Eine Zeit des Stillstands, des Innehaltens - Oliver wird Zeuge, wie in den Nachwendejahren parallel zur gesellschaftlichen Neufindung in der Musik die Melodien verschwinden und bald Wiederholung vorherrscht: Die elektronische Epoche beginnt. Der Säntis sendet Störklänge und Dezibelduschen, Dreiflügler, weiße Windräder, vorwärts oder rückwärts drehend, erzeugen Winde, die Oliver durch die Jahre wirbeln. Seine Reisen führen an Flüssen entlang, auf verbotene Gleise, durch die Lüfte. Er besucht in wechselnden Vehikeln Städte an Süß- und Salzgewässern. Und er landet immer wieder in der klingenden Gegenwart, in Zürich, Istanbul und im großen semantischen Orchester Frankfurt.
Tiere des 20. Jahrhunderts wandern mit Oliver durch das Buch. In London raten ihm sprechende Pferde: "Folge den Trommeln und Bässen!" Und tatsächlich: Die Musik ist allem voraus. Oliver beobachtet Tonus- und Rhythmuswechsel und ihre Rückwirkung auf Körper und Sprache, verfolgt das Verschwinden und Wiederauftauchen der Melodien und Tonfolgen der Liebe. Peter Weber läßt polyrhythmische Mirakel entstehenund zeigt, wo die Musik spielt: im Roman.
Tiere des 20. Jahrhunderts wandern mit Oliver durch das Buch. In London raten ihm sprechende Pferde: "Folge den Trommeln und Bässen!" Und tatsächlich: Die Musik ist allem voraus. Oliver beobachtet Tonus- und Rhythmuswechsel und ihre Rückwirkung auf Körper und Sprache, verfolgt das Verschwinden und Wiederauftauchen der Melodien und Tonfolgen der Liebe. Peter Weber läßt polyrhythmische Mirakel entstehenund zeigt, wo die Musik spielt: im Roman.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2007Free Jazz auf dem Hochseedampfer
Reiselust als Erzählprinzip: Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber lässt in seinem neuen Roman den Künstler O. auf der Suche nach Inspiration durch Europa reisen. Am Leitmotiv der "Melodielosigkeit"entsteht zugleich ein Epochenporträt der neunziger Jahre.
Seinen helvetischen Landsleuten stellt Peter Weber eine klare Diagnose: Die Schweizer leiden allesamt an latenter Reiselust. So sein Befund. Und auch einen passenden Namen für diese Krankheit hat er zur Hand: "Morbus helveticus abonnementi generalis". Akademische Gelehrsamkeit und schweizerischer Geschäftssinn verbinden sich in dieser Diagnose. In der Tat scheint das Generalabonnement der Schweizer Verkehrsbetriebe, das seinen Inhabern freie Fahrt mit den Eisenbahnen, Postbussen und Linienschiffen des Landes erlaubt, mehr zur innerschweizerischen Verständigung beizutragen, als es viele gutgemeinte Maßnahmen der staatlichen Sprach- und Kulturpolitik vermögen.
Auch der Künstler Oliver, Hauptfigur dieses kleinen Romans, ist von der Schweizer Reisekrankheit befallen. Seine unruhige Route führt ihn nicht nur in die heimischen Berge, wo er rüstigen Rentnern in Schulausflugsstimmung begegnet, sie lenkt ihn vielmehr quer durch Europa, von der einen "Wasserfassadenstadt" zur nächsten, also unter anderem nach Istanbul, Dresden, Marseille, Berlin, Genua, Rostock, Prag, Frankfurt und London. Was planlos klingt, folgt einer inneren Choreographie: Oliver, oder kurz "O.", wie er mitunter auch vom Erzähler genannt wird, orientiert sich an vorhandenen Reiselinien, an Bahn- und Schiffsstrecken also, zugleich kennt er aber auch die Sogkraft von Lebenslinien, Verliebtheitslinien, Schimmerlinien, Projektionslinien, Inspirationslinien.
Aus so viel Linien entsteht nicht nur ein verwirrend schönes Sprachgebilde, sondern auch ein kompliziertes Wegenetz, in dem sich der Schweizer Reisende fast schlafwandlerisch sicher bewegt. Wie sein Schöpfer, der 1968 geborene Peter Weber, ist Oliver Musiker und Schriftsteller zugleich, und seine Fahrten führen ihn dorthin, wo neue künstlerische Erfahrungen möglich sind. In Istanbul hört er den Übersetzer von Goethes "Faust" voll Inbrunst alte Schweizer Kinderlieder singen; in London unterhält Oliver innige Zwiesprache mit höflichen Polizeipferden, und an der Ostseeküste musiziert er in einem ausgemusterten Hochseedampfer, der früher zur Fischfangflotte der DDR gehörte.
So surreal die Handlung mitunter anmuten mag, ist sie doch fest in den Koordinaten der Zeitgeschichte verankert: Olivers künstlerische Odyssee findet in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts statt; und das Ende des Kalten Krieges bildet den durchgehenden basso continuo für alle Episoden des Buches. Die Schilderung einer falsch terminierten Fahrt zur Feier der deutschen Einheit wird dabei zum Sinnbild für die politische Randlage der Schweiz. Denn als die reisenden Schweizer, die staunend vom Fall der Mauer gehört haben, endlich in Berlin eintreffen, ist die große Party vorbei. Allein Berge von Straßenmüll empfangen die Reisenden, und als deutlichstes Zeichen der neuen Zeit lernen sie in Berlin ausgerechnet Schmalzstullen kennen - ein zweifelhafter kulinarischer Genuss, der am Fuße der Alpen offenbar unbekannt ist.
Vor allem aber erzählt das Buch von der populären Musik der neunziger Jahre. Für Peter Weber, der sich auch als Jazzmusiker und versierter Spieler der Maultrommel einen Namen gemacht hat, markiert das Aufkommen der "melodielosen" elektronischen Musik eine kulturelle Wende, die in ihrer Bedeutung der politischen gleichzusetzen ist: "Als der Eiserne Vorhang gefallen war, die Spannungspole aufgehoben, tauchte im luftleeren Raum die repetitive elektronische Musik auf, eroberte West und Ost gleichzeitig, wertfrei, Reizleitung, reines Lustprinzip."
Webers musikalische Zeitdiagnose erliegt nicht der naheliegenden Gefahr, das gute Alte gegen das bedenkliche Neue auszuspielen, vielmehr beschreibt er die neuen hämmernden Rhythmen, die den konstanten "Einton" zu ihrer Grundlage machen, mit freundlicher Sympathie. Seine Sprache aber verrät, wie sehr es der Erzähler gewohnt ist, noch immer in vertrauten Harmonien und Melodien zu denken: Sieht er sieben weiße Möwen, denen eine grauschwarze Krähe folgt, erklärt er diese sofort zum "Oktavenvogel"; ganz ähnlich wird die Berliner U-Bahn durch die stets acht aneinandergehängten Wagen "oktaviert".
Eine unübersehbare Freude am Wortspiel durchzieht das gesamte Buch. Wie schon in seinen früheren Werken, dem vielgelobten Debüt "Der Wettermacher" (1993), dem wortgewaltigen "Silber und Salbader" (1999) und der "Bahnhofsprosa" (2002), erprobt Peter Weber erneut ausgiebig die Möglichkeiten des Deutschen zur Wortbildung, mit denen er, ein Neuwort auch dies, die "Mischwirklichkeit" seiner Wahrnehmungen zu beschreiben sucht. Nicht jede seiner Erfindungen wirkt so unangestrengt wie das tiefe "Urbrumm", mit dem Weber das Grundgeräusch aller Bahnfahrten beschreibt, doch ist es insbesondere der Musikalität und Originalität seiner Sprache zu verdanken, dass sich dieses Buch so wohltuend von der buchstäblichen Eintönigkeit vieler anderer zeitkritischer Romane abhebt.
SABINE DOERING.
Peter Weber: "Die melodielosen Jahre". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 192 S., geb., 16,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiselust als Erzählprinzip: Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber lässt in seinem neuen Roman den Künstler O. auf der Suche nach Inspiration durch Europa reisen. Am Leitmotiv der "Melodielosigkeit"entsteht zugleich ein Epochenporträt der neunziger Jahre.
Seinen helvetischen Landsleuten stellt Peter Weber eine klare Diagnose: Die Schweizer leiden allesamt an latenter Reiselust. So sein Befund. Und auch einen passenden Namen für diese Krankheit hat er zur Hand: "Morbus helveticus abonnementi generalis". Akademische Gelehrsamkeit und schweizerischer Geschäftssinn verbinden sich in dieser Diagnose. In der Tat scheint das Generalabonnement der Schweizer Verkehrsbetriebe, das seinen Inhabern freie Fahrt mit den Eisenbahnen, Postbussen und Linienschiffen des Landes erlaubt, mehr zur innerschweizerischen Verständigung beizutragen, als es viele gutgemeinte Maßnahmen der staatlichen Sprach- und Kulturpolitik vermögen.
Auch der Künstler Oliver, Hauptfigur dieses kleinen Romans, ist von der Schweizer Reisekrankheit befallen. Seine unruhige Route führt ihn nicht nur in die heimischen Berge, wo er rüstigen Rentnern in Schulausflugsstimmung begegnet, sie lenkt ihn vielmehr quer durch Europa, von der einen "Wasserfassadenstadt" zur nächsten, also unter anderem nach Istanbul, Dresden, Marseille, Berlin, Genua, Rostock, Prag, Frankfurt und London. Was planlos klingt, folgt einer inneren Choreographie: Oliver, oder kurz "O.", wie er mitunter auch vom Erzähler genannt wird, orientiert sich an vorhandenen Reiselinien, an Bahn- und Schiffsstrecken also, zugleich kennt er aber auch die Sogkraft von Lebenslinien, Verliebtheitslinien, Schimmerlinien, Projektionslinien, Inspirationslinien.
Aus so viel Linien entsteht nicht nur ein verwirrend schönes Sprachgebilde, sondern auch ein kompliziertes Wegenetz, in dem sich der Schweizer Reisende fast schlafwandlerisch sicher bewegt. Wie sein Schöpfer, der 1968 geborene Peter Weber, ist Oliver Musiker und Schriftsteller zugleich, und seine Fahrten führen ihn dorthin, wo neue künstlerische Erfahrungen möglich sind. In Istanbul hört er den Übersetzer von Goethes "Faust" voll Inbrunst alte Schweizer Kinderlieder singen; in London unterhält Oliver innige Zwiesprache mit höflichen Polizeipferden, und an der Ostseeküste musiziert er in einem ausgemusterten Hochseedampfer, der früher zur Fischfangflotte der DDR gehörte.
So surreal die Handlung mitunter anmuten mag, ist sie doch fest in den Koordinaten der Zeitgeschichte verankert: Olivers künstlerische Odyssee findet in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts statt; und das Ende des Kalten Krieges bildet den durchgehenden basso continuo für alle Episoden des Buches. Die Schilderung einer falsch terminierten Fahrt zur Feier der deutschen Einheit wird dabei zum Sinnbild für die politische Randlage der Schweiz. Denn als die reisenden Schweizer, die staunend vom Fall der Mauer gehört haben, endlich in Berlin eintreffen, ist die große Party vorbei. Allein Berge von Straßenmüll empfangen die Reisenden, und als deutlichstes Zeichen der neuen Zeit lernen sie in Berlin ausgerechnet Schmalzstullen kennen - ein zweifelhafter kulinarischer Genuss, der am Fuße der Alpen offenbar unbekannt ist.
Vor allem aber erzählt das Buch von der populären Musik der neunziger Jahre. Für Peter Weber, der sich auch als Jazzmusiker und versierter Spieler der Maultrommel einen Namen gemacht hat, markiert das Aufkommen der "melodielosen" elektronischen Musik eine kulturelle Wende, die in ihrer Bedeutung der politischen gleichzusetzen ist: "Als der Eiserne Vorhang gefallen war, die Spannungspole aufgehoben, tauchte im luftleeren Raum die repetitive elektronische Musik auf, eroberte West und Ost gleichzeitig, wertfrei, Reizleitung, reines Lustprinzip."
Webers musikalische Zeitdiagnose erliegt nicht der naheliegenden Gefahr, das gute Alte gegen das bedenkliche Neue auszuspielen, vielmehr beschreibt er die neuen hämmernden Rhythmen, die den konstanten "Einton" zu ihrer Grundlage machen, mit freundlicher Sympathie. Seine Sprache aber verrät, wie sehr es der Erzähler gewohnt ist, noch immer in vertrauten Harmonien und Melodien zu denken: Sieht er sieben weiße Möwen, denen eine grauschwarze Krähe folgt, erklärt er diese sofort zum "Oktavenvogel"; ganz ähnlich wird die Berliner U-Bahn durch die stets acht aneinandergehängten Wagen "oktaviert".
Eine unübersehbare Freude am Wortspiel durchzieht das gesamte Buch. Wie schon in seinen früheren Werken, dem vielgelobten Debüt "Der Wettermacher" (1993), dem wortgewaltigen "Silber und Salbader" (1999) und der "Bahnhofsprosa" (2002), erprobt Peter Weber erneut ausgiebig die Möglichkeiten des Deutschen zur Wortbildung, mit denen er, ein Neuwort auch dies, die "Mischwirklichkeit" seiner Wahrnehmungen zu beschreiben sucht. Nicht jede seiner Erfindungen wirkt so unangestrengt wie das tiefe "Urbrumm", mit dem Weber das Grundgeräusch aller Bahnfahrten beschreibt, doch ist es insbesondere der Musikalität und Originalität seiner Sprache zu verdanken, dass sich dieses Buch so wohltuend von der buchstäblichen Eintönigkeit vieler anderer zeitkritischer Romane abhebt.
SABINE DOERING.
Peter Weber: "Die melodielosen Jahre". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 192 S., geb., 16,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Diesen Roman hat Rezensent Martin Krumbholz als "schaumig-lustvolle Textdusche" genossen und empfiehlt es den Lesern, ihm gleichzutun. Denn von einer Handlung kann hier nicht wirklich die Rede sein: "Alles hat mit Reisen und mit Musik zu tun", versucht Krumbholz notdürftig das Sujet einzugrenzen, dabei spielt dies keine entscheidende Rolle: Es ist Peter Webers "Lust an der Sprache", die ihn in einen wahren "Klangrausch" und "helles Entzücken" versetzt hat. Und so warnt der Rezensent nachdrücklich, den Titel für bare Münze zu nehmen: Webers Prosa sei reines und ausgesprochen virtuoses "Klangtheater".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Es ist der Musikalität und Originalität seiner Sprache zu verdanken, dass sich dieses Buch so wohltuend von vielen anderen zeitkritischen Romane abhebt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung