Leben, Denken und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten für den Menschen. Es sind »unmögliche Möglichkeiten«, die durch ununterbrochene persönliche Anstrengung immer wieder neu erzeugt werden müssen. Bleibt diese Anstrengung aus, laufen wir Gefahr, die »anthropologischen Katastrophen« des 20. Jahrhunderts zu wiederholen. In der dramatischen Philosophie Merab Mamardaschwilis treten unterschiedlich kodierte Figuren wie Proust oder Artaud auf, in denen sich seine Bewusstseinsphilosophie und sein Geschichtsverständnis ausdrücken. Mamardaschwilis Anliegen war es dabei immer, auch dem nicht philosophisch geschulten Leser Philosophieren als eine Aufgabe des Lebens zu vermitteln.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2019Auf dem Vulkan
Zwei Vorträge von Merab Mamardaschwili
Für Merab Mamardaschwili war die Philosophie "kein Beruf, sondern ein Temperament und eine Lebensweise" und schon deshalb auch "keine Summe von Wissen, die man einem anderen übergeben könnte". Ein Philosoph lehrt nicht, er zeigt. Durch sein Beispiel stiftet er zum Denken an. Mamardaschwili wurde 1930 in Gori, der Geburtsstadt Stalins, geboren. Er besuchte in Tiflis die Schule und studierte Philosophie in Moskau. Ein eigenmächtig verlängerter Aufenthalt in Paris brachte ihm nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion 1967 ein zwanzigjähriges Ausreiseverbot ein. Er arbeitete für philosophische Zeitschriften, unterrichtete ohne feste Anstellung an verschiedenen Hochschulen und kehrte 1980 nach Tiflis zurück.
Oft betonte Mamardaschwili die "Fröhlichkeit" und "Würde" des zur Unfreiheit verurteilten georgischen Volks. Als sich mit dem Zerfall der Sowjetunion in seiner Heimat ein zunehmend aggressiver Nationalismus auszubreiten begann, nahm er aber öffentlich dagegen Stellung. Die Separatisten erklärten ihn zum Verräter. Geradezu symbolisch mutet es da an, dass er 1990 auf dem Rückweg von Westeuropa nach Georgien im Transitbereich des Moskauer Flughafens Wnukowo an einem Herzinfarkt starb.
Ein schmaler, aber gehaltvoller Band präsentiert nun zwei Vorträge, die er in seinen letzten zwei Lebensjahren gehalten hat: eine Einführung in die "Metaphysik Antonin Artauds" sowie Gedanken über das "Wien der Jahrhundertwende", die Mamardaschwili bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in Moskau vortrug. Bei beiden Texten handelt es sich um Transkriptionen von Audioaufnahmen. Frei sprechend und unter Verzicht auf philosophische Fachbegriffe wendet sich Mamardaschwili an sein Publikum. Schnell ist klar, dass es ihm weder um eine hermeneutische oder dekonstruktive Lektüre Artauds noch um stilgeschichtliche Analysen der frühen Moderne geht. So unterschiedliche Autoren wie Artaud, Simone Weil, Mandelstam, Proust, Wittgenstein oder Musil deutet Mamardaschwili vielmehr als bewusstseinsgeschichtliche Figuren im Drama der menschlichen Freiheit.
Immer wieder betont Mamardaschwili dabei, dass die zivilisatorischen Errungenschaften nur ein "hauchdünnes Gewebe" seien, wir "gleichsam auf einem Vulkan" lebten. Seinem von der klassischen Metaphysik geprägten, von der westeuropäischen Philosophie seiner Zeit scheinbar isolierten Denken, das auch essentialistisch aufgeladene Begriffe des Menschen und der Geschichte, des Ostens und des Westens nicht scheut, wird man wohl kaum gerecht werden, wenn man es nicht vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Totalitarismus betrachtet.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Merab Mamardaschwili:
"Die Metaphysik Antonin Artauds".
Hrsg. und mit einem Nachwort von Zaal Andronikashvili.
Aus dem Russischen von Roman Widder und Maria Rajer. Matthes und Seitz, Berlin 2018. 109 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Vorträge von Merab Mamardaschwili
Für Merab Mamardaschwili war die Philosophie "kein Beruf, sondern ein Temperament und eine Lebensweise" und schon deshalb auch "keine Summe von Wissen, die man einem anderen übergeben könnte". Ein Philosoph lehrt nicht, er zeigt. Durch sein Beispiel stiftet er zum Denken an. Mamardaschwili wurde 1930 in Gori, der Geburtsstadt Stalins, geboren. Er besuchte in Tiflis die Schule und studierte Philosophie in Moskau. Ein eigenmächtig verlängerter Aufenthalt in Paris brachte ihm nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion 1967 ein zwanzigjähriges Ausreiseverbot ein. Er arbeitete für philosophische Zeitschriften, unterrichtete ohne feste Anstellung an verschiedenen Hochschulen und kehrte 1980 nach Tiflis zurück.
Oft betonte Mamardaschwili die "Fröhlichkeit" und "Würde" des zur Unfreiheit verurteilten georgischen Volks. Als sich mit dem Zerfall der Sowjetunion in seiner Heimat ein zunehmend aggressiver Nationalismus auszubreiten begann, nahm er aber öffentlich dagegen Stellung. Die Separatisten erklärten ihn zum Verräter. Geradezu symbolisch mutet es da an, dass er 1990 auf dem Rückweg von Westeuropa nach Georgien im Transitbereich des Moskauer Flughafens Wnukowo an einem Herzinfarkt starb.
Ein schmaler, aber gehaltvoller Band präsentiert nun zwei Vorträge, die er in seinen letzten zwei Lebensjahren gehalten hat: eine Einführung in die "Metaphysik Antonin Artauds" sowie Gedanken über das "Wien der Jahrhundertwende", die Mamardaschwili bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in Moskau vortrug. Bei beiden Texten handelt es sich um Transkriptionen von Audioaufnahmen. Frei sprechend und unter Verzicht auf philosophische Fachbegriffe wendet sich Mamardaschwili an sein Publikum. Schnell ist klar, dass es ihm weder um eine hermeneutische oder dekonstruktive Lektüre Artauds noch um stilgeschichtliche Analysen der frühen Moderne geht. So unterschiedliche Autoren wie Artaud, Simone Weil, Mandelstam, Proust, Wittgenstein oder Musil deutet Mamardaschwili vielmehr als bewusstseinsgeschichtliche Figuren im Drama der menschlichen Freiheit.
Immer wieder betont Mamardaschwili dabei, dass die zivilisatorischen Errungenschaften nur ein "hauchdünnes Gewebe" seien, wir "gleichsam auf einem Vulkan" lebten. Seinem von der klassischen Metaphysik geprägten, von der westeuropäischen Philosophie seiner Zeit scheinbar isolierten Denken, das auch essentialistisch aufgeladene Begriffe des Menschen und der Geschichte, des Ostens und des Westens nicht scheut, wird man wohl kaum gerecht werden, wenn man es nicht vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Totalitarismus betrachtet.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Merab Mamardaschwili:
"Die Metaphysik Antonin Artauds".
Hrsg. und mit einem Nachwort von Zaal Andronikashvili.
Aus dem Russischen von Roman Widder und Maria Rajer. Matthes und Seitz, Berlin 2018. 109 S., br., 16,- [Euro].
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