Das Jahr 1990 markiert eine epochale Wende in der Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Die Leitung der MPG nahm an der Gestaltung der Wissenschaftspolitik der deutschen Vereinigung zugunsten der Ausweitung des bundesdeutschen Wissenschaftssystems in den Osten aktiv teil. Danach kam es zu einer einmaligen Expansion im Osten unter geringer Beteiligung ostdeutscher Wissenschaftler:innen und auch zu präzedenzlosen Kürzungen im Westen. Mitchell G. Ash analysiert die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft im Prozess der deutschen Vereinigung als Beispiel des Zusammenspiels von Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander in politischen Umbruchzeiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2024Der Mythos von der Kolonialisierung des Ostens
Mitchell Ash zeichnet die Integration der DDR-Wissenschaft in die Max-Planck-Gesellschaft nach
An Darstellungen zum Erbe und Schicksal der DDR-Institutionen nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik herrscht kein Mangel. Auch die Transformation der Hochschulen und die Reorganisation der Forschungslandschaft nach der Vereinigung rücken seit geraumer Zeit in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit.
Die Wissenschaftspolitik stand nach dem Mauerfall vor der Herausforderung, unter hohem Zeitdruck zwei Wissenschaftssysteme zusammenzuführen, die sich in Organisation, Funktion und Finanzierung radikal unterschieden. Das Hochschul- und Wissenschaftssystem in der DDR war Teil des "gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses" (Peer Pasternack) und unterlag zentralstaatlicher Weisung. Hinzu kamen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit, mangelnde Autonomie der Forschungsorganisationen und geringe Aufmerksamkeit für die Grundlagenforschung an den Hochschulen. Mit der Akademie der Wissenschaften gab es zudem eine Institution, die Grundlagen- und Anwendungsforschung miteinander verband und im Forschungs- und Wissenschaftssystem der BRD kein Pendant hatte.
Der Wissenschaftshistoriker Mitchell G. Ash erzählt den Systemwechsel in "Die Max-Planck-Gesellschaft im Prozess der deutschen Wiedervereinigung 1989-2002. Eine politische Wissenschaftsgeschichte" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2023) am Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Während die Transformation im Hochschulsektor relativ gut erforscht ist, gilt das für die außeruniversitäre Forschung nur eingeschränkt.
Ganz ohne Zweifel waren der Mauerfall und der sogenannte "Aufbau Ost" für die Max-Planck-Gesellschaft eine Zäsur in mehrfacher Hinsicht. Leitend war der Gedanke der "Konvergenz" von BRD und DDR in Sachen Forschungs- und Wissenschaftsorganisation. Sehr schnell sei nicht nur von der Max-Planck-Gesellschaft festgestellt worden, berichtet Ash, dass diese Konvergenz nicht existiere, da man nicht etwas zusammenführen könne, was systemisch und organisatorisch nicht miteinander konvergiert.
Im Juli 1990 verständigte man sich in Anwesenheit des damaligen Ministers Terpe, der Max-Planck-Gesellschaft und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf die zentralen Punkte, die in den Einigungsvertrag eingingen. Beschlossen wurden die Auflösung der Akademieorganisation und die Evaluation ihrer Institute durch den Wissenschaftsrat mit dem Ziel, diese in die bestehende Forschungslandschaft der Bundesrepublik "einzupassen". Es ging um Export des BRD-Systems auf das Gebiet der DDR.
Für die Max-Planck-Gesellschaft bedeutet dies vor allem die Prüfung auf Max-Planck-Fähigkeit von Instituten der Akademie und von existierenden Forschungsschwerpunkten an Universitäten. Wie Ash anschaulich schildert, stand die Max-Planck-Gesellschaft vor der ganz und gar nicht trivialen Frage, wie man die Expansion in die neuen Bundesländer mit der dortigen Schließung von Forschungsinstituten verbinden könne, also ein Fall von klassischer Dialektik unter den Auspizien von Austerität.
Ash räumt auch mit dem Mythos der wissenschaftspolitischen Kolonialisierung des Ostens durch den Westen auf. Die Empirie ist hier ziemlich eindeutig: Während im Westen im Zuge der Vereinigung renommierte Max-Planck-Institute wie das Göttinger MPI für Geschichte schließen mussten, profitierte der Osten von einer gigantischen Expansion der Max-Planck-Institute. Ohne die Vereinigung hätte es das "Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie" in Leipzig und andere niemals gegeben. Die Expansion war ein, wie Ash schreibt, "beispielloser Kraftakt", der zur Gründung von zwanzig Instituten in den neuen Bundesländern führte. Hubert Markl, Präsident der MPG von 1996 bis 2002, hält im November 1997 diesbezüglich fest, dass die "Max-Planck-Gesellschaft in den alten Ländern um sechzehn Prozent kleiner geworden und in den neuen Ländern gewachsen" sei.
Ash präsentiert dem Leser ein argumentativ stringentes und gut geschriebenes Lehrstück über die Rationalität wissenschaftspolitischen Handelns in Zeiten großer Zäsuren. Darüber entsteht ein facettenreiches Bild der Max-Planck-Gesellschaft. Der Befund, die Max-Planck-Gesellschaft sei nach der Vereinigung ganz und gar mit der Transformation in der DDR beschäftigt gewesen, stimmt so nicht. Die Jahre nach 1989 sind für die MPG auch die Zeit der Beschäftigung mit dem Wirken ihrer Vorgängerinstitution, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, im Nationalsozialismus, die sich in einer umfangreichen Studie niederschlug. Zwischen 1989 und 2002 kam es darüber hinaus zur wissenschaftsdiplomatischen Internationalisierung der MPG. Insofern muss man Ashs Buch eigentlich parallel zu Carola Sachses "Wissenschaft und Diplomatie. Die Max-Planck-Gesellschaft im Feld der internationalen Politik (1945-2000)" lesen. Es lohnt sich. MARKUS STEINMAYR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mitchell Ash zeichnet die Integration der DDR-Wissenschaft in die Max-Planck-Gesellschaft nach
An Darstellungen zum Erbe und Schicksal der DDR-Institutionen nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik herrscht kein Mangel. Auch die Transformation der Hochschulen und die Reorganisation der Forschungslandschaft nach der Vereinigung rücken seit geraumer Zeit in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit.
Die Wissenschaftspolitik stand nach dem Mauerfall vor der Herausforderung, unter hohem Zeitdruck zwei Wissenschaftssysteme zusammenzuführen, die sich in Organisation, Funktion und Finanzierung radikal unterschieden. Das Hochschul- und Wissenschaftssystem in der DDR war Teil des "gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses" (Peer Pasternack) und unterlag zentralstaatlicher Weisung. Hinzu kamen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit, mangelnde Autonomie der Forschungsorganisationen und geringe Aufmerksamkeit für die Grundlagenforschung an den Hochschulen. Mit der Akademie der Wissenschaften gab es zudem eine Institution, die Grundlagen- und Anwendungsforschung miteinander verband und im Forschungs- und Wissenschaftssystem der BRD kein Pendant hatte.
Der Wissenschaftshistoriker Mitchell G. Ash erzählt den Systemwechsel in "Die Max-Planck-Gesellschaft im Prozess der deutschen Wiedervereinigung 1989-2002. Eine politische Wissenschaftsgeschichte" (Vandenhoeck & Ruprecht, 2023) am Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Während die Transformation im Hochschulsektor relativ gut erforscht ist, gilt das für die außeruniversitäre Forschung nur eingeschränkt.
Ganz ohne Zweifel waren der Mauerfall und der sogenannte "Aufbau Ost" für die Max-Planck-Gesellschaft eine Zäsur in mehrfacher Hinsicht. Leitend war der Gedanke der "Konvergenz" von BRD und DDR in Sachen Forschungs- und Wissenschaftsorganisation. Sehr schnell sei nicht nur von der Max-Planck-Gesellschaft festgestellt worden, berichtet Ash, dass diese Konvergenz nicht existiere, da man nicht etwas zusammenführen könne, was systemisch und organisatorisch nicht miteinander konvergiert.
Im Juli 1990 verständigte man sich in Anwesenheit des damaligen Ministers Terpe, der Max-Planck-Gesellschaft und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf die zentralen Punkte, die in den Einigungsvertrag eingingen. Beschlossen wurden die Auflösung der Akademieorganisation und die Evaluation ihrer Institute durch den Wissenschaftsrat mit dem Ziel, diese in die bestehende Forschungslandschaft der Bundesrepublik "einzupassen". Es ging um Export des BRD-Systems auf das Gebiet der DDR.
Für die Max-Planck-Gesellschaft bedeutet dies vor allem die Prüfung auf Max-Planck-Fähigkeit von Instituten der Akademie und von existierenden Forschungsschwerpunkten an Universitäten. Wie Ash anschaulich schildert, stand die Max-Planck-Gesellschaft vor der ganz und gar nicht trivialen Frage, wie man die Expansion in die neuen Bundesländer mit der dortigen Schließung von Forschungsinstituten verbinden könne, also ein Fall von klassischer Dialektik unter den Auspizien von Austerität.
Ash räumt auch mit dem Mythos der wissenschaftspolitischen Kolonialisierung des Ostens durch den Westen auf. Die Empirie ist hier ziemlich eindeutig: Während im Westen im Zuge der Vereinigung renommierte Max-Planck-Institute wie das Göttinger MPI für Geschichte schließen mussten, profitierte der Osten von einer gigantischen Expansion der Max-Planck-Institute. Ohne die Vereinigung hätte es das "Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie" in Leipzig und andere niemals gegeben. Die Expansion war ein, wie Ash schreibt, "beispielloser Kraftakt", der zur Gründung von zwanzig Instituten in den neuen Bundesländern führte. Hubert Markl, Präsident der MPG von 1996 bis 2002, hält im November 1997 diesbezüglich fest, dass die "Max-Planck-Gesellschaft in den alten Ländern um sechzehn Prozent kleiner geworden und in den neuen Ländern gewachsen" sei.
Ash präsentiert dem Leser ein argumentativ stringentes und gut geschriebenes Lehrstück über die Rationalität wissenschaftspolitischen Handelns in Zeiten großer Zäsuren. Darüber entsteht ein facettenreiches Bild der Max-Planck-Gesellschaft. Der Befund, die Max-Planck-Gesellschaft sei nach der Vereinigung ganz und gar mit der Transformation in der DDR beschäftigt gewesen, stimmt so nicht. Die Jahre nach 1989 sind für die MPG auch die Zeit der Beschäftigung mit dem Wirken ihrer Vorgängerinstitution, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, im Nationalsozialismus, die sich in einer umfangreichen Studie niederschlug. Zwischen 1989 und 2002 kam es darüber hinaus zur wissenschaftsdiplomatischen Internationalisierung der MPG. Insofern muss man Ashs Buch eigentlich parallel zu Carola Sachses "Wissenschaft und Diplomatie. Die Max-Planck-Gesellschaft im Feld der internationalen Politik (1945-2000)" lesen. Es lohnt sich. MARKUS STEINMAYR
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