Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte, war er praktisch unbekannt. Doch innerhalb weniger Jahre verbreiteten sich seine Ideen in ganz Europa und erschütterten den Kontinent in seinen Grundfesten. Luther wurde berühmt, ja berüchtigt. Wie hatte er das geschafft?
Der wichtigste Reformator der Kirchengeschichte war nicht nur ein herausragender Theologe, sondern auch ein genialer Stratege, der ganz genau wusste, dass es nicht allein Argumente sind, die im Kampf der Ideen den Ausschlag geben. Mit sicherem Gespür für das, was wir heute Imagepflege und Marketing nennen, machte er sich die neue Technik des Buchdrucks zunutze, baute Netzwerke auf und schuf gemeinsam mit Lucas Cranach für sich und seine Lehre eine eigene Markenidentität.
Andrew Pettegree zeichnet nach, wie es Luther gelang, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren - als Kritiker der katholischen Kirche, als Vorkämpfer für Frauenrechte, als Demagoge, der auch gegen Juden wetterte. Er schildert den nachhaltigen Einfluss, den die Reformation auf das Buchgewerbe hatte, und umgekehrt. Vor allem aber erzählt er eine der wohl spannendsten Geschichten der Neuzeit: wie ein einfacher Mönch zum ersten Star des Medienzeitalters aufstieg.
Der wichtigste Reformator der Kirchengeschichte war nicht nur ein herausragender Theologe, sondern auch ein genialer Stratege, der ganz genau wusste, dass es nicht allein Argumente sind, die im Kampf der Ideen den Ausschlag geben. Mit sicherem Gespür für das, was wir heute Imagepflege und Marketing nennen, machte er sich die neue Technik des Buchdrucks zunutze, baute Netzwerke auf und schuf gemeinsam mit Lucas Cranach für sich und seine Lehre eine eigene Markenidentität.
Andrew Pettegree zeichnet nach, wie es Luther gelang, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren - als Kritiker der katholischen Kirche, als Vorkämpfer für Frauenrechte, als Demagoge, der auch gegen Juden wetterte. Er schildert den nachhaltigen Einfluss, den die Reformation auf das Buchgewerbe hatte, und umgekehrt. Vor allem aber erzählt er eine der wohl spannendsten Geschichten der Neuzeit: wie ein einfacher Mönch zum ersten Star des Medienzeitalters aufstieg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2017Mit Drucken Druck machen
Bestseller aus der Provinz: Andrew Pettegree sucht das Geheimnis der Marke Luther
Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts war Kursachsen ein mittelgroßes Fürstentum, weit entfernt von den großen europäischen Macht- und Wirtschaftszentren. Wittenberg, ein kleiner dreckiger Marktflecken in der sandigen, nur spärlich besiedelten Tiefebene Nordostdeutschlands, hatte bloß zweitausend Einwohner. Patrizier und international tätige Kaufleute gab es hier nicht, nur Handwerker, kleine Leute, ein paar Professoren, Studenten und Beamte am Hof Friedrichs des Weisen. Erst 1502 bekommt Wittenberg eine erste Druckerpresse für die neu gegründete Universität, die Leucorea.
Doch fünfzig Jahre später ist die Kleinstadt am östlichen Rand Europas eines der wichtigsten Zentren des Buchdrucks in Deutschland. Dieser wirtschaftliche Aufschwung verdankt sich entscheidend den Erfolgen Luthers am neu entstehenden Markt für deutschsprachige Druckwerke und Flugschriften. Andrew Pettegree, Gründungsdirektor des Reformation Studies Institute in St Andrews und derzeit Vizepräsident der Royal Historical Society, verknüpft die Geschichte theologischer Ideen und frommer Emotionen mit der Wirtschaftsgeschichte der deutschen Buchbranche, um das "Paradox" zu erklären, das für die schnelle Ausbreitung der reformatorischen Kirchenkritik entscheidend war: "Martin Luther als Reformator hervorzubringen" sei vor allem dem Buchdruck zuzuschreiben.
Zugleich sei Luther aber auch "eine entscheidende Kraft für die deutsche Buchbranche des 16. Jahrhunderts" gewesen. Mit seiner Anfang März 1518 getroffenen Entscheidung, theologische Grundeinsichten und Reformforderungen nicht nur für lateinisch schreibende Gottesgelehrte und Kleriker, sondern in deutscher Sprache für eine breitere gebildete Öffentlichkeit zu kommunizieren, sei der Wittenberger Professor "nahezu über Nacht" zu einem "Schriftsteller von außerordentlicher Klarheit und Leichtigkeit" geworden, der den deutschen Buchmarkt grundlegend veränderte.
Pettegree, der durch zahlreiche Monographien zur Buchgeschichte in Renaissance und Reformationszeit bekannt geworden ist, will erkunden, wie aus einem unbekannten Mönch und Theologieprofessor in der nordostdeutschen Provinz innerhalb von nur fünf Jahren der berühmteste Mann Deutschlands und ein europaweit bekannter Medienstar werden konnte. Ihn interessiert, wie der romkritische Reformator zu einer "Marke" wurde und, so der Titel des englischen Originals, der "Brand Luther" entstand.
Schon der "Sermon von Ablaß und Gnade", den Luther 1518 bei der technisch rückständigen Wittenberger Druckerei von Johann Rhau-Grunenberg drucken ließ, wurde von den Leuten begeistert gekauft und gelesen. Da es noch kein Urheberrecht gab, konnten Drucker an anderen Orten, vor allem in Augsburg, Basel, Straßburg, Leipzig und Nürnberg, Luthers Schriften nachdrucken. Anders als in Italien und Frankreich war die deutsche Druckbranche nicht an einem einzigen Ort konzentriert, sondern auf mehrere miteinander konkurrierende Zentren verteilt. Dies erleichterte schnelle Nachdrucke, die den Druckern erhöhte Gewinnchancen boten.
Zum "Luther-Effekt" trug bei, dass seine Flugschriften oft nur einen Umfang von acht oder weniger Seiten hatten. Sie sind kurz und bündig, thetisch und polemisch und stellen so einen ganz neuen Typus theologischer Literatur dar. Pettegree spricht von einer "Revolution im theologischen Schrifttum". Wegen der starken Nachfrage waren diese Quart-Drucke zumeist in wenigen Tagen oder Wochen ausverkauft. "So erzielten Drucker mit einer minimalen Investition umgehend Renditen. Luther war für sie eine sichere Einnahmequelle." Schon zwischen 1517 und 1520 verdoppelte sich die Zahl der in Deutschland veröffentlichten Titel, und 1523 wurden in Deutschland dreimal so viele Bücher gedruckt und verkauft wie in Italien und Frankreich zusammen. Luther hatte daran entscheidenden Anteil.
Zwischen 1517 und 1522 wurde er "Europas meistveröffentlichter Autor - aller Zeiten". Auch in Wittenberg selbst förderte er den Aufschwung der Branche. 1513 produzierte die einzige Druckerpresse der kleinsten Stadt, in der Luther je gelebt hat, gerade einmal zehn ausnahmslos lateinische Werke. Dreißig Jahre später brachten die nun sechs Druckereien dreiundachtzig Bücher auf den Markt, davon die Hälfte in deutscher Sprache. Von den 2721 Werken, die zwischen 1517 und 1546, seinem Todesjahr, in Deutschland erschienen, stammten jedes dritte von Luther und weitere zwanzig Prozent von seinen Wittenberger Kollegen und Anhängern. Der schottische Historiker schätzt, dass von Luthers Schriften zwischen 1518 und 1530 gut zwei Millionen Exemplare hergestellt und verkauft wurden.
In den biographisch gehaltenen Kapiteln zeigt Pettegree Luthers starkes Interesse an einer qualitätsbewussten ästhetischen Gestaltung seiner Publikationen. Tag für Tag ging der sehr schnell Schreibende in die Druckerei, um Anweisungen zum Prozess der Drucklegung zu geben. Unzufrieden mit dem überforderten Rhau-Grunenberg, holte er 1519 einen erfahrenen Drucker aus Leipzig nach Wittenberg, dem bald weitere Drucker folgten. Zugleich achtete er sorgfältig darauf, seine Originalschriften auf die wachsende Zahl von Druckereien in Wittenberg zu verteilen, so dass alle profitabel waren.
Im Zusammenspiel mit Lucas Cranach und in enger Kooperation mit seinen Druckern entwickelte Luther durch eine typographisch "neue, markante Aufmachung" eine eigene "Markenidentität" für die aus Wittenberg kommenden Reformationsschriften. Alles andere als ein zerstreuter Professor, nämlich ein "Mann mit ausgeprägten praktischen Fähigkeiten", "verstand und genoss er die handwerklichen Schritte, aus Worten und Ideen ein gedrucktes Kunstwerk zu machen". Die hohe Qualität des Druckwerks sollte ein visuelles Symbol für die Seriosität und Wahrheit seiner Reformbotschaft sein.
Bei allem europaweiten Ruhm - Luther bleibt für Pettegree ein Mann der norddeutschen Provinz und das Luthertum ein primär nur deutsches Phänomen. Calvin und Bullinger etwa waren in ihrer Korrespondenz deutlich stärker grenzüberschreitend, internationaler orientiert als der Wittenberger Impulsgeber der reformatorischen Bewegung. Dennoch: Wer einen Beleg für Max Webers These sucht, dass Ideen nur wirken, wenn sie sich mit Interessen verbinden, findet in "Die Marke Luther" faszinierendes Anschauungsmaterial.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Andrew Pettegree: "Die Marke Luther".
Aus dem Englischen
von Ulrike Bischoff.
Insel Verlag, Berlin 2016. 407 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bestseller aus der Provinz: Andrew Pettegree sucht das Geheimnis der Marke Luther
Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts war Kursachsen ein mittelgroßes Fürstentum, weit entfernt von den großen europäischen Macht- und Wirtschaftszentren. Wittenberg, ein kleiner dreckiger Marktflecken in der sandigen, nur spärlich besiedelten Tiefebene Nordostdeutschlands, hatte bloß zweitausend Einwohner. Patrizier und international tätige Kaufleute gab es hier nicht, nur Handwerker, kleine Leute, ein paar Professoren, Studenten und Beamte am Hof Friedrichs des Weisen. Erst 1502 bekommt Wittenberg eine erste Druckerpresse für die neu gegründete Universität, die Leucorea.
Doch fünfzig Jahre später ist die Kleinstadt am östlichen Rand Europas eines der wichtigsten Zentren des Buchdrucks in Deutschland. Dieser wirtschaftliche Aufschwung verdankt sich entscheidend den Erfolgen Luthers am neu entstehenden Markt für deutschsprachige Druckwerke und Flugschriften. Andrew Pettegree, Gründungsdirektor des Reformation Studies Institute in St Andrews und derzeit Vizepräsident der Royal Historical Society, verknüpft die Geschichte theologischer Ideen und frommer Emotionen mit der Wirtschaftsgeschichte der deutschen Buchbranche, um das "Paradox" zu erklären, das für die schnelle Ausbreitung der reformatorischen Kirchenkritik entscheidend war: "Martin Luther als Reformator hervorzubringen" sei vor allem dem Buchdruck zuzuschreiben.
Zugleich sei Luther aber auch "eine entscheidende Kraft für die deutsche Buchbranche des 16. Jahrhunderts" gewesen. Mit seiner Anfang März 1518 getroffenen Entscheidung, theologische Grundeinsichten und Reformforderungen nicht nur für lateinisch schreibende Gottesgelehrte und Kleriker, sondern in deutscher Sprache für eine breitere gebildete Öffentlichkeit zu kommunizieren, sei der Wittenberger Professor "nahezu über Nacht" zu einem "Schriftsteller von außerordentlicher Klarheit und Leichtigkeit" geworden, der den deutschen Buchmarkt grundlegend veränderte.
Pettegree, der durch zahlreiche Monographien zur Buchgeschichte in Renaissance und Reformationszeit bekannt geworden ist, will erkunden, wie aus einem unbekannten Mönch und Theologieprofessor in der nordostdeutschen Provinz innerhalb von nur fünf Jahren der berühmteste Mann Deutschlands und ein europaweit bekannter Medienstar werden konnte. Ihn interessiert, wie der romkritische Reformator zu einer "Marke" wurde und, so der Titel des englischen Originals, der "Brand Luther" entstand.
Schon der "Sermon von Ablaß und Gnade", den Luther 1518 bei der technisch rückständigen Wittenberger Druckerei von Johann Rhau-Grunenberg drucken ließ, wurde von den Leuten begeistert gekauft und gelesen. Da es noch kein Urheberrecht gab, konnten Drucker an anderen Orten, vor allem in Augsburg, Basel, Straßburg, Leipzig und Nürnberg, Luthers Schriften nachdrucken. Anders als in Italien und Frankreich war die deutsche Druckbranche nicht an einem einzigen Ort konzentriert, sondern auf mehrere miteinander konkurrierende Zentren verteilt. Dies erleichterte schnelle Nachdrucke, die den Druckern erhöhte Gewinnchancen boten.
Zum "Luther-Effekt" trug bei, dass seine Flugschriften oft nur einen Umfang von acht oder weniger Seiten hatten. Sie sind kurz und bündig, thetisch und polemisch und stellen so einen ganz neuen Typus theologischer Literatur dar. Pettegree spricht von einer "Revolution im theologischen Schrifttum". Wegen der starken Nachfrage waren diese Quart-Drucke zumeist in wenigen Tagen oder Wochen ausverkauft. "So erzielten Drucker mit einer minimalen Investition umgehend Renditen. Luther war für sie eine sichere Einnahmequelle." Schon zwischen 1517 und 1520 verdoppelte sich die Zahl der in Deutschland veröffentlichten Titel, und 1523 wurden in Deutschland dreimal so viele Bücher gedruckt und verkauft wie in Italien und Frankreich zusammen. Luther hatte daran entscheidenden Anteil.
Zwischen 1517 und 1522 wurde er "Europas meistveröffentlichter Autor - aller Zeiten". Auch in Wittenberg selbst förderte er den Aufschwung der Branche. 1513 produzierte die einzige Druckerpresse der kleinsten Stadt, in der Luther je gelebt hat, gerade einmal zehn ausnahmslos lateinische Werke. Dreißig Jahre später brachten die nun sechs Druckereien dreiundachtzig Bücher auf den Markt, davon die Hälfte in deutscher Sprache. Von den 2721 Werken, die zwischen 1517 und 1546, seinem Todesjahr, in Deutschland erschienen, stammten jedes dritte von Luther und weitere zwanzig Prozent von seinen Wittenberger Kollegen und Anhängern. Der schottische Historiker schätzt, dass von Luthers Schriften zwischen 1518 und 1530 gut zwei Millionen Exemplare hergestellt und verkauft wurden.
In den biographisch gehaltenen Kapiteln zeigt Pettegree Luthers starkes Interesse an einer qualitätsbewussten ästhetischen Gestaltung seiner Publikationen. Tag für Tag ging der sehr schnell Schreibende in die Druckerei, um Anweisungen zum Prozess der Drucklegung zu geben. Unzufrieden mit dem überforderten Rhau-Grunenberg, holte er 1519 einen erfahrenen Drucker aus Leipzig nach Wittenberg, dem bald weitere Drucker folgten. Zugleich achtete er sorgfältig darauf, seine Originalschriften auf die wachsende Zahl von Druckereien in Wittenberg zu verteilen, so dass alle profitabel waren.
Im Zusammenspiel mit Lucas Cranach und in enger Kooperation mit seinen Druckern entwickelte Luther durch eine typographisch "neue, markante Aufmachung" eine eigene "Markenidentität" für die aus Wittenberg kommenden Reformationsschriften. Alles andere als ein zerstreuter Professor, nämlich ein "Mann mit ausgeprägten praktischen Fähigkeiten", "verstand und genoss er die handwerklichen Schritte, aus Worten und Ideen ein gedrucktes Kunstwerk zu machen". Die hohe Qualität des Druckwerks sollte ein visuelles Symbol für die Seriosität und Wahrheit seiner Reformbotschaft sein.
Bei allem europaweiten Ruhm - Luther bleibt für Pettegree ein Mann der norddeutschen Provinz und das Luthertum ein primär nur deutsches Phänomen. Calvin und Bullinger etwa waren in ihrer Korrespondenz deutlich stärker grenzüberschreitend, internationaler orientiert als der Wittenberger Impulsgeber der reformatorischen Bewegung. Dennoch: Wer einen Beleg für Max Webers These sucht, dass Ideen nur wirken, wenn sie sich mit Interessen verbinden, findet in "Die Marke Luther" faszinierendes Anschauungsmaterial.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Andrew Pettegree: "Die Marke Luther".
Aus dem Englischen
von Ulrike Bischoff.
Insel Verlag, Berlin 2016. 407 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Freunden des Buchdrucks und Buchhandels ... sei Andrew Pettegrees Studie Die Marke Luther empfohlen.« Claudia Keller Der Tagesspiegel 20161116