»Die Menschen vom Himmel« von 1943 gilt als Sanfords Meisterwerk. In einer Kleinstadt im Staat New York wird eine Afro-Amerikanerin, deren Ankunft ihre Bewohner in zwei Parteien spaltet, von demselben Mann vergewaltigt, der einen indianischen Mitbürger fast totschlägt und versucht, den einzigen Juden aus dem Ort zu vertreiben. Der Roman ist eine schonungslose Darstellung des vom Rassismus durchdrungenen Alltags in den USA. Sein Ende ist utopisch und bis heute von der Wirklichkeit nicht eingeholt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass sogar ein 80 Jahre alter Roman hochaktuell sein kann, lernt Rezensent Andreas Platthaus bei der Lektüre von John Sanfords Roman über die amerikanische Ortschaft Warrensburg und die dort herrschenden Ausgrenzungsmechanismen. Dieser "Stimmkollektivroman" mit seinen 41 Protagonisten zeichnet ein düsteres Bild von einer Gemeinde, in der die Ankunft einer schwarzen Frau zur Eskalation des Rassismus führt, erfahren wir, dazu kommen neun Szenen, die die Geschichte des US-amerikanischen Rassismus rekapitulieren. Sanfords Erzählung kommt Platthaus dabei moderner und klarer vor als etwa Harper Lees "Wer die Nachtigall stört", auch wenn Übersetzer Jochen Stremmel mit einigen der "metaphern- und allegoriengesättigten" Passagen sicher zu kämpfen hatte - der Kritiker kann die Lektüre nur empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2024Eine finstere Gemeinschaft
In der amerikanischen Literatur sind jüngst viele Entdeckungen gemacht worden, meist aus gesellschaftspolitischen Gründen. Nun wird mit John Sanfords "Die Menschen vom Himmel" aus dem Jahr 1943 ein auch ästhetisch erstaunliches Buch erstmals ins Deutsche übersetzt.
Die aktuelle Bewohnerzahl der Ortschaft Warrensburg im amerikanischen Bundesstaat New York liegt bei knapp viertausend. In John Sanfords Roman "Die Menschen vom Himmel", der seinen Schauplatz in Warrensburg hat, gibt es 41 Protagonisten, und das entspricht genau der Angabe, die einer davon, der Pfarrer Daniel Hunter, zur Größe seiner Gemeinde macht: "um die vierzig". Mit ihm zusammen also 41. 39 von ihnen werden gleich zu Beginn aus der Sicht eines vierzigsten, des örtlichen Arztes, beim Kirchbesuch in kurzen Erinnerungsfragmenten charakterisiert - eine Ansammlung von Provinzlern, in deren vertraulichen Arztgesprächen sich Abgründe auftun. Ein virtuoserer Romanauftakt lässt sich kaum denken, allerdings auch kaum ein aufmerksamkeitsbedürftigerer, denn Sanford überlässt die zum Verständnis der Ortskonstellation notwendige Kombinatorik seinen Lesern.
Nun ist eine Pfarrgemeinde nicht zu verwechseln mit der Ortsgemeinschaft - allemal nicht in den religiös diversen Vereinigten Staaten, in denen lokal etliche Kirchen konkurrieren. Aber Sanfords 41 Kirchgänger stehen dennoch für die viertausend Bürger von Sanford, ja sogar für die mehr als 330 Millionen der heutigen USA.
Dabei stammt der Roman aus dem Jahr 1943. Dass er nun in Sanfords Heimatland neu aufgelegt und kurz danach erstmals ins Deutsche übersetzt worden ist, zeigt, als wie aktuell er empfunden wird. Zu Recht, denn das durch die vertiefte Spaltung und den grassierenden Rassismus und Antisemitismus in den Vereinigten Staaten und anderswo geprägte gesellschaftliche Klima ist kein neues Problem. Der aktuelle Hassdiskurs bedient sich seit Jahrhunderten in ihrer polarisierenden Wirkung bewährter Topoi. Dass Sanfords "The People from Heaven" für acht Jahrzehnte nicht mehr recht interessiert hatte, kündet von einer leider mittlerweile obsoleten einigermaßen heilen Zwischenkrisenzeit.
Aber auch von einem ästhetischen Harmoniebedürfnis, durch das ein Roman wie Harper Lees "Wer die Nachtigall stört" von 1960 zum weltweiten Publikumserfolg und Inbegriff eines literarischen Porträts der amerikanischen Rassensegregation im zwanzigsten Jahrhundert werden konnte, obwohl Sanfords siebzehn Jahre früher erschienenes Buch sich dieses Themas ungleich schärfer und scharfsichtiger angenommen hatte - und stilistisch ungleich moderner. Lees an "Tom Sawyer" geschulte scheinnaive Kindersicht auf eine Kleinstadt in Alabama setzt auf einen Saubermann reinsten Wassers, den Rechtsanwalt Atticus Finch, Vater der jungen Icherzählerin und Verteidiger des ungerechtfertigt der Vergewaltigung einer Weißen angeklagten schwarzen Landarbeiters Tom Robinson - paternalistisch in jeder Hinsicht. Sanford dagegen hat keine "Helden". Der überzeugte Kommunist erzählt in Form eines Stimmkollektivromans davon, wie im nahezu ausschließlich weißen Warrensburg des Jahres 1941 durch die Ankunft einer schwarzen Frau die Gemeinschaft zerrissen wird - bis hin zum Brandanschlag auf Daniel Hunters Kirche. Aber die Kommunistische Partei verübelte damals ihrem Mitglied den Roman, denn Hoffnung gibt es darin keine für die Gesellschaft. Und das ist umso bedrückender, als dass Warrensburg nicht wie Lees Handlungsort Maycomb in den Südstaaten angesiedelt ist, sondern eben im (Nord-)Bundesstaat New York.
Die Düsternis von Sanfords Weltsicht wird noch dadurch betont, dass er seinem eigentlichen Geschehen neun historische Szenen zwischenschaltet, die die Geschichte des amerikanischen Rassismus seit der Landung von Kolumbus demonstrieren. Schon der Titel seines Romans ist ein Kolumbus-Zitat: Als "Menschen vom Himmel" empfand sich der Seefahrer von den Indianern wahrgenommen, und diese Selbstüberhebung war für Sanford der Beginn des "White supremacy"-Denkens. In seinen Zwischenspielen entfaltet der Roman eine Stilvielfalt - von Quellencollage über gebundene Rede, innere Monologe bis hin zum satirischen Phantasma eines Gesprächs zwischen Gott und einem modernen Prometheus -, die den Einfluss von James Joyce' "Ulysses" erkennen lässt, der den 1904 im New Yorker Stadtteil Harlem geborenen Sanford tief beeindruckt hatte. Dessen ursprünglicher Name war Julian Shapiro, aber er benutzte, um dem virulenten Antisemitismus zu entgehen, seit 1940 den Namen eines Protagonisten aus "The Water Wheel", seines auch schon in Warrensburg angesiedelten Debütromans von 1933.
Mitte der Dreißigerjahre war Shapiro nach Hollywood gegangen, um sich dort als Drehbuchautor zu versuchen, scheiterte damit jedoch - im Gegensatz zu seiner Frau Maggie Roberts, die er dort kennenlernte und die bis zur Kommunistenhatz der Fünfziger ein Star des Metiers war; von ihr stammt etwa das Drehbuch zu "True Grit" mit John Wayne. In einem bewegenden Vorwort, das Sanford als über Neunzigjähriger verfasste und das nun der deutschen Übersetzung beigegeben ist, beschwor er noch einmal die symbiotische Zusammenarbeit mit seiner 1989 gestorbenen Frau.
Beide einte die Lust am Experimentellen und der gnadenlose Blick auf die amerikanische Wirklichkeit. "Die Menschen im Himmel" spielt noch vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg, dessen moralische Legitimation die einheimische Unmoral zeitweise übertünchte. In drei Figuren lässt Sanford drei gesellschaftlich geächtete Gruppen verkörpern: in der Schwarzen America Smith, im Indianer Bigelow Vroom und im ehedem vor russischen Pogromen nach Amerika geflohenen Juden Abraham Novinsky. Sie alle werden zu Zielen des von einem bösen Mastermind der Ausgrenzung namens Eli Bishop (Sanfords Namen sind häufig sprechend) instrumentierten Volkszorns, und nur vier Bewohner von Warrensburg treten dagegen an: der Pfarrer, der Arzt, ein Kurzwarenhändler und eine junge Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes als Dorfprostituierte gilt. Aber auch dieses Quartett ist ambivalent gezeichnet.
Sanford wollte viel mit seinem metaphern- und allegoriengesättigten Buch, bisweilen zu viel, und die Übersetzung von Jochen Stremmel muss deshalb manchmal kämpfen, um den vielfältigen Anspielungen gerecht zu werden. Aber die Konstruktion des Mikrokosmos Warrensburg ist ungeheuer subtil - nicht über die eher plakative Figurenzeichnung, sondern in der Feinmechanik des Zusammen- und Gegenspiels der Handelnden. Und über deren viele Dialoge, aus deren Tonfall sich bei Sanford mehr über die jeweiligen Charaktere erfahren lässt als aus expliziten Beschreibungen. Was für eine Entdeckung! Mehr von Sanford. ANDREAS PLATTHAUS
John Sanford: "Die Menschen vom Himmel". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel. Nachwort von Jack Mearns. Edition Tiamat, Berlin 2023. 280 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der amerikanischen Literatur sind jüngst viele Entdeckungen gemacht worden, meist aus gesellschaftspolitischen Gründen. Nun wird mit John Sanfords "Die Menschen vom Himmel" aus dem Jahr 1943 ein auch ästhetisch erstaunliches Buch erstmals ins Deutsche übersetzt.
Die aktuelle Bewohnerzahl der Ortschaft Warrensburg im amerikanischen Bundesstaat New York liegt bei knapp viertausend. In John Sanfords Roman "Die Menschen vom Himmel", der seinen Schauplatz in Warrensburg hat, gibt es 41 Protagonisten, und das entspricht genau der Angabe, die einer davon, der Pfarrer Daniel Hunter, zur Größe seiner Gemeinde macht: "um die vierzig". Mit ihm zusammen also 41. 39 von ihnen werden gleich zu Beginn aus der Sicht eines vierzigsten, des örtlichen Arztes, beim Kirchbesuch in kurzen Erinnerungsfragmenten charakterisiert - eine Ansammlung von Provinzlern, in deren vertraulichen Arztgesprächen sich Abgründe auftun. Ein virtuoserer Romanauftakt lässt sich kaum denken, allerdings auch kaum ein aufmerksamkeitsbedürftigerer, denn Sanford überlässt die zum Verständnis der Ortskonstellation notwendige Kombinatorik seinen Lesern.
Nun ist eine Pfarrgemeinde nicht zu verwechseln mit der Ortsgemeinschaft - allemal nicht in den religiös diversen Vereinigten Staaten, in denen lokal etliche Kirchen konkurrieren. Aber Sanfords 41 Kirchgänger stehen dennoch für die viertausend Bürger von Sanford, ja sogar für die mehr als 330 Millionen der heutigen USA.
Dabei stammt der Roman aus dem Jahr 1943. Dass er nun in Sanfords Heimatland neu aufgelegt und kurz danach erstmals ins Deutsche übersetzt worden ist, zeigt, als wie aktuell er empfunden wird. Zu Recht, denn das durch die vertiefte Spaltung und den grassierenden Rassismus und Antisemitismus in den Vereinigten Staaten und anderswo geprägte gesellschaftliche Klima ist kein neues Problem. Der aktuelle Hassdiskurs bedient sich seit Jahrhunderten in ihrer polarisierenden Wirkung bewährter Topoi. Dass Sanfords "The People from Heaven" für acht Jahrzehnte nicht mehr recht interessiert hatte, kündet von einer leider mittlerweile obsoleten einigermaßen heilen Zwischenkrisenzeit.
Aber auch von einem ästhetischen Harmoniebedürfnis, durch das ein Roman wie Harper Lees "Wer die Nachtigall stört" von 1960 zum weltweiten Publikumserfolg und Inbegriff eines literarischen Porträts der amerikanischen Rassensegregation im zwanzigsten Jahrhundert werden konnte, obwohl Sanfords siebzehn Jahre früher erschienenes Buch sich dieses Themas ungleich schärfer und scharfsichtiger angenommen hatte - und stilistisch ungleich moderner. Lees an "Tom Sawyer" geschulte scheinnaive Kindersicht auf eine Kleinstadt in Alabama setzt auf einen Saubermann reinsten Wassers, den Rechtsanwalt Atticus Finch, Vater der jungen Icherzählerin und Verteidiger des ungerechtfertigt der Vergewaltigung einer Weißen angeklagten schwarzen Landarbeiters Tom Robinson - paternalistisch in jeder Hinsicht. Sanford dagegen hat keine "Helden". Der überzeugte Kommunist erzählt in Form eines Stimmkollektivromans davon, wie im nahezu ausschließlich weißen Warrensburg des Jahres 1941 durch die Ankunft einer schwarzen Frau die Gemeinschaft zerrissen wird - bis hin zum Brandanschlag auf Daniel Hunters Kirche. Aber die Kommunistische Partei verübelte damals ihrem Mitglied den Roman, denn Hoffnung gibt es darin keine für die Gesellschaft. Und das ist umso bedrückender, als dass Warrensburg nicht wie Lees Handlungsort Maycomb in den Südstaaten angesiedelt ist, sondern eben im (Nord-)Bundesstaat New York.
Die Düsternis von Sanfords Weltsicht wird noch dadurch betont, dass er seinem eigentlichen Geschehen neun historische Szenen zwischenschaltet, die die Geschichte des amerikanischen Rassismus seit der Landung von Kolumbus demonstrieren. Schon der Titel seines Romans ist ein Kolumbus-Zitat: Als "Menschen vom Himmel" empfand sich der Seefahrer von den Indianern wahrgenommen, und diese Selbstüberhebung war für Sanford der Beginn des "White supremacy"-Denkens. In seinen Zwischenspielen entfaltet der Roman eine Stilvielfalt - von Quellencollage über gebundene Rede, innere Monologe bis hin zum satirischen Phantasma eines Gesprächs zwischen Gott und einem modernen Prometheus -, die den Einfluss von James Joyce' "Ulysses" erkennen lässt, der den 1904 im New Yorker Stadtteil Harlem geborenen Sanford tief beeindruckt hatte. Dessen ursprünglicher Name war Julian Shapiro, aber er benutzte, um dem virulenten Antisemitismus zu entgehen, seit 1940 den Namen eines Protagonisten aus "The Water Wheel", seines auch schon in Warrensburg angesiedelten Debütromans von 1933.
Mitte der Dreißigerjahre war Shapiro nach Hollywood gegangen, um sich dort als Drehbuchautor zu versuchen, scheiterte damit jedoch - im Gegensatz zu seiner Frau Maggie Roberts, die er dort kennenlernte und die bis zur Kommunistenhatz der Fünfziger ein Star des Metiers war; von ihr stammt etwa das Drehbuch zu "True Grit" mit John Wayne. In einem bewegenden Vorwort, das Sanford als über Neunzigjähriger verfasste und das nun der deutschen Übersetzung beigegeben ist, beschwor er noch einmal die symbiotische Zusammenarbeit mit seiner 1989 gestorbenen Frau.
Beide einte die Lust am Experimentellen und der gnadenlose Blick auf die amerikanische Wirklichkeit. "Die Menschen im Himmel" spielt noch vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg, dessen moralische Legitimation die einheimische Unmoral zeitweise übertünchte. In drei Figuren lässt Sanford drei gesellschaftlich geächtete Gruppen verkörpern: in der Schwarzen America Smith, im Indianer Bigelow Vroom und im ehedem vor russischen Pogromen nach Amerika geflohenen Juden Abraham Novinsky. Sie alle werden zu Zielen des von einem bösen Mastermind der Ausgrenzung namens Eli Bishop (Sanfords Namen sind häufig sprechend) instrumentierten Volkszorns, und nur vier Bewohner von Warrensburg treten dagegen an: der Pfarrer, der Arzt, ein Kurzwarenhändler und eine junge Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes als Dorfprostituierte gilt. Aber auch dieses Quartett ist ambivalent gezeichnet.
Sanford wollte viel mit seinem metaphern- und allegoriengesättigten Buch, bisweilen zu viel, und die Übersetzung von Jochen Stremmel muss deshalb manchmal kämpfen, um den vielfältigen Anspielungen gerecht zu werden. Aber die Konstruktion des Mikrokosmos Warrensburg ist ungeheuer subtil - nicht über die eher plakative Figurenzeichnung, sondern in der Feinmechanik des Zusammen- und Gegenspiels der Handelnden. Und über deren viele Dialoge, aus deren Tonfall sich bei Sanford mehr über die jeweiligen Charaktere erfahren lässt als aus expliziten Beschreibungen. Was für eine Entdeckung! Mehr von Sanford. ANDREAS PLATTHAUS
John Sanford: "Die Menschen vom Himmel". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel. Nachwort von Jack Mearns. Edition Tiamat, Berlin 2023. 280 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main