Der orthodoxe Begriff der Moderne, den sich Städtebau, Architektur und Design der Nachkriegszeit von den Entwicklungen der 20er Jahre vorgeben ließen, ist seit langem in eine Krise geraten. Daß die Dogmatik der funktionalistischen Avantgarden zu Recht kritisiert wurde, stellt der Architekturtheoretiker und -historiker Lampugnani nicht in Abrede. Doch ebenso offensichtlich ist für ihn, daß die postmoderne Architektur- und Designwelt keine überzeugende Alternative ist. Was sie verabschiedet, ist ein humaner und sozialer Anspruch in der Gestaltung von Gebrauchsdingen, Stadt- und Wohnformen. Genau dieser Anspruch aber ist nicht bloß deshalb aufzugeben, weil ihn die klassische Moderne höchst einseitig verstand. Was es deshalb braucht, ist ein Überdenken der gesellschaftlichen, technischen, funktionalen und ästhetischen Zwecke jedes Gestaltens: eines Gestaltens, das Stil nicht von optimaler Gebrauchsfähigkeit trennt und einer "Ästhetik der Festigkeit, der Dauer, der Nüchternheit" gehorcht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Edler bauen
Vittorio Lampugnanis Neue Einfachheit / Von Wolfgang Pehnt
Sie hatte etwas ungemein Beruhigendes, die von Vittorio Magnago Lampugnani angestiftete Diskussion um die Neue Einfachheit. In ihr ging es nicht um landesplanerische Fehlentscheidungen, die Deurbanisierung der Städte oder den Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Vielmehr stand die alte Lieblingsfrage, die Frage des neunzehnten Jahrhunderts, wieder auf der Agenda: In welchem Stil sollen wir bauen? Daß es Kontrahenten gab, die dem Autor und den von ihm verteidigten Architekten die Bildung eines Machtkartells im Kampf um Berliner Aufträge vorwarfen, wirkte als schnöde Spielverderberei im schönen Stilspiel; und auch ein bißchen als persönliche Rancune. Denn natürlich lassen sich auch mit Postmoderne, Dekonstruktivismus oder Zweiter Moderne Geschäfte machen.
Vor kurzem hatte Lampugnani angekündigt, sich aus der Diskussion verabschieden zu wollen. Eine Debatte, die keine sei, weil sie nicht auf intellektuelle Erkenntnis ziele, müsse ohne ihn auskommen, hatte er erklärt. Nun aber, wenige Monate nach dem vermeintlichen Abschluß der Diskussion, meldet sich der ehemalige Direktor des Frankfurter Architekturmuseums und jetzige Zürcher Professor für Städtebaugeschichte abermals zu Wort. Aus den drei, vier Aufsätzen von jeweils wenigen Druckseiten ist ein Traktat von stattlicher Länge geworden.
Mit Nachdruck besteht Vittorio Magnago Lampugnani darauf, sein Ordnungsruf möge nicht als Verkündung eines neuen Stils verstanden werden. Offenkundig hat er einen Metastil im Sinn, eine Entwurfshaltung, eine stabile Formenkonvention, die sich aus der rechten Erfüllung natürlicher Bedürfnisse und aus den Anstandsregeln fachgerechten Bauens sozusagen von selbst ergebe. Aber daß Formfragen zu Stilfragen mutierten, ist nicht wieder rückgängig zu machen. Wo Gestaltung zum Design von Benutzeroberflächen geworden ist, macht auch der aufgeklebte oder aufgeschraubte Fassadengranit oder der standfeste Naturholztisch nicht aus einem Produkt der "Spektakelkultur" ein Bekenntnis zu Wahrheit, Stille und Konzentration. Auch vorgetäuschte Mauerschwere ist "Inszenierungsästhetik", nur mit anderen Mitteln.
Zu Recht reibt sich Lampugnani an einer Vielzahl von zeitgenössischen Untugenden. Sein Plädoyer für die Langlebigkeit der Güter, für ihre Reparaturfähigkeit und Wiederverwendbarkeit berührt sympathisch. Kein vernünftig Denkender wird Einwände gegen einen schonenden Gebrauch des Vorhandenen haben. Auch einem differenzierenden Regionalismus, der die Dichte und Fülle des alten Europas erhalten möchte, wird man nicht die Zustimmung versagen. Nur sollte sich niemand der Illusion hingeben, Regionalismus sei überall und vorbehaltlos anwendbar. Denn die internationale Vernetzung ist ein Faktum, hinter das die Entwicklung nicht zurückgehen kann.
Irritierend ist Vittorio Magnago Lampugnanis unbedingtes Vertrauen ins Handwerk. Da war Heinrich Tessenow, das große Vorbild Lampugnanis, skeptischer: Widerstrebend schätzte er die technischen Formen, da "wir mit der Maschine weitgehend im gleichen Wollen stehen". Statt von "Handwerk" sprach Tessenow oft von "Gewerbe", so sehr schienen ihm die technischen Hilfsmittel bereits in die handwerkliche Produktion eingedrungen. Hatte nicht schon Gottfried Semper im tiefsten neunzehnten Jahrhundert beklagt, daß man neuerdings Granit wie Käse schneiden könne?
Und was bedeutet jenseits der Kleinaufträge in der Schattenwirtschaft und der seltenen Luxusstücke Handwerk heute? Die etwas kleinere Serie. Im übrigen scheint auch Lampugnani, wenn er von "Handwerksdesign" spricht, nicht die schweißtreibende Arbeit mit Maurerkelle und Hobel, Senkblei und Lötkolben im Sinne zu haben. Vielleicht ist nur die Handarbeit zeichnerischen Entwerfens gemeint und also der Architekt der letzte Handwerker? Doch in anderen Passagen artikuliert der Autor wie ein Maschinenstürmer des frühen Industriezeitalters seinen Abscheu, das tägliche Leben mit Maschinen teilen zu müssen. Mit poetischer Melancholie malt Lampugnani eine Fluchtutopie aus, die nicht die zeitgenössische Pluralität der Lebensentwürfe zur Kenntnis nimmt. Entsprechend trägt auch der Text Edelpatina. Stellenweise liest er sich wie die lapidaren und liebenswürdigen Baufibeln Tessenows. Manchmal erinnert er sogar an die pädagogisch-enzyklopädischen Essays des achtzehnten Jahrhunderts: "Sie erstaunen mich, mein Herr, höre ich sagen." An der aparten Formulierung mag der Übersetzer nicht unschuldig sein. Denn der mehrsprachige Autor und Herausgeber der Mailänder Architekturzeitschrift "Domus" hat diesmal nicht in deutscher, sondern in italienischer Sprache geschrieben.
Mehrfach zitiert Lampugnani den Wiener Architekten Adolf Loos. Der Verteidiger des englischen Maßanzuges und des gediegenen Schuhwerks führte mit seiner Parabel vom "armen reichen Mann" eine geistreiche Attacke gegen das stilgerecht detaillierte Interieur, wie es Loos' Zeitgenossen Henry van de Velde oder sein Intimfeind Josef Hoffmann entwarfen. Auch der "reiche Mann" hatte sich von seinem Architekten eine vollkommen "komponierte" Einrichtung erschaffen lassen, jeder Raum eine abgeschlossene Farbensymphonie. Das Wohn-Gesamtkunstwerk duldete keine Ergänzung, keine Störung. Nicht einmal die bestickten Pantoffeln seines Auftraggebers tolerierte der Architekt in Loos' Erzählung.
Für die Askese, die Loos verfocht (und durch die Schönheit des Materials und die Qualität seiner Verarbeitung konterkarierte), setzt sich auch Lampugnani ein, weil er von ihr die Freiheit des Gebrauchs erhofft. Aber es ist nicht die Freiheit des Zwanglosen, Legeren, Improvisierten, Offenen, Toleranten, die ja auch eine Spielart des Einfachen sein könnte. Strenge, Reinheit, Reduktion, Disziplin, kristalline Klarheit sind zwingend vorgeschrieben und werden sogar mit Nietzsche-Pathos verteidigt: gegen den Kleinbürger, für den neuen Menschen, der die Perfektion liebt. Da hat der "arme reiche Mann" mit seinen bestickten Pantoffeln wieder keine Chance.
Vittorio Magnago Lampugnani: "Die Modernität des Dauerhaften". Essays zu Stadt, Architektur und Design. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. 102 S., br., 29,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vittorio Lampugnanis Neue Einfachheit / Von Wolfgang Pehnt
Sie hatte etwas ungemein Beruhigendes, die von Vittorio Magnago Lampugnani angestiftete Diskussion um die Neue Einfachheit. In ihr ging es nicht um landesplanerische Fehlentscheidungen, die Deurbanisierung der Städte oder den Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Vielmehr stand die alte Lieblingsfrage, die Frage des neunzehnten Jahrhunderts, wieder auf der Agenda: In welchem Stil sollen wir bauen? Daß es Kontrahenten gab, die dem Autor und den von ihm verteidigten Architekten die Bildung eines Machtkartells im Kampf um Berliner Aufträge vorwarfen, wirkte als schnöde Spielverderberei im schönen Stilspiel; und auch ein bißchen als persönliche Rancune. Denn natürlich lassen sich auch mit Postmoderne, Dekonstruktivismus oder Zweiter Moderne Geschäfte machen.
Vor kurzem hatte Lampugnani angekündigt, sich aus der Diskussion verabschieden zu wollen. Eine Debatte, die keine sei, weil sie nicht auf intellektuelle Erkenntnis ziele, müsse ohne ihn auskommen, hatte er erklärt. Nun aber, wenige Monate nach dem vermeintlichen Abschluß der Diskussion, meldet sich der ehemalige Direktor des Frankfurter Architekturmuseums und jetzige Zürcher Professor für Städtebaugeschichte abermals zu Wort. Aus den drei, vier Aufsätzen von jeweils wenigen Druckseiten ist ein Traktat von stattlicher Länge geworden.
Mit Nachdruck besteht Vittorio Magnago Lampugnani darauf, sein Ordnungsruf möge nicht als Verkündung eines neuen Stils verstanden werden. Offenkundig hat er einen Metastil im Sinn, eine Entwurfshaltung, eine stabile Formenkonvention, die sich aus der rechten Erfüllung natürlicher Bedürfnisse und aus den Anstandsregeln fachgerechten Bauens sozusagen von selbst ergebe. Aber daß Formfragen zu Stilfragen mutierten, ist nicht wieder rückgängig zu machen. Wo Gestaltung zum Design von Benutzeroberflächen geworden ist, macht auch der aufgeklebte oder aufgeschraubte Fassadengranit oder der standfeste Naturholztisch nicht aus einem Produkt der "Spektakelkultur" ein Bekenntnis zu Wahrheit, Stille und Konzentration. Auch vorgetäuschte Mauerschwere ist "Inszenierungsästhetik", nur mit anderen Mitteln.
Zu Recht reibt sich Lampugnani an einer Vielzahl von zeitgenössischen Untugenden. Sein Plädoyer für die Langlebigkeit der Güter, für ihre Reparaturfähigkeit und Wiederverwendbarkeit berührt sympathisch. Kein vernünftig Denkender wird Einwände gegen einen schonenden Gebrauch des Vorhandenen haben. Auch einem differenzierenden Regionalismus, der die Dichte und Fülle des alten Europas erhalten möchte, wird man nicht die Zustimmung versagen. Nur sollte sich niemand der Illusion hingeben, Regionalismus sei überall und vorbehaltlos anwendbar. Denn die internationale Vernetzung ist ein Faktum, hinter das die Entwicklung nicht zurückgehen kann.
Irritierend ist Vittorio Magnago Lampugnanis unbedingtes Vertrauen ins Handwerk. Da war Heinrich Tessenow, das große Vorbild Lampugnanis, skeptischer: Widerstrebend schätzte er die technischen Formen, da "wir mit der Maschine weitgehend im gleichen Wollen stehen". Statt von "Handwerk" sprach Tessenow oft von "Gewerbe", so sehr schienen ihm die technischen Hilfsmittel bereits in die handwerkliche Produktion eingedrungen. Hatte nicht schon Gottfried Semper im tiefsten neunzehnten Jahrhundert beklagt, daß man neuerdings Granit wie Käse schneiden könne?
Und was bedeutet jenseits der Kleinaufträge in der Schattenwirtschaft und der seltenen Luxusstücke Handwerk heute? Die etwas kleinere Serie. Im übrigen scheint auch Lampugnani, wenn er von "Handwerksdesign" spricht, nicht die schweißtreibende Arbeit mit Maurerkelle und Hobel, Senkblei und Lötkolben im Sinne zu haben. Vielleicht ist nur die Handarbeit zeichnerischen Entwerfens gemeint und also der Architekt der letzte Handwerker? Doch in anderen Passagen artikuliert der Autor wie ein Maschinenstürmer des frühen Industriezeitalters seinen Abscheu, das tägliche Leben mit Maschinen teilen zu müssen. Mit poetischer Melancholie malt Lampugnani eine Fluchtutopie aus, die nicht die zeitgenössische Pluralität der Lebensentwürfe zur Kenntnis nimmt. Entsprechend trägt auch der Text Edelpatina. Stellenweise liest er sich wie die lapidaren und liebenswürdigen Baufibeln Tessenows. Manchmal erinnert er sogar an die pädagogisch-enzyklopädischen Essays des achtzehnten Jahrhunderts: "Sie erstaunen mich, mein Herr, höre ich sagen." An der aparten Formulierung mag der Übersetzer nicht unschuldig sein. Denn der mehrsprachige Autor und Herausgeber der Mailänder Architekturzeitschrift "Domus" hat diesmal nicht in deutscher, sondern in italienischer Sprache geschrieben.
Mehrfach zitiert Lampugnani den Wiener Architekten Adolf Loos. Der Verteidiger des englischen Maßanzuges und des gediegenen Schuhwerks führte mit seiner Parabel vom "armen reichen Mann" eine geistreiche Attacke gegen das stilgerecht detaillierte Interieur, wie es Loos' Zeitgenossen Henry van de Velde oder sein Intimfeind Josef Hoffmann entwarfen. Auch der "reiche Mann" hatte sich von seinem Architekten eine vollkommen "komponierte" Einrichtung erschaffen lassen, jeder Raum eine abgeschlossene Farbensymphonie. Das Wohn-Gesamtkunstwerk duldete keine Ergänzung, keine Störung. Nicht einmal die bestickten Pantoffeln seines Auftraggebers tolerierte der Architekt in Loos' Erzählung.
Für die Askese, die Loos verfocht (und durch die Schönheit des Materials und die Qualität seiner Verarbeitung konterkarierte), setzt sich auch Lampugnani ein, weil er von ihr die Freiheit des Gebrauchs erhofft. Aber es ist nicht die Freiheit des Zwanglosen, Legeren, Improvisierten, Offenen, Toleranten, die ja auch eine Spielart des Einfachen sein könnte. Strenge, Reinheit, Reduktion, Disziplin, kristalline Klarheit sind zwingend vorgeschrieben und werden sogar mit Nietzsche-Pathos verteidigt: gegen den Kleinbürger, für den neuen Menschen, der die Perfektion liebt. Da hat der "arme reiche Mann" mit seinen bestickten Pantoffeln wieder keine Chance.
Vittorio Magnago Lampugnani: "Die Modernität des Dauerhaften". Essays zu Stadt, Architektur und Design. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. 102 S., br., 29,- DM.
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