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Der Erzähler dieses Markus-Evangeliums à la Esterházy macht sich nichts aus Worten. Er lässt seine Familie - Vater, Mutter, Stiefbruder, zwei Großmütter - in dem Glauben, er sei taubstumm. Und doch ist er der Chronist ihrer Geschichte. Als Volksfeinde gebrandmarkt, leben sie nach der Aussiedlung zusammengepfercht in einem einzigen Raum, aber Nähe gibt es nicht in dieser Enge. Alle sind sie einsam, sogar Gott. Der kann noch nicht einmal beten, zu wem sollte er? Eine Familiengeschichte mit allem, was dazugehört, auf jeden Fall Mord und Totschlag. Geschieht dies alles, auf dass die Schrift…mehr

Produktbeschreibung
Der Erzähler dieses Markus-Evangeliums à la Esterházy macht sich nichts aus Worten. Er lässt seine Familie - Vater, Mutter, Stiefbruder, zwei Großmütter - in dem Glauben, er sei taubstumm. Und doch ist er der Chronist ihrer Geschichte. Als Volksfeinde gebrandmarkt, leben sie nach der Aussiedlung zusammengepfercht in einem einzigen Raum, aber Nähe gibt es nicht in dieser Enge. Alle sind sie einsam, sogar Gott. Der kann noch nicht einmal beten, zu wem sollte er? Eine Familiengeschichte mit allem, was dazugehört, auf jeden Fall Mord und Totschlag. Geschieht dies alles, auf dass die Schrift erfüllet werde? Aber welche? Nach diesen hundert Seiten Esterházy-Evangelium ahnen wir: Gott kommt aus Ungarn.
Autorenporträt
Péter Esterházy wurde 1950 in Budapest geboren. Für Harmonia Cælestis (dt. 2001) erhielt er u. a. den Ungarischen Literaturpreis, 2004 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nach Esti (2013) erschien bei Hanser Berlin zuletzt Die Mantel-und-Degen-Version (2015) und Die Markus-Version (2016). Péter Esterházy ist im Juli 2016 in Budapest gestorben.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Selbst wenn dieses Buch äußerlich schmal daherkommt: Einfach zu lesen sei es ganz sicher nicht, schreibt Gisela Trahms. Die Rezensentin erkennt darin Esterházys Liebe zur Anspielung wieder, diesmal vor allem der religiösen, zeigt sich aber zugleich überrascht angesichts der ungewohnten sprachlichen Einfachheit und der kurzen Sätze. Sie erkennt darin einen "Kult der Lücke", der zwar die Lesegeschwindigkeit drossle, die Spannung aber steigere. Gekonnt setze der Autor seine drei Geschichten über Diktaturen und (biblische) Grausamkeiten in Beziehung zueinander, so wird "Die Markus-Version" für Trahms zum "Buch für Gottesgrübler". Der Stil und das Thema des Tagebuchs erinnert sie an "Das große Heft" der Schriftstellerin Ágota Kristóf; die Kritikerin hat Esterházys Buch als Hommage an seine ungarische Landsfrau gelesen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2016

Der Riss im Kruzifix
In Péter Esterházys neuem Buch „Die Markus-Version“ wird Gott zum leibhaftigen
Familienmitglied. Und ein Taubstummer will von ihm wissen, wie viele Sätze er erschaffen hat
VON LOTHAR MÜLLER
Die Familie ist der Rubrik „Volksfeind“ zugeschlagen und aus Budapest in ein nordungarisches Dorf zwangsausgesiedelt worden. Dort lebt sie bei einem Bauern, in einem einzigen großen Zimmer. Wenn sie draußen am Sumpf spielen, finden die Kinder schon mal einen Soldatenhelm. Es ist Nachkriegszeit. Und der Sozialismus ist an der Macht, die Großbauern heißen „Kulaken“, wenn von der Arbeit die Rede ist, taucht das Kürzel LPG auf, und die Frau des Großbauern hat das kostbare Kreuz aus Messing versteckt. „Väterchen Stalin hat Gott geklaut, sagt Onkel Ágoston, denn Stalin ist gestorben und die Einweihung der wiederaufgebauten Kirche ausgefallen.“
  Zur Familie gehört derjenige, dessen Worte das Buch mit schreiben. Wenn er spricht, dann spricht er nur nach innen, die Sprache eines Taubstummen, der jedenfalls von außen so aussieht, als sei er einer. Einmal entfährt ihm ein Wort, aber meist bleibt er stumm, fühlt sich wohl in der Stille. Das Sprechen nach innen nennt er beten, es ist – seit und schon während der Geburt – seine natürliche Sprache.   
  Péter Esterházy, geboren 1950 in Budapest, hat schon in vielen Büchern – am opulentesten in der „Harmonia Caelestis“ (2000) – aus Fragmenten der eigenen Herkunftsgeschichte immer neue Familien erfunden, Väter, die torkeln und Verrat begehen; Söhne, die mit ihren Müttern alt werden wollen, ihnen die Abseitsregel erklären und, wie in den „Hilfsverben des Herzens“ (1985), auf schwarzumrandeten Seiten aufzeichnen, was die Stimme der toten Mutter zu sagen hat.
  Als nie ganz durchschaubare Gestalt gehörte Gott immer schon zur Familienwelt im Esterházy-Kosmos, in ihren Flüchen und Wünschen war er anwesend, und in Sottisen von Onkel Laci, der deshalb Atheist ist, weil er sich nur einem Glauben anschließen könnte, in dem der Schöpfer über seine Schöpfung lacht, als „spottender Gott“. In diesem schmalen neuen Buch von Péter Esterházy wird Gott zum leibhaftigen Familienmitglied. Und zwar im doppelten Sinne.
  Da ist zum einen das strahlende Jesuskind, auf das der taubstumme Erzähler von seinem Bett aus blickt, und ihm gegenüber der leidende Christus, über dessen Brust und Kopf auf dem alten hölzernen Familienkruzifix ein Riss läuft. Und da ist zum anderen das Wort „Gott“. Dieses Wort führt wie das Jesuskind in seinem Strahlenkranz, das im morgendlichen Sonnenlicht rosa anläuft, und die Gestalt am Kruzifix auf die Geschichte zurück, die hier noch einmal erzählt wird: auf das Markus-Evangelium. Und es führt hinein in die Labyrinthe der modernen Literatur, zu Jorge Luis Borges, der dem Erzählen, und zu Ludwig Wittgenstein, der der Sprache einen doppelten Boden gibt.
  Die Großmutter murmelt ständig Gebete vor sich hin. Irgendwann liegt sie, von einem Schlaganfall hingestreckt, im Blumenbeet und ist danach nicht mehr sie selbst. Der Vater trinkt und torkelt. Der Bruder ist stark und schreibt. Die Mutter schüttelt über den Kitsch der Heiligenbildchen der Großmutter den Kopf. Die Nachbarin zeigt dem Taubstummen ihre Brüste. Die andere Großmutter begeht Selbstmord. Der Großbauer wird von dem unglücklichen Polizisten verhaftet. Es sind einfache, knapp umrissene Geschichten, die einfache Geschichte aber, die diesem Buch den Untertitel gibt, die gibt es nicht.
  Eine fortlaufende Erzählung fällt aus. In 1000 Abschnitten, von denen nicht jeder eine Seite umfasst, schreitet das Buch voran. Wie in der schönen Redewendung, in der ein Wort das andere gibt, nimmt oft ein Abschnitt eine Wendung aus dem letzten Satz des vorangehenden auf. Etwa, wenn es um die Großmutter geht, die ihren Sohn verloren hat: „Gottes Rätselhaftigkeit ist nicht wie ein Mantel, den er anzieht und auszieht. Das Rätsel liegt in Gott beschlossen. Auch das ist nicht richtig. Gott ist auch das Rätsel. Beziehungsweise ohne Rätsel ist kein Gott. Wenn sie an diese Stelle kommt, zuckt Großmutters Gesicht immer, ich weiß, sie denkt dann an ihren Sohn, und ich sehe ihre knorrige Hand, wie sie sich zur Faust ballt. Dann wäre ich lieber nicht an Gottes Stelle.“
  Auf Spott, Flüche und Obszönitäten verzichtet diese Markus-Version nicht. Der taubstumme Erzähler, ein Kind unbestimmten Alters, spielt im Blick auf das Jesuskind und den Christus am Kruzifix mit dem Wort Gottes, mit den Wörtern und Sätzen überhaupt: „Wie viele Sätze gibt es wohl insgesamt auf der Welt?, das würde ich gern jemanden fragen. Gott eingeschlossen. Wie viele Sätze haben Sie geschaffen?“ Es ist ein unbefangenes, unerschrockenes Spiel.
  Die aus dem Markus-Evangelium kopierten Passagen entstammen vor allem der Leidensgeschichte. Denn die Welt dieses Buches besteht nicht nur aus Nachkriegszeit und Sozialismus. Sie ist auch eine Welt nach dem Holocaust. Das Echo der Tagebücher von Imre Kertész – und der Schriften von Simone Weil – ist im Text dieser Markus-Version hörbar. Ihr Kern ist die Unruhe, die in einem Satz des Philosophen Schelling durch das schmale Buch geistert: „Damit also das Böse nicht wäre, müsste Gott selbst nicht sein.“ Es bleibt in diesem Buch beim Konjunktiv. Die Botschaft, Gott sei tot, verkündet es nicht.
Péter Esterházy:
Die Markus-Version.
Einfache Geschichte Komma
hundert Seiten. Aus dem
Ungarischen von Heike
Flemming. Hanser Berlin
im Carl Hanser Verlag,
München 2016.
116 Seiten, 16,90 Euro.
E-Book 12,99 Euro.
„Mein Bruder meinte, am Golgatha wehte pausenlos der Wind. Alle hatten Kopfschmerzen, Christus, die Soldaten, die Gaffenden, natürlich auch die beiden
Schächer“, schreibt Esterházys Erzähler. Detail aus dem Bild „Aufstieg zum Kalvarienberg“ (1564) von Pieter Bruegel dem Älteren.

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