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Die dramatischen Jahrhunderte von der Spätantike bis zum Mittelalter sind das Thema dieser Geschichte Europas vor Karl dem Großen.

Produktbeschreibung
Die dramatischen Jahrhunderte von der Spätantike bis zum Mittelalter sind das Thema dieser Geschichte Europas vor Karl dem Großen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Kein Kampf um Rom
Patrick Geary historisiert die Merowinger / Von Dirk Schümer

Eine Zivilisation geht zugrunde. Die Steuerlast wächst ins Unerträgliche, während der Staat seine Bürger nicht mehr gegen Gewalt und Mißwirtschaft schützen kann. Die Bildung verfällt. Gastarbeiter mit inkompatiblen Sitten und ländlichen Sozialstrukturen siedeln im Innern des Imperiums; sie wurden ins Land geholt, um die Drecksarbeit zu verrichten, für die sich die Bürger zu schade waren. Die Reichen in ihren Landhäusern und in mondän abgekapselten Stadtappartments verfrühstücken die Reste der einstigen Größe.

Doch Patrick J. Geary hat kein Buch über die Europäische Gemeinschaft des Jahres 1996 geschrieben, sondern über "Europa vor Karl dem Großen". Vielleicht hat es Geary geholfen, daß er in Los Angeles arbeitet, also am pazifischen Rand unserer Kultur. Von diesem Außenposten betrachtet, verlieren die Scharmützel und Meuchelmorde der Grimoalde, Childeberde und Theuderiche in Galliens Wäldern den nationalhistorisch identitätsstiftenden Charakter, den sie vor allem für französische Gelehrte bis heute haben. In Gearys Schilderung erinnern die Thronkämpfe der Merowinger weniger an Königsdramen als an jugendliche Bandenkriege in South Central L.A. Derzeit wird der erste "Frankenkönig" Chlodwig zum vermeintlichen fünfzehnhundertjährigen Jubiläum seiner Taufe rund um Reims geräuschvoll gefeiert. Doch schlägt 496 tatsächlich die Geburtsstunde des Abendlands?

Weder kennen wir das Jahr von Chlodwigs Taufe genau - vielleicht war es auch 498 oder 506 - noch wissen wir, welchen heidnischen Glaubensvorstellungen er abschwor und ob er nicht Christus der Sicherheit halber unter seine zahlreichen Kriegsgötter, die wir auch nicht kennen, einreihte. Die Merowingerzeit erweist sich für gelehrte Streitereien seit Jahrhunderten als ergiebig, weil es kaum schriftliche Quellen gibt.

Geary begreift den Zusammenbruch des Römischen Reiches als gewaltigen Akkulturationsprozeß, den wir vor allem darum so schwer verstehen, weil unsere Vorstellungen von der Begrifflichkeit der Römer geprägt sind und dann in der Neuzeit durch romantische Vorstellungen vom Germanentum verzerrt wurden. In den stärksten Passagen des Buches kehrt der Autor die Perspektive um. Wir lernen, daß es das Reich überhaupt nicht gab. Wir sehen den Großgrundbesitz in Südgallien auch ohne römischen Kaiser und ohne römisches Militär fortbestehen, weil er von beidem schon immer unabhängig war. Uns wird plastisch das Kulturklima an der Grenze geschildert, die wir als löchrige Membran zu verstehen lernen, durch die fleißig gehandelt wurde - Vieh, Waffen, Frauen und Kulturtechniken.

Im Grenzland veränderten sich unmerklich die Gebräuche der Bodenbearbeitung, hier mischte sich die Bevölkerung. Hier lernten germanische Söldnerführer, sich wie römische Provinzstatthalter zu benehmen. Der Glaube an einen scharfen Gegensatz zwischen Barbaren und Römern ist etwa so unsinnig wie die Vorstellung, ein kasachischer Bauernjunge, der nur russisch spricht, sei ein Deutscher, während ein türkischer Gemüsehändler, der in der dritten Generation in Frankfurt lebt, als Ausländer zu verstehen sei.

Geary erwähnt einen reichen Grundbesitzer am burgundischen Hof, der sich in der Mitte des 5. Jahrhunderts über einen Christen lustig macht: Der fromme Mann habe doch immer den Untergang Roms vorausgesagt, aber die Prophezeiung sei nicht eingetroffen. Nach unserer Zählung ist es gegen 450 mit Rom schon lange vorbei. Wer hat nun recht? Entweder die Römer haben den Zusammenbruch ihres Imperiums nicht bemerkt, oder wir verstehen nicht, was "Rom" damals eigentlich meinte. Auch heute ist ja durchaus unklar, ob wir uns in einem Europa der Nationen, der Regionen, der Gemeinden oder der Eurokraten bewegen oder ob nicht schon die amerikanisierte Kulturökonomie herrscht. Die Grundbesitzer in Gallien etwa werden um das Jahr 400 das Fehlen der Zentrale höchstens dadurch mitbekommen haben, daß sie plötzlich weniger Steuern zahlen mußten. Und unsere Vorstellungen von kompakten "germanischen" Völkerschaften, die zu Tausenden im Ochsenwagen in geordnete römische Distrikte einwanderten, stammen eher aus Felix Dahns "Kampf um Rom" als aus der historischen Wirklichkeit.

Geary neigt zu der Vorstellung, germanische Völker wie "Franken", "Burgunder", "Bajuwaren" habe es nur als Namen gegeben. Kein Frankenherrscher wußte, woher sein Volk stammte (die Merowinger glaubten, sie kämen aus Pannonien) und wie es zusammengemischt war, weil sich die seit langem romanisierten "Stämme" erst ein oder zwei Generationen zuvor formiert hatten, weil sie beständig in unterschiedlichen Gebieten Gegner unterwarfen, sich neu versippten und je nach Bedarf die Bestattungsbräuche, die Religion, das Recht wechselten. Erst der militärische oder demographische Erfolg formte Heerhaufen zu festen Sozialstrukturen. Johannes Fried hat seine Geschichte des deutschen Frühmittelalters so ähnlich begonnen: Damals war alles noch Nebel, und keiner konnte wissen, was daraus werden sollte.

Nimmt man noch die Schätzungen über das Verhältnis von angestammten "römischen" Siedlern und Eroberern hinzu - Geary schreibt von zwei Prozent bewußten Franken unter lauter Römern -, dann wird deutlich, daß historische Tiefenströmungen wie Religion und Landbautechniken diese Kulturen mehr beeinflußt haben als irgendwelche Totschlägereien um hölzerne Throne. Doch auch hier setzt Geary sein Desillusionierungswerk fort. Zwar kam den Kirchenfürsten in den gallischen Bischofsstädten größerer Einfluß zu als dem fränkischen "Adel", von dessen Beschaffenheit wir kaum etwas wissen. Doch eine fränkische Reichskirche mit Synoden und Dogmatik, wie wir sie von den Karolingern kennen, gab es damals nicht.

Die Bischofsdynastien, Netzwerke alter Senatorenfamilien in Gallien, die nun reihenweise lokale Heilige produzierten, regierten ihre Klientel recht autark. Diese spätrömische Herrschaftsweise hat schon Peter Brown in seiner Biographie des heiligen Augustinus plastisch geschildert. In den vagen Beschreibungen, die man den frühen Heiligenviten wie der des Sulpicius Severus über das Leben des Martin von Tours entnimmt, hat Geary noch manches Überraschende entdeckt: Die Städte waren noch nicht, wie nach 900, entvölkert, sondern blühten mit zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern weiter. Erst als die Eroberungen der Merowingerfürsten sie erschöpft hatten, mangelte es an geraubtem Edelmetall für den Fernhandel mit Ostrom. Auf die wichtigste Frage, wie sich nämlich unter den Kirchenleuten römische Bildung und technisches Wissen tradierte, geht Geary nicht näher ein. Wahrscheinlich fehlen auch hier die Quellen.

Schon Werner Raith, als Historiker Süditaliens in der Analyse von Mafia-Strukturen geschult, hat die These vertreten, das Römische Reich sei gewissermaßem am Streik seiner Bewohner zugrunde gegangen, die den ausbeuterischen Steuerdruck und der Militärverfassung an den Grenzen nicht mehr aushielten. Geary sieht das ähnlich. Leider verläßt er im Schlußteil den Weg der ethnographischen Schilderung und verfällt in den Historikerbrauch, die unergiebigen Dynastiekämpfe der Merowinger im Detail zu schildern.

Das Ende kennen wir: Ein anderer Sippenverband, in Belgien und Lothringen angesiedelt und geschickt mit den Familienheiligen Arnulf und Gertrud operierend, übernahm de facto das Regiment: die Karolinger. Der letzte Merowinger, Chilperich III., wurde 751 nach der Krönung Pippins zum Frankenkönig ins Kloster gesteckt. Ob Europa zu diesem Zeitpunkt bereits geboren war, ist nach der Lektüre ebensowenig klar, wie wir wissen, ob Europa heute nicht bereits untergegangen ist. Solche Fragen haben sich beim Lesen erledigt. Rom, lehrt uns die tröstliche Historie, ist auch nicht an einem Tag zerstört worden.

Patrick J. Geary: "Die Merowinger". Europa vor Karl dem Großen. Aus dem Englischen von Ursula Scholz. Verlag C. H. Beck, München 1996. 270 S., geb., 58,- DM.

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