Die Materialisierung des Ichs beschreibt die konzeptionelle Entwicklung der Neurowissenschaften. Breidbach entfaltet nicht nur die Genese einer speziellen Naturwissenschaft, sondern beschreibt auch die Entwicklung eines Fragenkomplexes, der weit über den engeren Bereich einer Disziplin hinausreicht. Das Buch unternimmt den Versuch, nicht nur die Einzelantworten der Neurowissenschaften, sondern auch die damit verbundenen Konzepte aufzuzeigen und in ihrem historisch-philosophischen Kontext darzustellen. Diese historische Analyse erarbeitet die Voraussetzungen für ein umfassendes Verständnis der derzeitigen Positionen in den Neurowissenschaften.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.1997Gehirn stinkt nicht
Denken als Sekretion: Von Hirngeschichten und Hirngespinsten
Kein Organ des menschlichen Körpers scheint der Forschung derart unversöhnlich widersprüchliche, theoretisch hochgeladene und empirisch löcherige Auffassungen entlockt zu haben wie das Gehirn. Andere Gewebe, Zellverbände, Teilmaschinerien sind biologisch zwar nicht weniger faszinierend als das Zentralorgan der Seele. Beim Gehirn geht es aber ums Ganze - beinahe um die Stellung des Menschen im Kosmos und mit Bestimmtheit um das Selbstbild, dem wir mehr oder weniger stur nachhängen.
Seit gut zweihundert Jahren beschäftigt man sich in so unterschiedlichen Sparten wie der Chirurgie, der Physiologie, der Reflexologie, der Zoologie, der Anthropologie, der Philosophie mit dem Aufbau, den Verrichtungen, den krankheitsbedingten Ausfällen und den gelegentlich schrulligen Einseitigkeiten des menschlichen Gehirns. In dieser Zeitspanne ist einiges geschehen. So ist das noch zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mitunter so bezeichnete Nervenfluid, dem die Zuständigkeit für die Zirkulation von Impulsen im Nervensystem zugeschrieben wurde, inzwischen überholt. Die Signalübertragung hat nichts mit einem hitzigen, hochsubtilen und erregbaren Prinzip zu tun, sondern verdankt sich gerichteten Kaskaden biochemischer Prozesse, deren Strukturen bei Mensch und Warmblütern ziemlich ähnlich sind.
Ein anderes Beispiel unter vielen für die zerebrotheoretischen Metamorphosen, die in den letzten zweihundert Jahren zu verzeichnen sind: Das Großhirn besteht, äußerlich betrachtet, aus zwei symmetrisch aussehenden Hemisphären. Die Symmetrie galt bis 1800 in den biologischen und medizinischen Wissenschaften als Anzeichen hochentwickelter Doppelorgane, deren Zwillingsteile für die jeweils gleichen Verrichtungen als verantwortliche Träger angesehen wurden. Daraus schien zu folgen, daß der Verlust der einen Zwillingshälfte nicht einen vollständigen Funktionsausfall verursachen müßte, sondern bestenfalls die Herabsetzung der funktionell definierten Tätigkeit, die in dem betreffenden Organ untergebracht ist.
Von den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts an geriet diese Vorstellung in Anbetracht klinisch erfaßter Ausfälle zunehmend in Verruf. Es wurden nämlich einseitige Hirngewebeschädigungen mit unübersehbaren Ausfällen beschrieben, die auf eine architektonische Besonderheit der Großhirnrinde schließen ließen: Lähmungen, Sprachstörungen und dergleichen mehr. Man erkannte, daß für das menschliche Verhalten und Handeln essentielle Funktionen womöglich nur einmal implementiert sein könnten, in topographisch präzise umschriebenen Bezirken oder in Arealen nur einer Hemisphäre.
Was als ein den Experten überlassenes Problem der Lokalisation von Hirnfunktionen erscheinen mochte, barg jede Menge Zündstoff in sich. Im Falle, daß das moralische Urteilsvermögen genauso wie das Sprechvermögen in einem topographisch begrenzten Teilbereich der Großhirnrinde untergebracht war, dann mochten die feinen Unterscheidungen, die wir zwischen Gut und Böse, zwischen dem Edlen und dem Niederträchtigen treffen und an denen wir uns im gesellschaftlichen Verkehr orientieren, auf die Aktivität eines bescheidenen Hirnareals zurückzuführen sein, das entsprechend seiner physischen Ausstattung moralisches Bewußtsein produzierte, wie die Galle oder die Schilddrüse tröpfchenweise Säfte absondert. Kein Wunder, daß große Denker hirntheoretische Überlegungen dieser Art durch Verwendung von Vergleichen mit übelriechenden Ausscheidungsvorgängen abzuwehren pflegten. Über solche und ähnliche Episoden berichtet Olaf Breidbach in der "Materialisierung des Ichs".
Die Geschichte der Hirnforschung seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ist vielschichtig. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß ihr Objekt seiner Plastizität wegen dem wissenschaftlichen Zugriff immer wieder zu entgleiten scheint. Dann aber auch damit, daß die Menschen, die sich forschend mit dem Gehirn (und seinen Annexen, dem Rückmark, den Sinnesorganen und den Nerven) befaßt haben, nicht immer wußten, was sie suchten.
Deshalb sollte man sich auf einen Text einstellen, in dem das Kreisen um dieses oder jenes Nebenthema und das Pendeln zwischen Ansätzen, Experimenten, klinischen Fällen, visualistischen und anderen Erfassungsinstrumenten zu den Darstellungsprinzipien gehören - sonst würde schon durch den Bauplan der Narration ein simplifiziertes Hirngespinst geschaffen, das die historische Aufklärung hintertriebe. Und doch ist, so einfach das klingen mag, in den zwei Jahrhunderten das Ich nach und nach einfach materialisiert worden, ganz ohne Zutun der Philosophie, die seit Immanuel Kant eigentlich nur noch sekundär auf die Ergebnisse der Hirnforschung reagiert hat.
Breidbachs Darstellung läßt ein bedenkenswertes Paradox erkennen. Die Fortschritte der Hirnforschung sind seit 1900 "nicht konzeptioneller Art, sondern sind eher methodisch bedingt". Über die Feinmechanik des Gehirns wissen wir tatsächlich mehr als Gustav Fritsch und Eduard Hitzig, die 1870 eine Arbeit über die elektrische Erregbarkeit der Großhirnrinde veröffentlichten. Vielleicht wissen wir aber noch nicht so recht, wie die akkumulierten Versuchs- und Beobachtungsdaten zu integrieren sind, damit das Denken seiner natürlichen Materialität nicht unentwegt hinterherhinkt.
Für historiographische Rekonstruktionen ist das Sujet Breidbachs ein wunderbarer Stoff. Aber die Monographie, so wertvoll sie als Synopsis auch sein mag, hinterläßt keine ungetrübte Freude. Zum einen franst hin und wieder der Erzählstrang aus. Zum anderen werden Forschungsergebnisse früherer Jahrhunderte aus moderner Sicht nachgebessert. Fast nichts ist in historiographischen Darstellungen aber langweiliger als prophetische Worte über die Vergangenheit. Denn eigentlich besteht die narrative Aufgabe darin, die Aktionen und Reaktionen aus dem Kenntnisstand der Akteure heraus plausibel zu machen, und nicht darin, sie an Standards späterer Generationen zu messen.
Und endlich: Das Ich ermüdet im Normalfall, legt sich schlafen und träumt. Am Schlafen und Träumen als lebenswichtigen Zuständen des Gehirns und damit des Ichs hat sich Breidbach jedoch still vorbeigeschlichen. So können wir von den Fortsetzungen der Hirnforschungsgeschichte nur träumen. ALEXANDRE MÉTRAUX
Olaf Breidbach: "Die Materialisierung des Ichs". Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 476 S., br., 29,80 Mark.
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Denken als Sekretion: Von Hirngeschichten und Hirngespinsten
Kein Organ des menschlichen Körpers scheint der Forschung derart unversöhnlich widersprüchliche, theoretisch hochgeladene und empirisch löcherige Auffassungen entlockt zu haben wie das Gehirn. Andere Gewebe, Zellverbände, Teilmaschinerien sind biologisch zwar nicht weniger faszinierend als das Zentralorgan der Seele. Beim Gehirn geht es aber ums Ganze - beinahe um die Stellung des Menschen im Kosmos und mit Bestimmtheit um das Selbstbild, dem wir mehr oder weniger stur nachhängen.
Seit gut zweihundert Jahren beschäftigt man sich in so unterschiedlichen Sparten wie der Chirurgie, der Physiologie, der Reflexologie, der Zoologie, der Anthropologie, der Philosophie mit dem Aufbau, den Verrichtungen, den krankheitsbedingten Ausfällen und den gelegentlich schrulligen Einseitigkeiten des menschlichen Gehirns. In dieser Zeitspanne ist einiges geschehen. So ist das noch zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mitunter so bezeichnete Nervenfluid, dem die Zuständigkeit für die Zirkulation von Impulsen im Nervensystem zugeschrieben wurde, inzwischen überholt. Die Signalübertragung hat nichts mit einem hitzigen, hochsubtilen und erregbaren Prinzip zu tun, sondern verdankt sich gerichteten Kaskaden biochemischer Prozesse, deren Strukturen bei Mensch und Warmblütern ziemlich ähnlich sind.
Ein anderes Beispiel unter vielen für die zerebrotheoretischen Metamorphosen, die in den letzten zweihundert Jahren zu verzeichnen sind: Das Großhirn besteht, äußerlich betrachtet, aus zwei symmetrisch aussehenden Hemisphären. Die Symmetrie galt bis 1800 in den biologischen und medizinischen Wissenschaften als Anzeichen hochentwickelter Doppelorgane, deren Zwillingsteile für die jeweils gleichen Verrichtungen als verantwortliche Träger angesehen wurden. Daraus schien zu folgen, daß der Verlust der einen Zwillingshälfte nicht einen vollständigen Funktionsausfall verursachen müßte, sondern bestenfalls die Herabsetzung der funktionell definierten Tätigkeit, die in dem betreffenden Organ untergebracht ist.
Von den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts an geriet diese Vorstellung in Anbetracht klinisch erfaßter Ausfälle zunehmend in Verruf. Es wurden nämlich einseitige Hirngewebeschädigungen mit unübersehbaren Ausfällen beschrieben, die auf eine architektonische Besonderheit der Großhirnrinde schließen ließen: Lähmungen, Sprachstörungen und dergleichen mehr. Man erkannte, daß für das menschliche Verhalten und Handeln essentielle Funktionen womöglich nur einmal implementiert sein könnten, in topographisch präzise umschriebenen Bezirken oder in Arealen nur einer Hemisphäre.
Was als ein den Experten überlassenes Problem der Lokalisation von Hirnfunktionen erscheinen mochte, barg jede Menge Zündstoff in sich. Im Falle, daß das moralische Urteilsvermögen genauso wie das Sprechvermögen in einem topographisch begrenzten Teilbereich der Großhirnrinde untergebracht war, dann mochten die feinen Unterscheidungen, die wir zwischen Gut und Böse, zwischen dem Edlen und dem Niederträchtigen treffen und an denen wir uns im gesellschaftlichen Verkehr orientieren, auf die Aktivität eines bescheidenen Hirnareals zurückzuführen sein, das entsprechend seiner physischen Ausstattung moralisches Bewußtsein produzierte, wie die Galle oder die Schilddrüse tröpfchenweise Säfte absondert. Kein Wunder, daß große Denker hirntheoretische Überlegungen dieser Art durch Verwendung von Vergleichen mit übelriechenden Ausscheidungsvorgängen abzuwehren pflegten. Über solche und ähnliche Episoden berichtet Olaf Breidbach in der "Materialisierung des Ichs".
Die Geschichte der Hirnforschung seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ist vielschichtig. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß ihr Objekt seiner Plastizität wegen dem wissenschaftlichen Zugriff immer wieder zu entgleiten scheint. Dann aber auch damit, daß die Menschen, die sich forschend mit dem Gehirn (und seinen Annexen, dem Rückmark, den Sinnesorganen und den Nerven) befaßt haben, nicht immer wußten, was sie suchten.
Deshalb sollte man sich auf einen Text einstellen, in dem das Kreisen um dieses oder jenes Nebenthema und das Pendeln zwischen Ansätzen, Experimenten, klinischen Fällen, visualistischen und anderen Erfassungsinstrumenten zu den Darstellungsprinzipien gehören - sonst würde schon durch den Bauplan der Narration ein simplifiziertes Hirngespinst geschaffen, das die historische Aufklärung hintertriebe. Und doch ist, so einfach das klingen mag, in den zwei Jahrhunderten das Ich nach und nach einfach materialisiert worden, ganz ohne Zutun der Philosophie, die seit Immanuel Kant eigentlich nur noch sekundär auf die Ergebnisse der Hirnforschung reagiert hat.
Breidbachs Darstellung läßt ein bedenkenswertes Paradox erkennen. Die Fortschritte der Hirnforschung sind seit 1900 "nicht konzeptioneller Art, sondern sind eher methodisch bedingt". Über die Feinmechanik des Gehirns wissen wir tatsächlich mehr als Gustav Fritsch und Eduard Hitzig, die 1870 eine Arbeit über die elektrische Erregbarkeit der Großhirnrinde veröffentlichten. Vielleicht wissen wir aber noch nicht so recht, wie die akkumulierten Versuchs- und Beobachtungsdaten zu integrieren sind, damit das Denken seiner natürlichen Materialität nicht unentwegt hinterherhinkt.
Für historiographische Rekonstruktionen ist das Sujet Breidbachs ein wunderbarer Stoff. Aber die Monographie, so wertvoll sie als Synopsis auch sein mag, hinterläßt keine ungetrübte Freude. Zum einen franst hin und wieder der Erzählstrang aus. Zum anderen werden Forschungsergebnisse früherer Jahrhunderte aus moderner Sicht nachgebessert. Fast nichts ist in historiographischen Darstellungen aber langweiliger als prophetische Worte über die Vergangenheit. Denn eigentlich besteht die narrative Aufgabe darin, die Aktionen und Reaktionen aus dem Kenntnisstand der Akteure heraus plausibel zu machen, und nicht darin, sie an Standards späterer Generationen zu messen.
Und endlich: Das Ich ermüdet im Normalfall, legt sich schlafen und träumt. Am Schlafen und Träumen als lebenswichtigen Zuständen des Gehirns und damit des Ichs hat sich Breidbach jedoch still vorbeigeschlichen. So können wir von den Fortsetzungen der Hirnforschungsgeschichte nur träumen. ALEXANDRE MÉTRAUX
Olaf Breidbach: "Die Materialisierung des Ichs". Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 476 S., br., 29,80 Mark.
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