkeit? Die Problemklemme eines Poeten, der die Flucht ins politisch Anstößige nicht will, der magisch sein und doch politisch bleiben möchte, treibt Rühmkorf, den "roten Romantiker", um. Wie schön, wenn "das Linksgute und das Kunstschöne" doch ohne weiteres zusammenfänden. Doch das, so fürchtet Rühmkorf, ist "unser aller lebenslange Lieblingsillusion". Bleibt für die linke Kunst Zerrissenheit, wie Heine sie vormachte, oder "Schizographie", wie Rühmkorf befindet.
Nur scheinbar sind Märchen diesem Zwiespalt enthoben. Nicht nur haben sie mit ihrer Überständigkeit zu kämpfen, also damit, dass bereits alles "ausgeträumt und leergewunschen" ist. Schlimmer noch sind die Brocken der Realität, die nicht abgeschüttelt, sondern irgendwie in Levitation versetzt werden sollen. Die Bauform, die unter diesen Umständen entsteht, ist die Allegorie. Rühmkorfs "aufgeklärte Märchen" sind durchweg allegorische Märchen, die denkend erzählen möchten. Die allegorische Bevormundung sorgt nun allerdings dafür, dass das Erzählen seine eigenen Freiheiten kaum entwickeln kann. Diesen Märchen sieht man die Kopfgeburt an.
Kommt hinzu, dass der Lyriker Rühmkorf seine Vorliebe für den zugespitzten Einfall nicht verbergen kann. Nicht der freie und doch konsequente Erzählfluss, sondern der Einfall regiert, von der witzigen Formulierung - der Blaubart "erblaute sogleich bis in die äußersten Nackenborsten", "und schließlich hing ihre Ehe nur noch an zwei blankgeputzten Ringen" - bis hin zu Strukturplänen und allegorischen Erfindungen. So beruht das Katzenmärchen auf dem Kalkül einer doppelten und gegenläufigen Metamorphose, die am Ende nicht mit der erwarteten "Entwandlung" zurückgenommen wird.
Durchweg dienen Märchenländer ("Papyrien") und tumbe Märchenhelden ("Hans Dummann") der mehr oder weniger diskreten Abhandlung politisch-sozialer Probleme. Das Katzenmärchen gerät in ein Tierlabor. "Zu Golde" hat es, mit Anklängen an Chamisso, mit dem Kapitalismus zu tun. "Der Agent und die Elfen" umspielt den Nato-Doppelbeschluss und zeigt den Sieg der Elfen über eine Raketenbasis (der Agent heißt übrigens Noel Opan, also Napoleon rückwärts). "Dintemann und Schindemann" handelt von Kunst und Leben, "Vom Stiefel" bietet Variationen über die (totalitäre) Gewalt. Das offene Ende gehört dazu; manchmal wird es à la E. T. A. Hoffmann mit Alkohol angereichert, manchmal mündet es in eine kuschelige Utopie, stets soll der Leser zusehen, dass er seine Lektion lernt. "Die Menschen das Wünschen lehren" heißt die freundliche Quintessenz von Rühmkorfs Märchenpoetik.
Gleichwohl, bei allen guten Vorsätzen, bleibt dieser Märchenband, der der Poesie verlorenes Terrain zurückerobern will, das Dokument einer Anstrengung, der die Spuren einer poesiefeindlichen Zeit immer noch anzumerken sind.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Peter Rühmkorf: "Die Märchen". Werke 4. Herausgegeben von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. 447 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Rühmkorfs Märchen aus poesiefeindlicher Zeit
Der vierte Band der Werkausgabe, die der Rowohlt-Verlag Peter Rühmkorf seit dessen siebzigstem Geburtstag vor acht Jahren angedeihen lässt, enthält Märchen - das längere Katzenmärchen "Auf Wiedersehen in Kenilworth" von 1980 und die dreizehn "Aufgeklärten Märchen" unter dem Titel "Der Hüter des Misthaufens" von 1983. Dazu kommen gut einhundert Seiten Märchen-Notizen und -Aphorismen, Bruchteile aus Rühmkorfs Märchen-Werkstatt, die man sich offenbar äußerst weitläufig zu denken hat. Aus Kenntnis des Rühmkorfschen Archivs wie des "Vorlasses", der sich bereits in Marbach befindet, berichten die Herausgeber, dass für jedes der nicht eben langen Märchen-Stücke weit mehr als hundert Druckseiten zur Entstehungsgeschichte parat wären (zum Glück ersparen sie uns einen Gesamtabdruck, wie man sie überhaupt für ihre wohltuend zurückhaltende Begleitung des Bandes loben muss). Zumindest für ein kurze Zeit wurden Märchen zur Passion des Polit- und Protest-Lyrikers - Rühmkorf ließ sich als poet in residence im wundersamen "Es war einmal . . ." nieder.
Warum Märchen? Der Misserfolg seiner Theaterstücke habe ihn zur Gattung Märchen geführt, erklärt der Autor selbst. Auch kam dem Verleger jede Flucht aus der Lyrik in die Prosa gelegen; dass sein Autor (wie alle genuinen Lyriker) keine Romane mochte, musste er hinnehmen. Doch Marktstrategie erklärt nicht alles. Die Gattung Märchen, hoffnungslos romantisch, aber nicht ganz aufklärungsresistent, sollte zur Vertretung, ja zum Asyl der Poesie werden, die es seinerzeit nicht leichthatte.
Die Nöte der Poesie in politiksüchtiger Zeit hat Rühmkorf am eigenen Leibe zu spüren bekommen; ein bisschen Zauberlehrling war er dabei auch. Am heftigsten gebärdeten sich die Genossen Literaturstudenten. Rühmkorf selbst hatte unter dem Studium der Germanistik gelitten und zurückgeschlagen. Jetzt aber begegneten ihm Inquisitoren mit dem puren Willen zur Vernichtung. "Poet am Marterpfahl" nannte er seine Abrechnung mit den "Damen und Herren Studierenden der Literaturwissenschaft". Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Von universitären "Freisleriana" ist die Rede (was man sehr anstößig fand) und vom "Säbelbereich der neu Korporierten", von der "neuen Generation von Arschpaukern der Poesie und Rohrstockpädagogen der sozialen Revolution", die, von Vollversammlung zu Vollversammlung schlurfend, den Gedanken an "Verbrennungswissenschaften", "Müllvertilgungskunde" und einen "mittleren Säuberungsdienst" nahelegen. Wie zum Trotz kehrt Rühmkorf gegen die politische Poesievernichtung das Inkommensurable der Poesie hervor - das Gedicht sei "astral konstruiert", eine idealische Ganzheit von eigener Wirklichkeit und, anstößiger und romantischer geht es nicht, durchaus magisch.
Nicht von ungefähr liebt Rühmkorf das aparte Motiv der Levitation, der anmutig-zauberischen Aufhebung der Schwerkraft - so "dass der Zauber der Levitation bald auf die Zuschauer übergriff und mancher Anwesende sich selbst auf unsichtbaren Luftkissen emporgetragen wähnte". So stellt er sich Poesie vor, der Poet ist dann "Hochspannungsartist oder Levitationstechniker". Märchen, versteht sich, eignen sich für Levitationsübungen besonders gut. Allerdings darf das "nicht wie Gewichtheben aussehen", postuliert Rühmkorf. Leicht gesagt, aber die Gewichte der Welt, der Politik, der Gesellschaft lösen sich ja keineswegs in nichts auf.
Wohin mit der drückenden Wucht der Wirklichkeit? Die Problemklemme eines Poeten, der die Flucht ins politisch Anstößige nicht will, der magisch sein und doch politisch bleiben möchte, treibt Rühmkorf, den "roten Romantiker", um. Wie schön, wenn "das Linksgute und das Kunstschöne" doch ohne weiteres zusammenfänden. Doch das, so fürchtet Rühmkorf, ist "unser aller lebenslange Lieblingsillusion". Bleibt für die linke Kunst Zerrissenheit, wie Heine sie vormachte, oder "Schizographie", wie Rühmkorf befindet.
Nur scheinbar sind Märchen diesem Zwiespalt enthoben. Nicht nur haben sie mit ihrer Überständigkeit zu kämpfen, also damit, dass bereits alles "ausgeträumt und leergewunschen" ist. Schlimmer noch sind die Brocken der Realität, die nicht abgeschüttelt, sondern irgendwie in Levitation versetzt werden sollen. Die Bauform, die unter diesen Umständen entsteht, ist die Allegorie. Rühmkorfs "aufgeklärte Märchen" sind durchweg allegorische Märchen, die denkend erzählen möchten. Die allegorische Bevormundung sorgt nun allerdings dafür, dass das Erzählen seine eigenen Freiheiten kaum entwickeln kann. Diesen Märchen sieht man die Kopfgeburt an.
Kommt hinzu, dass der Lyriker Rühmkorf seine Vorliebe für den zugespitzten Einfall nicht verbergen kann. Nicht der freie und doch konsequente Erzählfluss, sondern der Einfall regiert, von der witzigen Formulierung - der Blaubart "erblaute sogleich bis in die äußersten Nackenborsten", "und schließlich hing ihre Ehe nur noch an zwei blankgeputzten Ringen" - bis hin zu Strukturplänen und allegorischen Erfindungen. So beruht das Katzenmärchen auf dem Kalkül einer doppelten und gegenläufigen Metamorphose, die am Ende nicht mit der erwarteten "Entwandlung" zurückgenommen wird.
Durchweg dienen Märchenländer ("Papyrien") und tumbe Märchenhelden ("Hans Dummann") der mehr oder weniger diskreten Abhandlung politisch-sozialer Probleme. Das Katzenmärchen gerät in ein Tierlabor. "Zu Golde" hat es, mit Anklängen an Chamisso, mit dem Kapitalismus zu tun. "Der Agent und die Elfen" umspielt den Nato-Doppelbeschluss und zeigt den Sieg der Elfen über eine Raketenbasis (der Agent heißt übrigens Noel Opan, also Napoleon rückwärts). "Dintemann und Schindemann" handelt von Kunst und Leben, "Vom Stiefel" bietet Variationen über die (totalitäre) Gewalt. Das offene Ende gehört dazu; manchmal wird es à la E. T. A. Hoffmann mit Alkohol angereichert, manchmal mündet es in eine kuschelige Utopie, stets soll der Leser zusehen, dass er seine Lektion lernt. "Die Menschen das Wünschen lehren" heißt die freundliche Quintessenz von Rühmkorfs Märchenpoetik.
Gleichwohl, bei allen guten Vorsätzen, bleibt dieser Märchenband, der der Poesie verlorenes Terrain zurückerobern will, das Dokument einer Anstrengung, der die Spuren einer poesiefeindlichen Zeit immer noch anzumerken sind.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Peter Rühmkorf: "Die Märchen". Werke 4. Herausgegeben von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. 447 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Angesichts des vierten Bandes der Werkausgabe von Peter Rühmkorf, der neben dem kurzen Roman "Auf Wiedersehen in Kenilworth" und dem Märchenzyklus "Der Hüter des Misthaufens" noch 90 bisher unveröffentlichte märchenhafte Texte enthält, kehrt Erika Deiss gedanklich zu ihrem Kritikerinnen-Anfang zurück. Ihre erste Kritik schrieb sie nämlich für einen Radiosender über Rühmkorfs Märchen und schickte sie, da sie ungesendet blieben, gleich an den Verfasser der Märchen selber. Auch beim Wiederlesen ist sie von der virtuosen Sprache, dem Reflexionsniveau und der Wirklichkeitsnähe dieser Märchen hingerissen und für sie zählen sie längst zu den Märchenklassikern a la Brüder Grimm oder Wilhelm Hauff. Deiss hat ihre helle Freude am aufklärerischen Erzählgestus, an der überwältigenden Komik und der sprachartistischen Brillanz dieser Texte und sieht sie meilenweit über die, wie sie meint, mittelmäßigen, derzeit so beliebten Fantasy-Geschichten herausragen. Dass der Band zudem mit einem profunden Kommentar und einem sehr genauen Anmerkungsapparat ausgestattet ist, kann den Enthusiasmus der beglückten Rezensentin noch steigern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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