Im Hilfesupermarkt
Aktueller könnte das Thema kaum sein. Wenn Hilfsorganisationen zum Spenden auffordern, folgen wir ihrem Ruf nur allzu bereitwillig. Rund 2 Millionen Euro spenden allein die Deutschen jedes Jahr. Doch wissen wir immer, was mit diesem Geld geschieht? Bewirkt es wirklich, was wir damit bezwecken? Wie entscheiden humanitäre Helfer, wer wie viel Hilfe bekommt? Kann Nothilfe in einem Kriegsgebiet überhaupt neutral sein oder verlängert sie nicht automatisch den Konflikt und damit die Gewalt?
Noch immer gilt es als ethisch nicht korrekt, Hilfsorganisationen kritische Fragen zu stellen. Schließlich handeln sie doch zumeist mit besten Absichten. Doch eine Diskussion darüber ist mehr als überfällig. Nach wie vor fehlt es der humanitären Gemeinschaft an einer Übereinstimmung über Definitionen und Grundsätze. Ein System, um Leistungen zu verfolgen und zu analysieren, existiert nicht.
Die erfahrene Journalistin Linda Polman kennt die Krisenherde der letzten vier Jahrzehnte aus eigenem Erleben und weiß, dass humanitäre Hilfe voller Widersprüche steckt.
Ein schonungsloses, offenes und im besten Sinne verstörendes Buch mit dem leidenschaftlichen Aufruf zu einer längst überfälligen Debatte über die Verwendung von Hilfsgeldern.
Aktueller könnte das Thema kaum sein. Wenn Hilfsorganisationen zum Spenden auffordern, folgen wir ihrem Ruf nur allzu bereitwillig. Rund 2 Millionen Euro spenden allein die Deutschen jedes Jahr. Doch wissen wir immer, was mit diesem Geld geschieht? Bewirkt es wirklich, was wir damit bezwecken? Wie entscheiden humanitäre Helfer, wer wie viel Hilfe bekommt? Kann Nothilfe in einem Kriegsgebiet überhaupt neutral sein oder verlängert sie nicht automatisch den Konflikt und damit die Gewalt?
Noch immer gilt es als ethisch nicht korrekt, Hilfsorganisationen kritische Fragen zu stellen. Schließlich handeln sie doch zumeist mit besten Absichten. Doch eine Diskussion darüber ist mehr als überfällig. Nach wie vor fehlt es der humanitären Gemeinschaft an einer Übereinstimmung über Definitionen und Grundsätze. Ein System, um Leistungen zu verfolgen und zu analysieren, existiert nicht.
Die erfahrene Journalistin Linda Polman kennt die Krisenherde der letzten vier Jahrzehnte aus eigenem Erleben und weiß, dass humanitäre Hilfe voller Widersprüche steckt.
Ein schonungsloses, offenes und im besten Sinne verstörendes Buch mit dem leidenschaftlichen Aufruf zu einer längst überfälligen Debatte über die Verwendung von Hilfsgeldern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2010Wohin mit dem Geld?
Linda Polman schaut hinter die Hilfsorganisationen
Weltweit arbeiten siebenunddreißigtausend internationale Hilfsorganisationen. Noch nie gab es so viele wie heute. Wenn Katastrophen ausbrechen, reisen ihre Mitarbeiter in die betroffenen Gebiete, um den Notleidenden zu helfen. Dabei geht es auch um sehr viel Geld. Im Jahr verfügen die Hilfsorganisationen über 120 Milliarden Dollar, die sie von Staaten und privaten Spendern bekommen. "Die Organisationen wetteifern darum, das Geld auszugeben", meint die niederländische Journalistin Linda Polman. "Sie alle wollen ihren Teil an dem Multimilliarden-Dollar-Budget. Diese Hilfsindustrie ist zu groß geworden - wie ein Monster, das nicht länger kontrolliert werden kann."
Polman war selbst in vielen Krisengebieten, kennt die Flüchtlingslager und weiß, wovon sie spricht. Sie war in Sierra Leone, Afghanistan, Äthiopien, Somalia, im Irak und im Kongo. In ihrem Buch über die "Mitleidsindustrie" kritisiert sie Hilfsorganisationen, die unfreiwillig zu Helfern der Kriegsparteien werden. Am Beispiel Ruanda führt sie vor Augen, was sie damit meint. 1994 glaubten die westlichen Fernsehzuschauer, im Lager von Goma in Zaire befänden sich die Opfer des Völkermordes von Ruanda. Tatsächlich waren es aber die Täter. Die Hutu-Milizen, die den Völkermord begangen hatten, waren nun selbst vor der rachenehmenden Tutsi-Armee geflohen.
Die nach dem Grundsatz der Neutralität operierenden Hilfsorganisationen wussten das, brachen ihre Zelte aber trotzdem nicht ab und halfen damit gewollt oder ungewollt der Hutu-Armee. Eine Ausnahme stellte die französische Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" dar, die Goma verließ. Sie wurde sofort von zehn anderen Organisationen ersetzt. Polman schreibt: "Weil es so viele Hilfsorganisationen gibt, fällt es den regionalen Kriegsherren leicht, sie zu manipulieren. Die Machthaber wissen: Wenn eine Organisation wegen des Missbrauchs geht, rücken sofort andere nach. Deshalb sind die NGOs so anfällig für Erpressung und Missbrauch." Ihre Hilfeleistungen sind Bestandteil der Kriegsstrategien geworden. Müssen NGOs stur weiterhin helfen, wenn kämpfende Parteien die Hilfe für sich selbst und gegen den Feind gebrauchen? Oder müssen sie abziehen? Was ist auf Dauer das Grausamere? Polman verdeutlicht den Gedanken anhand eines Beispiels: "Nehmen wir einmal an, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Es sind die Nazis. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon ans eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun Sie?"
Obwohl man stellenweise etwas Zynisches aus ihren Worten herauslesen kann, will Polman die Hilfsorganisationen nicht provozieren, sondern dafür sorgen, dass das Geld, welches ihnen zufließt, besser kontrolliert wird. Sie will Menschen nicht vom Spenden abbringen, sondern sie dazu auffordern, nachzuhaken und die Organisationen zu fragen, wohin das Geld geht, ob es an der richtigen Stelle produktiv eingesetzt wird. Polmans Einblicke in die Arbeit der Hilfsorganisationen, bisweilen desillusionierend, sind notwendig, um sich darüber zu informieren, wie man helfen kann, obwohl man weiß, was hinter den Kulissen der "Mitleidsindustrie" vor sich geht.
LEVKE CLAUSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Linda Polman schaut hinter die Hilfsorganisationen
Weltweit arbeiten siebenunddreißigtausend internationale Hilfsorganisationen. Noch nie gab es so viele wie heute. Wenn Katastrophen ausbrechen, reisen ihre Mitarbeiter in die betroffenen Gebiete, um den Notleidenden zu helfen. Dabei geht es auch um sehr viel Geld. Im Jahr verfügen die Hilfsorganisationen über 120 Milliarden Dollar, die sie von Staaten und privaten Spendern bekommen. "Die Organisationen wetteifern darum, das Geld auszugeben", meint die niederländische Journalistin Linda Polman. "Sie alle wollen ihren Teil an dem Multimilliarden-Dollar-Budget. Diese Hilfsindustrie ist zu groß geworden - wie ein Monster, das nicht länger kontrolliert werden kann."
Polman war selbst in vielen Krisengebieten, kennt die Flüchtlingslager und weiß, wovon sie spricht. Sie war in Sierra Leone, Afghanistan, Äthiopien, Somalia, im Irak und im Kongo. In ihrem Buch über die "Mitleidsindustrie" kritisiert sie Hilfsorganisationen, die unfreiwillig zu Helfern der Kriegsparteien werden. Am Beispiel Ruanda führt sie vor Augen, was sie damit meint. 1994 glaubten die westlichen Fernsehzuschauer, im Lager von Goma in Zaire befänden sich die Opfer des Völkermordes von Ruanda. Tatsächlich waren es aber die Täter. Die Hutu-Milizen, die den Völkermord begangen hatten, waren nun selbst vor der rachenehmenden Tutsi-Armee geflohen.
Die nach dem Grundsatz der Neutralität operierenden Hilfsorganisationen wussten das, brachen ihre Zelte aber trotzdem nicht ab und halfen damit gewollt oder ungewollt der Hutu-Armee. Eine Ausnahme stellte die französische Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" dar, die Goma verließ. Sie wurde sofort von zehn anderen Organisationen ersetzt. Polman schreibt: "Weil es so viele Hilfsorganisationen gibt, fällt es den regionalen Kriegsherren leicht, sie zu manipulieren. Die Machthaber wissen: Wenn eine Organisation wegen des Missbrauchs geht, rücken sofort andere nach. Deshalb sind die NGOs so anfällig für Erpressung und Missbrauch." Ihre Hilfeleistungen sind Bestandteil der Kriegsstrategien geworden. Müssen NGOs stur weiterhin helfen, wenn kämpfende Parteien die Hilfe für sich selbst und gegen den Feind gebrauchen? Oder müssen sie abziehen? Was ist auf Dauer das Grausamere? Polman verdeutlicht den Gedanken anhand eines Beispiels: "Nehmen wir einmal an, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Es sind die Nazis. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon ans eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun Sie?"
Obwohl man stellenweise etwas Zynisches aus ihren Worten herauslesen kann, will Polman die Hilfsorganisationen nicht provozieren, sondern dafür sorgen, dass das Geld, welches ihnen zufließt, besser kontrolliert wird. Sie will Menschen nicht vom Spenden abbringen, sondern sie dazu auffordern, nachzuhaken und die Organisationen zu fragen, wohin das Geld geht, ob es an der richtigen Stelle produktiv eingesetzt wird. Polmans Einblicke in die Arbeit der Hilfsorganisationen, bisweilen desillusionierend, sind notwendig, um sich darüber zu informieren, wie man helfen kann, obwohl man weiß, was hinter den Kulissen der "Mitleidsindustrie" vor sich geht.
LEVKE CLAUSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2010Geld für die Warlords
„Die Mitleidsindustrie“: Linda Polman beschreibt die
verqueren Maßnahmen internationaler Hilfsorganisationen
Irgendwann wurde es den Bewohnern von Goma zu viel. Es war im Januar 2002, der Vulkan Nyiragongo war ausgebrochen und hatte die kongolesische Stadt an der Grenze zu Ruanda mit einem gewaltigen Lavastrom in zwei Hälften geteilt. Nun standen die Menschen in dem immer noch brennenden Ort und brüllten die Vertreter der Vereinten Nationen und all der anderen Hilfsorganisationen an, dass sie nicht nur dumm rumstehen, sondern endlich etwas tun sollten.
Doch all die Weißen, die gerade aus aller Welt in dieses Katastrophengebiet geeilt waren, machten nichts. Sie konnten nichts machen. Sie saßen auf der Terrasse des Nyira-Hotels und riefen ratlos ihre Zentralen in der Heimat an. „Ich weiß nicht, was ich mit den vielen Spenden anfangen soll“, sagte ein christlicher Helfer damals zur SZ. „Ich darf sie für nichts anderes verwenden als für Medikamente, Trinkwasser oder Zelte, aber die Menschen brauchen das nicht. Es ist eine Katastrophe, aber keine, bei der wir wirklich helfen können.“
Die Kongolesen hatten sich nämlich schon zwei Tage nach dem Vulkanausbruch selbst geholfen. Sie kamen bei Nachbarn oder Verwandten unter, sie tranken das Wasser aus dem Kivusee, und die Märkte waren voll mit Waren aus dem Umland. Was die Menschen wirklich gebraucht hätten, durften die Helfer nicht leisten: Sie konnten die erkaltende Lava nicht aus dem Stadtzentrum entfernen oder beim Wiederaufbau der Häuser helfen, weil das keine Nothilfe mehr gewesen wäre.
Die UN durfte kein Essen verteilen, weil die Lava in den Kivusee floss, an dessen Grund sich eine riesige Methanblase befindet. Sie wollte nicht noch mehr Menschen in eine Stadt locken, die jederzeit in die Luft gehen konnte. Und sie musste zudem mit einer Miliz zusammenarbeiten, die Goma besetzt hielt und vom verfeindeten Nachbarland Ruanda unterstützt wurde. Diese Rebellen plünderten nicht nur die Bewohner aus und quälten sie, sie mordeten auch nach Belieben. Und mit diesen Verbrechern arbeiteten jetzt die UN und all die anderen Helfer zusammen, weil sie für diese die einzige „Autorität“ waren. Kein Wunder, dass die Kongolesen vor Wut bebten.
Wohin mit den Spenden?
Es war auch nicht das erste Mal, dass ausländische Helfer den Zorn der Bewohner von Goma auf sich zogen. Schon 1994 kam es in der Stadt zu einem der größten Skandale, den Hilfsorganisationen je verursacht haben. In Ruanda waren in nur 100 Tagen 800 000 Tutsi und moderate Hutu ermordet worden, und nachdem der heutige Präsident Paul Kagame mit seiner Tutsi-Miliz den Genozid an seinem Volk beendet hatte, flüchteten Millionen Hutu-Mörder nach Goma und ließen sich in Flüchtlingslagern nieder.
Bald brachen Seuchen aus, und nun griff die Welt ein, die beim Völkermord im Nachbarland noch tatenlos zugesehen hatte. Sie half den Hutu in Goma, versorgte sie mit Zelten, Essen, Wasser, Medizin – und päppelte damit jene wieder auf, die für den Genozid verantwortlich waren. Mehr noch: Sie tolerierte, dass sich in den Flüchtlingslagern von Goma die Hutu-Milizen wieder formierten und bewaffneten, weil sie die Tutsi in Ruanda endgültig auslöschen wollten. Die Kongolesen, die unter den Flüchtlingen litten, bekamen von den Helfern nichts, und sie waren auch noch den Überfällen der Hutu ausgesetzt.
Die niederländische Journalistin Linda Polman bezeichnet die internationale Hilfe für die Hutu in Goma als „absolute ethnische Katastrophe“. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie 1995 als Reporterin in diese Stadt kam. Selten hat man eine so klare und präzise Schilderung dessen gelesen, was dort stattfand.
Die Hutu-Milizen hatten längst die Kontrolle über die Flüchtlingslager. Und die Hilfsorganisationen gaben ihnen alles, was sie wollten, standen sie doch untereinander so im Konkurrenzkampf, dass sie sich auf alle Bedingungen der Hutu einließen. Die Helfer mussten ja ihre Spenden loswerden und für möglichst dramatische Fernsehbilder sorgen, damit ihnen die Menschen in der Heimat noch mehr Geld gaben. Denn nur auf Grund dieser Spenden existieren sie ja. Anders ausgedrückt: Sie betrieben Milizenhilfe aus Selbsterhaltungstrieb.
Goma war der GAU der internationalen Hilfsorganisationen. Und das Tragische ist, dass niemand etwas daraus gelernt hat. Polman, die seit Jahrzehnten als freie Journalistin über internationale Hilfseinsätze schreibt und die auch als UN-Korrespondentin in Somalia, Haiti, Ruanda und Sierra Leone war, schildert eindringlich und detailliert, wie die internationale Hilfe funktioniert, und warum fast keiner der Helfer seinen Einsatz je in Frage stellt – auch wenn in Kriegsgebieten vor allem Warlords und Milizen von den Essenslieferungen und Spenden profitieren.
Helfer im Hochsicherheitstrakt
Schon im Vorwort zitiert Polman einen für den UN-Sicherheitsrat verfassten Untersuchungsbericht, der belegt, dass bis 2010 ungefähr die Hälfte aller Hilfe des UN-Welternährungsprogramms für Somalia in den Taschen der Warlords gelandet ist. Das sind mehr als 220 Millionen US-Dollar pro Jahr. Damit lässt sich schön Krieg führen – was neues Leid bringt und somit mehr Lebensmittelhilfe.
Nun gibt es viele Bücher, auch aus Afrika, die seit langem dafür plädieren, die internationale Hilfe für diesen Kontinent auszusetzen – weil sie das Elend nicht beseitigen kann, weil sie Kriege verlängert, weil sie lokale Märkte zerstört und notleidende Menschen in eine ewige Abhängigkeit von Almosen zwingt.
Polman aber schließt sich dieser Forderung nicht an. Sie beschreibt die Mechanismen und macht deutlich, dass der allergrößte Teil der Hilfe allein von der Struktur her zum Scheitern verurteilt ist. Die Hilfsorganisationen sollten sich deshalb viel kritischer mit ihrer Rolle auseinandersetzen – und sich viel mehr Fragen stellen, zum Beispiel: Muss man ein verhungerndes Kind retten, wenn die Hilfe dazu führt, dass vor allem Milizen, die für diese Not verantwortlich sind, gestärkt werden? Polman hat darauf eine klare Antwort und klagt die Hilfsorganisationen an: „Sie tragen die Reinheit ihrer Rot-Kreuz-Prinzipien – Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – wie ein Schild vor sich her und finden es selbstverständlich, dass die Prinzipien wichtiger sind als deren Konsequenzen.“
Wer jemals in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs war, wer miterlebt hat, mit welcher Selbstverständlichkeit lokale Herrscher Steuern und Abgaben von den Helfern verlangen, damit diese ihre Hilfe leisten dürfen, der weiß, dass Polman nicht die Ausnahmen beschreibt, sondern die Regel. Ihr Buch führt nach Ruanda, in den Kongo, nach Sierra Leone, aber auch nach Afghanistan, wo sich ausländische Helfer aus ihren Hochsicherheitstrakten nicht mehr heraustrauen und somit auch nicht kontrollieren können, was mit ihrem Geld und ihren Hilfsgütern geschieht.
Das Einzige, was man nach der Lektüre dieses spannenden Buchs bedauert, sind die Fehler, die im Lektorat nicht gefunden wurden. Zum Beispiel dauert der Völkermord in Ruanda bei Polman nur drei Wochen statt drei Monate. (In diesen drei Monaten mordeten die Hutu in Handarbeit übrigens effizienter als die Vernichtungsmaschinerie der Nazis.) Davon abgesehen, ist Polmans Buch ein Standardwerk für jeden, der sich für die Mechanismen internationaler Hilfseinsätze interessiert. MICHAEL BITALA
LINDA POLMAN: Die Mitleidsindustrie – Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 264 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
„Die Mitleidsindustrie“: Linda Polman beschreibt die
verqueren Maßnahmen internationaler Hilfsorganisationen
Irgendwann wurde es den Bewohnern von Goma zu viel. Es war im Januar 2002, der Vulkan Nyiragongo war ausgebrochen und hatte die kongolesische Stadt an der Grenze zu Ruanda mit einem gewaltigen Lavastrom in zwei Hälften geteilt. Nun standen die Menschen in dem immer noch brennenden Ort und brüllten die Vertreter der Vereinten Nationen und all der anderen Hilfsorganisationen an, dass sie nicht nur dumm rumstehen, sondern endlich etwas tun sollten.
Doch all die Weißen, die gerade aus aller Welt in dieses Katastrophengebiet geeilt waren, machten nichts. Sie konnten nichts machen. Sie saßen auf der Terrasse des Nyira-Hotels und riefen ratlos ihre Zentralen in der Heimat an. „Ich weiß nicht, was ich mit den vielen Spenden anfangen soll“, sagte ein christlicher Helfer damals zur SZ. „Ich darf sie für nichts anderes verwenden als für Medikamente, Trinkwasser oder Zelte, aber die Menschen brauchen das nicht. Es ist eine Katastrophe, aber keine, bei der wir wirklich helfen können.“
Die Kongolesen hatten sich nämlich schon zwei Tage nach dem Vulkanausbruch selbst geholfen. Sie kamen bei Nachbarn oder Verwandten unter, sie tranken das Wasser aus dem Kivusee, und die Märkte waren voll mit Waren aus dem Umland. Was die Menschen wirklich gebraucht hätten, durften die Helfer nicht leisten: Sie konnten die erkaltende Lava nicht aus dem Stadtzentrum entfernen oder beim Wiederaufbau der Häuser helfen, weil das keine Nothilfe mehr gewesen wäre.
Die UN durfte kein Essen verteilen, weil die Lava in den Kivusee floss, an dessen Grund sich eine riesige Methanblase befindet. Sie wollte nicht noch mehr Menschen in eine Stadt locken, die jederzeit in die Luft gehen konnte. Und sie musste zudem mit einer Miliz zusammenarbeiten, die Goma besetzt hielt und vom verfeindeten Nachbarland Ruanda unterstützt wurde. Diese Rebellen plünderten nicht nur die Bewohner aus und quälten sie, sie mordeten auch nach Belieben. Und mit diesen Verbrechern arbeiteten jetzt die UN und all die anderen Helfer zusammen, weil sie für diese die einzige „Autorität“ waren. Kein Wunder, dass die Kongolesen vor Wut bebten.
Wohin mit den Spenden?
Es war auch nicht das erste Mal, dass ausländische Helfer den Zorn der Bewohner von Goma auf sich zogen. Schon 1994 kam es in der Stadt zu einem der größten Skandale, den Hilfsorganisationen je verursacht haben. In Ruanda waren in nur 100 Tagen 800 000 Tutsi und moderate Hutu ermordet worden, und nachdem der heutige Präsident Paul Kagame mit seiner Tutsi-Miliz den Genozid an seinem Volk beendet hatte, flüchteten Millionen Hutu-Mörder nach Goma und ließen sich in Flüchtlingslagern nieder.
Bald brachen Seuchen aus, und nun griff die Welt ein, die beim Völkermord im Nachbarland noch tatenlos zugesehen hatte. Sie half den Hutu in Goma, versorgte sie mit Zelten, Essen, Wasser, Medizin – und päppelte damit jene wieder auf, die für den Genozid verantwortlich waren. Mehr noch: Sie tolerierte, dass sich in den Flüchtlingslagern von Goma die Hutu-Milizen wieder formierten und bewaffneten, weil sie die Tutsi in Ruanda endgültig auslöschen wollten. Die Kongolesen, die unter den Flüchtlingen litten, bekamen von den Helfern nichts, und sie waren auch noch den Überfällen der Hutu ausgesetzt.
Die niederländische Journalistin Linda Polman bezeichnet die internationale Hilfe für die Hutu in Goma als „absolute ethnische Katastrophe“. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie 1995 als Reporterin in diese Stadt kam. Selten hat man eine so klare und präzise Schilderung dessen gelesen, was dort stattfand.
Die Hutu-Milizen hatten längst die Kontrolle über die Flüchtlingslager. Und die Hilfsorganisationen gaben ihnen alles, was sie wollten, standen sie doch untereinander so im Konkurrenzkampf, dass sie sich auf alle Bedingungen der Hutu einließen. Die Helfer mussten ja ihre Spenden loswerden und für möglichst dramatische Fernsehbilder sorgen, damit ihnen die Menschen in der Heimat noch mehr Geld gaben. Denn nur auf Grund dieser Spenden existieren sie ja. Anders ausgedrückt: Sie betrieben Milizenhilfe aus Selbsterhaltungstrieb.
Goma war der GAU der internationalen Hilfsorganisationen. Und das Tragische ist, dass niemand etwas daraus gelernt hat. Polman, die seit Jahrzehnten als freie Journalistin über internationale Hilfseinsätze schreibt und die auch als UN-Korrespondentin in Somalia, Haiti, Ruanda und Sierra Leone war, schildert eindringlich und detailliert, wie die internationale Hilfe funktioniert, und warum fast keiner der Helfer seinen Einsatz je in Frage stellt – auch wenn in Kriegsgebieten vor allem Warlords und Milizen von den Essenslieferungen und Spenden profitieren.
Helfer im Hochsicherheitstrakt
Schon im Vorwort zitiert Polman einen für den UN-Sicherheitsrat verfassten Untersuchungsbericht, der belegt, dass bis 2010 ungefähr die Hälfte aller Hilfe des UN-Welternährungsprogramms für Somalia in den Taschen der Warlords gelandet ist. Das sind mehr als 220 Millionen US-Dollar pro Jahr. Damit lässt sich schön Krieg führen – was neues Leid bringt und somit mehr Lebensmittelhilfe.
Nun gibt es viele Bücher, auch aus Afrika, die seit langem dafür plädieren, die internationale Hilfe für diesen Kontinent auszusetzen – weil sie das Elend nicht beseitigen kann, weil sie Kriege verlängert, weil sie lokale Märkte zerstört und notleidende Menschen in eine ewige Abhängigkeit von Almosen zwingt.
Polman aber schließt sich dieser Forderung nicht an. Sie beschreibt die Mechanismen und macht deutlich, dass der allergrößte Teil der Hilfe allein von der Struktur her zum Scheitern verurteilt ist. Die Hilfsorganisationen sollten sich deshalb viel kritischer mit ihrer Rolle auseinandersetzen – und sich viel mehr Fragen stellen, zum Beispiel: Muss man ein verhungerndes Kind retten, wenn die Hilfe dazu führt, dass vor allem Milizen, die für diese Not verantwortlich sind, gestärkt werden? Polman hat darauf eine klare Antwort und klagt die Hilfsorganisationen an: „Sie tragen die Reinheit ihrer Rot-Kreuz-Prinzipien – Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – wie ein Schild vor sich her und finden es selbstverständlich, dass die Prinzipien wichtiger sind als deren Konsequenzen.“
Wer jemals in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs war, wer miterlebt hat, mit welcher Selbstverständlichkeit lokale Herrscher Steuern und Abgaben von den Helfern verlangen, damit diese ihre Hilfe leisten dürfen, der weiß, dass Polman nicht die Ausnahmen beschreibt, sondern die Regel. Ihr Buch führt nach Ruanda, in den Kongo, nach Sierra Leone, aber auch nach Afghanistan, wo sich ausländische Helfer aus ihren Hochsicherheitstrakten nicht mehr heraustrauen und somit auch nicht kontrollieren können, was mit ihrem Geld und ihren Hilfsgütern geschieht.
Das Einzige, was man nach der Lektüre dieses spannenden Buchs bedauert, sind die Fehler, die im Lektorat nicht gefunden wurden. Zum Beispiel dauert der Völkermord in Ruanda bei Polman nur drei Wochen statt drei Monate. (In diesen drei Monaten mordeten die Hutu in Handarbeit übrigens effizienter als die Vernichtungsmaschinerie der Nazis.) Davon abgesehen, ist Polmans Buch ein Standardwerk für jeden, der sich für die Mechanismen internationaler Hilfseinsätze interessiert. MICHAEL BITALA
LINDA POLMAN: Die Mitleidsindustrie – Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 264 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Trotz reißerischer Titel (von Buch und Rezension) geht es Bei Linda Polman nüchtern zu, zumindest erweckt Reinhild Khan in ihrer Besprechung den Eindruck. Die niederländische Journalistin Linda Polman weist auf Fehlentwicklungen bei der Humanitären Hilfe hin, die mitunter dazu führten, dass nicht den Opfern, sondern den Tätern geholfen wird - wie den nach dem Völkermord an den Tutsi in den Kongo geflohenen Hutu (Löbliche Ausnahme: die Ärzte ohne Grenzen zogen sich aus den Flüchtlingscamps zurück). Oder dass die Hilfe bei Militärs oder Rebellen ankommt. Sehr wichtig findet Khan auch den Hinweis, dass die seit Henri Dunant postulierte politischen Neutralität von Hilfsorganisationen in Naivität umschlagen kann. Dass Polman keine Patentlösungen anbietet, geht für die Rezensentin in Ordnung, dafür sei das Problem zu komplex, aber Polmans Forderung nach mehr Transparenz und Rechenschaft kann Reinhild Khan nur unterschreiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Gut gemeint
"Spannend und ergreifend ... Wer dieses Buch gelesen hat, wird nie mehr ohne zweifelnde Hintergedanken Spendengeld auf eines der Konten überweisen, die nach Katastrophenberichten im Fernsehen eingeblendet werden." (Manager Magazin, 01.08.2010)
Widersprüche humanitären Handelns
"Spender vor den Kopf zu stoßen hat Polman mit ihrem Werk nicht im Sinn. Auch nicht, anzuregen, Menschen in Not ihrem Schicksal zu überlassen. Vielmehr ruft sie zu einer Debatte über die Verwendung von Hilfsgeldern auf, die längst fällig ist." (Kleine Zeitung, 19.09.2010)
Bunte Vögel im Käfig
"Ein schonungsloses Abrechnungswerk." (Der Spiegel, 20.09.2010)
Geld für die Warlords
"Polmans spannendes Buch ist ein Standardwerk für jeden, der sich für die Mechanismen internationaler Hilfseinsätze interessiert." (Süddeutsche Zeitung, 27.09.2010)
Wohin mit dem Geld?
"Polmans Einblicke in die Arbeit der Hilfsorganisationen, bisweilen desillusionierend, sind notwendig, um sich darüber zu informieren, wie man helfen kann, obwohl man weiß, was hinter den Kulissen vor sich geht." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.2010)
Kollaboration mit dem Elend
"Es braucht Journalisten wie Linda Polman, die sich nicht blenden lassen von Medienspektakeln und gigantischen Zahlen, sondern hartnäckig nachfragen, auch dann noch, wenn die Karawane längst weitergezogen ist. Wir, die Spender, müssen sie dabei mehr denn je unterstützen." (Frankfurter Rundschau, 21.10.2010)
Das Gute, das du heute tust
"Polmans Ergebnisse sollten gerade den so spendenfreudigen Deutschen zu denken geben." (Die Welt, 30.10.2010)
Mitleidsindustrie
"Eine bemerkenswerte Diskussionsgrundlage über die Mechanismen humanitärer Hilfe in Krisenregionen." (Oberösterreichische Nachrichten, 12.11.2010)
Lesen!
"Die Autorin will verdeutlichen, dass Hilfe besser kontrolliert werden muss. Bleibt zu hoffen, dass ihr dies mit ihrem aufrüttelnden und auf positive Weise verstörenden Buch gelingt." (Welt am Sonntag, 12.12.2010)
"Spannend und ergreifend ... Wer dieses Buch gelesen hat, wird nie mehr ohne zweifelnde Hintergedanken Spendengeld auf eines der Konten überweisen, die nach Katastrophenberichten im Fernsehen eingeblendet werden." (Manager Magazin, 01.08.2010)
Widersprüche humanitären Handelns
"Spender vor den Kopf zu stoßen hat Polman mit ihrem Werk nicht im Sinn. Auch nicht, anzuregen, Menschen in Not ihrem Schicksal zu überlassen. Vielmehr ruft sie zu einer Debatte über die Verwendung von Hilfsgeldern auf, die längst fällig ist." (Kleine Zeitung, 19.09.2010)
Bunte Vögel im Käfig
"Ein schonungsloses Abrechnungswerk." (Der Spiegel, 20.09.2010)
Geld für die Warlords
"Polmans spannendes Buch ist ein Standardwerk für jeden, der sich für die Mechanismen internationaler Hilfseinsätze interessiert." (Süddeutsche Zeitung, 27.09.2010)
Wohin mit dem Geld?
"Polmans Einblicke in die Arbeit der Hilfsorganisationen, bisweilen desillusionierend, sind notwendig, um sich darüber zu informieren, wie man helfen kann, obwohl man weiß, was hinter den Kulissen vor sich geht." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.2010)
Kollaboration mit dem Elend
"Es braucht Journalisten wie Linda Polman, die sich nicht blenden lassen von Medienspektakeln und gigantischen Zahlen, sondern hartnäckig nachfragen, auch dann noch, wenn die Karawane längst weitergezogen ist. Wir, die Spender, müssen sie dabei mehr denn je unterstützen." (Frankfurter Rundschau, 21.10.2010)
Das Gute, das du heute tust
"Polmans Ergebnisse sollten gerade den so spendenfreudigen Deutschen zu denken geben." (Die Welt, 30.10.2010)
Mitleidsindustrie
"Eine bemerkenswerte Diskussionsgrundlage über die Mechanismen humanitärer Hilfe in Krisenregionen." (Oberösterreichische Nachrichten, 12.11.2010)
Lesen!
"Die Autorin will verdeutlichen, dass Hilfe besser kontrolliert werden muss. Bleibt zu hoffen, dass ihr dies mit ihrem aufrüttelnden und auf positive Weise verstörenden Buch gelingt." (Welt am Sonntag, 12.12.2010)