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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 156
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 258g
  • ISBN-13: 9783882434606
  • Artikelnr.: 24973802
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.1997

Mit Strohmännern im Freibad
Michael Rutschky paradiert querfeldein

Es herrscht der molekulare Bürgerfrieden. Die Gesellschaft wird nicht durch weltanschauliche Gemeinsamkeiten zusammengehalten. Der Streit der Meinungen ist unentscheidbar, weil nicht auf praktische Fragen bezogen. Die beteiligten Glaubensmächte sind jedoch in vereinzelter Vielfalt restlos privatisiert, daher bleibt ihr Wirken folgenlos und ungefährlich. Was kann ein Publizist publizieren, der diese Zeitdiagnose stellt? Er könnte dem einen oder anderen der in sich geschlossenen Gebilde nachspüren. Das wäre aufschlußreich.

Unter dem munteren Titel "Die Meinungsfreude" versammelt das neue Buch von Michael Rutschky dreißig Feuilletons aus den Jahren 1987 bis 1996. Sortiert in rückwärtiger chronologischer Reihenfolge, erzählen und kommentieren die vier bis fünf Seiten kurzen Stücke Erscheinungen aus dem weiten Feld der Alltagskultur. Sie sind für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschrieben, nach der Ausstrahlung in diversen Wochen- und Tageszeitungen abgedruckt und nun der broschierten Drittverwertung zugeführt worden. Und zwar offenkundig unüberarbeitet, denn eine zweite, kunstvolle Mündlichkeit hört man nur selten aus ihnen reden. Locker geplaudert traben sie querfeldein, ohne Verlangsamung oder Beschleunigung, ohne Straffung oder Steigerung. Wenn der Verfasser eine hübsche Allegorie (der Schlafphasendiagramme als Weltmeere) bildet, dann steckt er eine Brosche an einen Jogginganzug.

Der Berliner Autor fährt mit der U 1, kauft Gemüse beim Türken, begibt sich zum Spargelessen ins Beitrittsgebiet, besucht die Frankfurter Buchmesse, liest Leserbriefe und Graffiti, schaut sich im Freibad um, begutachtet seinen alternden Körper, unterhält sich mit "Jungmenschen", versucht sich mit Kameras, muß im Kino weinen und kann nachts nicht schlafen. Er ist kein Beobachter, der das Besondere entdeckt, sondern ein Erzähler, der seine Lebenswelt entindividualisiert. Denn die eine oder andere "Szene soll uns als Modell dienen". Aus der extrahierten Handvoll Beispiele will er "die Zeichen der Zeit deuten", um "auf Grundsätzliches, zur Anthropologie" zu kommen.

Auf seinen Wegen verstreut er Bildungsschnipsel, kleine Fetzen und große Namen, etwa der Kultursoziologie und Psychoanalyse. Radikal ist die Jugend und hält alles für neu; das Alter kennt alles und ist konservativ. Politik ist ein Hahnenkampf. Paranoische Schwätzer sind harmlos, solange machtlos. Außenseiter und Ausländer zu grüßen ist wichtiger, als für sie zu demonstrieren. Gegen Sucht und Obdachlosigkeit darf man nicht nachlassen, sich strebend zu bemühen, doch große gesellschaftliche Reformen vergrößern nur die Übel.

Michael Rutschkys Leser sind Besseres gewohnt als diese heiter-besinnlichen Nebenarbeiten eines Vielschreibers. In seinen amüsant und nicht unelegant verfaßten Reportagen aus dem Reich der Mentalitäten meist akademisch gebildeter Mittelschichten läßt Rutschky sonst bevorzugt andere erzählen und urteilen. Das geschieht zwar auch im vorliegenden Band: Die radikale Veganerin Doris Zielke und der russenfeindliche Kreuzberger Frührentner treten gleich zweimal an, und die "psychoanalytisch gebildete Freundin" alias Frau Dr. Gieseking läßt über den Voyeurismus im Freibad im August 1994 dasselbe verlauten wie schon im Juli 1989. Aber anders als sonst gesteht der Verfasser seinen Figuren keine weltanschauliche Existenz aus eigenem Recht zu, sondern benutzt sie als Strohmänner für seine Ansichten. Leider hat der Autor der "Meinungsfreude" selbst gefrönt, anstatt sie anderen zu gönnen. FRANCESCO MAMMONE

Michael Rutschky: "Die Meinungsfreude". Anthropologische Feuilletons. Steidl Verlag, Göttingen 1997. 156 S., br., 24,- DM.

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