Was immer ein normales Leben auch sein mag - der 17-jährige Phil hat es nie kennengelernt. Denn so ungewöhnlich wie das alte Haus ist, in dem er lebt, so ungewöhnlich sind auch die Menschen, die dort ein- und ausgehen - seine chaotische Mutter Glass, seine verschlossene Zwillingsschwester Dianne und all die anderen. Und dann ist da noch Nicholas, der Unerreichbare, in den Phil sich unsterblich verliebt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2006 Band 24
Rätselhafte Melancholie
Andreas Steinhöfel: „Die Mitte der Welt”
Wenn ich ein Buch lese, ist es eigentlich weniger ein Lesen als ein Hören, besser gesagt, ein Hineinhören in einen Roman. Ich stelle mir die Stimmung, den Klang, den Sound vor. Ich will wissen, wohin die Reise geht. Ist der Text Dur oder Moll, wechseln die Rhythmen, swingt es, gibt es eine Leitmelodie? In Andreas Steinhöfels „Die Mitte der Welt” fasziniert von Anfang an ein geheimnisvolles Moll-Thema, eine rätselhafte und doch verführerische Melancholie.
Der vaterlose Phil ist der Ich-Erzähler. Er sucht seine Identität in einer chaotischen Familiengeschichte, in deren Verlauf er etwa 17 Jahre alt sein wird. Von Beginn an stellen sich dem Leser Fragen. Wer ist diese junge hochschwangere Frau, die mit einem Schiff von Amerika nach Deutschland will und nicht, wie in der üblichen Emigrationsgeschichte, von der Alten in die Neue Welt? Was will dieses junge Mädchen mit dem merkwürdigen Namen „Glass” in einer kleinen Stadt irgendwo in Deutschland? Wir werden die Beweggründe nie genau erfahren. Jedenfalls will Glass zu ihrer Schwester Stella, die dort ein Haus besitzt, das auf den Namen „Visible” (Sichtbar) getauft wurde. Merkwürdig, denn es ist wie eine Festung, eine dunkle alte Villa, ein verfallenes Anwesen am Rande der Stadt, das auf der anderen Seite des Flusses liegt. Visible passt so wenig in dieses provinzielle Städtchen wie unsere späteren Helden (sind es wirklich Helden?), die immer nur die Zugereisten, die Fremden bleiben. Glass wird ihre Schwester nie antreffen. Sie wird kurz nach der Ankunft Diane und Phil gebären. Diese Zwillingsgeschwister sind so unterschiedlich, dass sie sich emotional verlieren und erst am Ende der Geschichte wieder zueinander finden.
„Die Mitte der Welt” ist ein Initiationsroman, eine traurig-schöne Liebes- und Familiengeschichte, ein Coming-Out- Abenteuer. Phil ist auf der Suche nach seinem Vater, nach Liebe, Sicherheit und nach seiner Sexualität. Mit Phils Augen erfahren wir etwas über diese merkwürdigen Charaktere und ihr Leben als Außenseiter. Über die Mutter Glass, die nie den Namen des Vaters der Zwillingsgeschwister verraten wird, und dennoch Buch führt über ihre Liebhaber, die so rasch verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Wir hören von Nicholas, einem fremden Jungen, in den Phil sich heillos verlieben wird, über Kat, Phils Freundin, über Gable, den Abenteurer, Seefahrer und Freund. Immer ist die Liebe des Autors zu seinen Romanfiguren spürbar.
Steinhöfel zieht mit seinen wunderbar leichten, zarten und poetischen Beschreibungen den Leser immer tiefer in das Leben in und um Visible herum hinein. Er schildert das Erwachsenwerden als ein aufregendes Abenteuer, er lässt uns durch die Augen seines Protagonisten an der Suche nach dem Glück, der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Hunger nach Liebe teilnehmen. Phil wird in die Heimat seiner Mutter zurückkehren. Ob er seinen verschollen geglaubten Vater finden wird, erfahren wir nicht, aber wir träumen weiter und hoffen auf eine Fortsetzung dieses Märchens, wir wollen mehr hören von dieser Ballade „in a mellow Tone”.
RUFUS BECK
Träume
Illustration: Eberhard Wolf
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Rätselhafte Melancholie
Andreas Steinhöfel: „Die Mitte der Welt”
Wenn ich ein Buch lese, ist es eigentlich weniger ein Lesen als ein Hören, besser gesagt, ein Hineinhören in einen Roman. Ich stelle mir die Stimmung, den Klang, den Sound vor. Ich will wissen, wohin die Reise geht. Ist der Text Dur oder Moll, wechseln die Rhythmen, swingt es, gibt es eine Leitmelodie? In Andreas Steinhöfels „Die Mitte der Welt” fasziniert von Anfang an ein geheimnisvolles Moll-Thema, eine rätselhafte und doch verführerische Melancholie.
Der vaterlose Phil ist der Ich-Erzähler. Er sucht seine Identität in einer chaotischen Familiengeschichte, in deren Verlauf er etwa 17 Jahre alt sein wird. Von Beginn an stellen sich dem Leser Fragen. Wer ist diese junge hochschwangere Frau, die mit einem Schiff von Amerika nach Deutschland will und nicht, wie in der üblichen Emigrationsgeschichte, von der Alten in die Neue Welt? Was will dieses junge Mädchen mit dem merkwürdigen Namen „Glass” in einer kleinen Stadt irgendwo in Deutschland? Wir werden die Beweggründe nie genau erfahren. Jedenfalls will Glass zu ihrer Schwester Stella, die dort ein Haus besitzt, das auf den Namen „Visible” (Sichtbar) getauft wurde. Merkwürdig, denn es ist wie eine Festung, eine dunkle alte Villa, ein verfallenes Anwesen am Rande der Stadt, das auf der anderen Seite des Flusses liegt. Visible passt so wenig in dieses provinzielle Städtchen wie unsere späteren Helden (sind es wirklich Helden?), die immer nur die Zugereisten, die Fremden bleiben. Glass wird ihre Schwester nie antreffen. Sie wird kurz nach der Ankunft Diane und Phil gebären. Diese Zwillingsgeschwister sind so unterschiedlich, dass sie sich emotional verlieren und erst am Ende der Geschichte wieder zueinander finden.
„Die Mitte der Welt” ist ein Initiationsroman, eine traurig-schöne Liebes- und Familiengeschichte, ein Coming-Out- Abenteuer. Phil ist auf der Suche nach seinem Vater, nach Liebe, Sicherheit und nach seiner Sexualität. Mit Phils Augen erfahren wir etwas über diese merkwürdigen Charaktere und ihr Leben als Außenseiter. Über die Mutter Glass, die nie den Namen des Vaters der Zwillingsgeschwister verraten wird, und dennoch Buch führt über ihre Liebhaber, die so rasch verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Wir hören von Nicholas, einem fremden Jungen, in den Phil sich heillos verlieben wird, über Kat, Phils Freundin, über Gable, den Abenteurer, Seefahrer und Freund. Immer ist die Liebe des Autors zu seinen Romanfiguren spürbar.
Steinhöfel zieht mit seinen wunderbar leichten, zarten und poetischen Beschreibungen den Leser immer tiefer in das Leben in und um Visible herum hinein. Er schildert das Erwachsenwerden als ein aufregendes Abenteuer, er lässt uns durch die Augen seines Protagonisten an der Suche nach dem Glück, der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Hunger nach Liebe teilnehmen. Phil wird in die Heimat seiner Mutter zurückkehren. Ob er seinen verschollen geglaubten Vater finden wird, erfahren wir nicht, aber wir träumen weiter und hoffen auf eine Fortsetzung dieses Märchens, wir wollen mehr hören von dieser Ballade „in a mellow Tone”.
RUFUS BECK
Träume
Illustration: Eberhard Wolf
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»Ein grandioser Entwicklungs- und Familienroman von großer literarischer Komplexität und Innerlichkeit.« Tagesspiegel