Normen, so könnte man meinen, verlangen stets bestimmte Handlungen oder Unterlassungen und erfordern eine moralische Rechtfertigung. Christoph Möllers bestreitet das und behauptet, dass unser Umgang mit Normen an falschen Erwartungen leidet. Wir überfordern die Praxis des Normativen mit moralischen Ansprüchen und mit Hoffnungen auf Wirksamkeit. In seinem vieldiskutierten Buch entwickelt Möllers eine neue Sicht auf Normen und zeigt, welchem Zweck sie wirklich dienen. Darüber hinaus befasst er sich im neuen Nachwort zu dieser Ausgabe mit kritischen Einwänden gegen seine Theorie.
» ... ein hinreißendes Buch.« Rainer Forst DIE ZEIT 20160114
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Welches ist der Berufsstand, dessen Lieblingssujet Normen sind? Richtig, Juristen! Aber Rezensent Rainer Forst, obwohl Politologe und Philosoph, liebt dieses Sujet auch sehr, und als Leser seiner Kritik hat man den Eindruck: Hier sind zwei unter sich, und man sollte sie besser nicht stören. Als einen Romantiker feiert Forst Christoph Möllers, und dies - soweit man folgen kann - weil er Normen als Markierung von Möglichkeiten sieht, und keineswegs als ein Instrument das Handlungsmöglichkeiten verschließt. Diese "dunkle Seite der Normen", so wiederholt Forst mehrfach in seiner Kritik komme bei Möllers zu kurz. Er kann ihm darum den Vorwurf eines gewissen Reduktionismus nicht ersparen. Aber so sei es mit der Romantik, sie sei eben zu überschwänglich. Hinreißend!
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2015Mehr Möglichkeitssinn
Jenseits von Sollen und Müssen: Christoph Möllers zeigt in
einer grandiosen Studie, warum und wie Normen Spielräume eröffnen
VON MARTIN BAUER
Keine Biologin braucht eine Norm, um zu erklären, warum sich Pflanzen ins Licht der Sonne drehen. Da wirken Naturgesetze, wie sie die Pflanzenphysiologie entdeckt hat. Anders verhält sich die Sache, soll verständlich werden, dass Lebensformen existieren, in denen Männer Frauen den Vortritt beim Betreten eines Aufzugs lassen, Kinder mit Sanktionen rechnen müssen, falls sie ihre Eltern belügen und der Gebrauch eines Fahrrads unter Umständen strafrechtlich geahndet wird, sind Nutzer und Eigentümer des Verkehrsgerätes nicht dieselbe Person. Offenbar lassen sich gewisse Handlungsweisen nur richtig beschreiben und verstehen, wenn normative Vereinbarungen ins Spiel kommen. Innerhalb der Gattung dieser Regeln sind verschiedene Arten erkennbar. Benimmregeln sind etwas anderes als moralische Gebote, solche Gebote wieder etwas anderes als Gesetze. Was aber macht bei allen Unterschieden den normativen Charakter derjenigen Vorschriften, Standards, Wertungen und Identitäten aus, ohne die Sozialität undenkbar ist?
Diese Fragestellung greift Christoph Möllers, der an der Humboldt Universität Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie lehrt, in seinem jüngsten Buch auf. Schon der erste Satz setzt den Ton und beleuchtet den Zugriff: „Wir wissen von Normen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen.“ Möllers geht es um den Entwurf einer Wirklichkeitswissenschaft normativer Praktiken. Dem Erklärungswert von Großtheorien, seien sie im Umkreis von Jürgen Habermas oder in Griffnähe zum Zettelkasten von Niklas Luhmann konzipiert, misstraut er zutiefst. Also müssen Sichtweisen wissenschaftlicher Normbeobachtung, die zumal in intellektuellen Milieus der Bundesrepublik gut eingespielt sind, verändert, wenn nicht abgeräumt werden. Im Fokus steht deshalb nicht mehr die Legitimation von Normen oder Verfahren, sondern eine gründliche Inspektion derjenigen Praktiken, in denen soziale Normen wirksam sind.
Mit Sorgfalt, Augenmaß und Scharfsinn zeigt Möllers, wie vielfältig, komplex und hybrid die normativen Praktiken einer Gesellschaft sind. Seine Sondierungen ermitteln, wie soziale Normen in der Praxis operieren, wie es um ihre Erkennbarkeit steht, wie ihre Autorisierung von statten geht, was geschehen muss, um sie situativ durchzusetzen, was die Formalisierung von Normen verlangt und welche Unkosten dabei anfallen. Sie beeindrucken sowohl durch die Weite des Blicks als auch durch die Feinkörnigkeit der analytischen Erträge. Möllers steuert nichts Bescheideneres als eine Komparatistik an, „die nicht nur französische und spanische Romane oder kanadische und südafrikanische Verfassungen miteinander vergleicht, sondern französische Romantheorie mit deutscher Rechtstheorie, roman expérimental mit naturalistischer Kriminologie oder die protestantische Gnadenlehre mit der Genieästhetik“.
Was sich abzeichnet, ist eine allgemeine und vergleichende Normwissenschaft, die dezidiert empirisch verfährt. Ob eines Tages eine überzeugende Theorie vorliegen wird, der eine systematische Vereinheitlichung des faktischen Pluralismus normativer Praktiken gelingt, hält Möllers für eine offene Frage. In der Zwischenzeit favorisiert er den Habitus eines normwissenschaftlichen Antifundamentalismus: lieber Wissen nüchtern sichern, als die Energie ganzer Exzellenzcluster in zu hoch gesteckte Ziele investieren.
Möllers Befunde gestatten ihm, Idealisierungen zu korrigieren, zu denen insbesondere die sozialphilosophische Reflexion auf normative Ordnungen tendiert. Ihn stört unter anderem die eklatante Machtvergessenheit der Theorien, die Vernunft und Normativität zusammendenken. Gleichzeitig geraten Reduktionismen in den Blick, derer sich sozialwissenschaftliche Untersuchungen normativer Praxis schuldig machen. Auf dem Bildschirm der Soziologie tauchen Normen als gesellschaftlich vermittelte „Erwartungen“ auf, die menschliches Verhalten steuern. So werden Normen zu Handlungs- und Kommunikationsregeln, denen die Akteure auf den verschiedenen Feldern ihrer Interaktionen folgen müssen. Die Gesellschaftsbeobachtung nimmt Normen mithin als Kausalfaktoren in Anspruch, um die Integration ganzer Gesellschaften, die Existenz bestimmter Institutionen, die Logik politischer Systeme oder das Handlungsrepertoire einer sozialen Rolle zu erklären.
Demgegenüber konzentriert sich die praktische Philosophie auf das moralische Sollen. Für sie werden Normen nicht als „Ursachen“, sondern als „Gründe“ von Handlungen zum Thema. Weil Menschen zur Überlegung fähig sind, können sie ihr Handeln aus vernünftiger Einsicht bestimmen. Würden sich möglichst viele an derartige Einsichten halten, wäre Kooperation weniger konfliktbehaftet. Außerdem könnte man sich bei Streitfällen auf die im Lichte der Vernunft besseren Gründe einigen.
Zwar wird in diesem Bild der normativen Praxis der gewichtige Unterschied zwischen einer handlungsmotivierenden Norm und einer handlungsdeterminierenden Ursache anerkannt. Doch handelt sich die Philosophie mit ihrer Wertschätzung der Autonomie sozialer Akteure ein „normativistisches“ Verständnis von deren Tun und Treiben ein. Sie fertigt Beschreibungen normativer Verhältnisse an, deren prospektive Rationalität unterstellt und für gut geheißen wird. Unter dieser Perspektive kann normative Unordnung oder die Verletzung normativer Standards eigentlich nur aus einem Mangel an Vernünftigkeit hervorgehen. Entweder ist der individuelle Geist zu schwach oder eine Weltvernunft in universaler Geltung, deren umfassende Verwirklichung historisch leider noch aussteht. Logisch, dass die Mächte der Unvernunft dann vor den Richterstuhl der Rationalität zu zitieren sind.
Möllers will den Philosophen wie den Soziologen in die Suppe spucken. Sein Buch streitet für ein „nicht-normativistisches Verständnis“ von Normen. Bezweifelt wird, dass Vernunftmoral zum Inbegriff sozialer Normativität taugt. Damit ist der Stellenwert des „Raums der Gründe“ keineswegs abgewertet, sondern lediglich für gute Nachbarschaft gesorgt. Dass das Fressen vor der Moral kommt, würde Möllers nie behaupten. Allerdings mit sanftem Nachdruck in Erinnerung rufen, dass es neben der Moral einer Gemeinschaft auch noch die Vielfalt ihrer Tischsitten gibt. Ihm zufolge sollte man weder im Alltagsleben noch im akademischen Seminar davon ausgehen, die Vernunft liefere den Maßstab für jede normative Wirklichkeit. Man sollte aber auch nicht glauben, soziale Normen in ihrem gesamten Leistungsspektrum erfasst zu haben, wenn sie als Ursachen der Bestandssicherung sozialer Systeme definiert sind. Aus beiden Einwänden zieht Möllers die entscheidende Konsequenz: Die Praxis, über die uns eine Wirklichkeitswissenschaft der Normativität Auskunft gibt, verortet der Untertitel seines Buches „jenseits von Moralität und Kausalität“.
Dem Umstand, dass sich das Areal normativer Praktiken weder durch Philosophien des vernünftigen Sollens noch durch Sozialtheorien des erwartbaren Müssens angemessen ausleuchten lässt, trägt Möllers mit seinem eigenen Definitionsvorschlag Rechnung. Die Normativität eines Standards, einer Regel, einer Konvention, einer Wertung besteht für ihn darin, dass jeweils „positiv markierte Möglichkeiten“ angezeigt werden; wobei „positiv markiert“ bedeutet, dass die aufgerufene Möglichkeit zugleich mitkommuniziert, sie sei realisierbar. Wer mit Fingern isst, könnte auch zu Messer und Gabel greifen, wer flunkert, auch die Wahrheit sagen. Möglichkeiten, deren etwaige Verwirklichung auszuschließen ist, wird alle normative Kraft abgesprochen.
Sofort leuchtet ein, dass etwas, das unmöglich ist, kein Gegenstand normativer Gebote sein kann. Sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben, lässt sich sinnvollerweise nicht von einem menschlichen Lebewesen fordern. Aber wie ist im unüberschaubaren Reich der Possibilitäten trennscharf zwischen jenen Möglichkeiten zu unterscheiden, die sich „positiv markieren“ lassen und denen, die dazu ungeeignet sind? Und dieser Frage folgt die noch grundsätzlichere auf dem Fuß, in welchem Sinne realisierbare Möglichkeiten eigentlich zum Mobiliar der sozialen Welt gehören. Hier würde eine Leserin, die über Möllers Definition ins Grübeln gerät, gerne mehr erfahren.
Ein Vorzug der Definition ist, dass sie ein altes, vertracktes Problem besser in den Griff bekommt. Von der sogenannten Ohnmacht des Sollens ist die Rede. Im Alltag wie im Nachdenken nehmen wir Anstoß daran, dass Normen, die als verbindlich gelten, dennoch ständig verletzt werden. Begreift man Normen mit Möllers als „positiv markierte Möglichkeiten“, verschwindet das Phänomen nicht, doch lässt es sich anders gewichten. Der Akzent bei normativen Praktiken liegt nun nicht mehr auf der Erzwingung eines gewünschten Verhaltens, sondern darauf, die unterschiedlichen Gegenwarten menschlicher Praxis mit „Möglichkeitssinn“ auszustatten. Möllers arbeitet schlüssig heraus, dass Normen unser Handeln, Kommunizieren, Werten, Wahrnehmen und Erleben erweitern, nämlich mit Optionen versehen.
Die Pointe ist so plausibel wie eindeutig: Weit davon entfernt, in Normen primär repressive Maßnahmen zur Zivilisierung auszumachen, unterstreicht er ihre befreiende Kreativität. Sie erschließen Spielräume, brechen den Absolutismus der Wirklichkeit. Normen vollbringen „in der Wirklichkeit“ das paradoxe Kunststück, diese Wirklichkeit „auf Distanz zu bringen“. Insofern verschaffen sie uns als soziokulturelle Arrangements Luft zum Atmen.
Mit dieser Deutung entfaltet Möllers ein geradezu urliberales Motiv jener Anthropologie, die Hans Blumenberg vertreten hat. Für den Vorgang der Menschwerdung wie die anhaltende Notwendigkeit von Selbsterhaltung, so der Münsteraner Philosoph, sind unter Bedingungen, die eine notorisch überraschungsreiche, schwer berechenbare Realität aufnötigt, Distanznahmen unverzichtbar. Bevor es Wege gibt, also Ziele gesteckt und verfolgt werden können, müssen sich – überspitzt formuliert – Umwege angeboten haben. Der Einsicht Blumenbergs erweist Möllers seine Referenz, indem er mit schlagenden Argumenten dafür wirbt, soziale Normen letztlich aus ihrem Potenzial zu verstehen, die Immanenz gegebener gesellschaftlicher Zustände aufzusprengen.
Dieses Buch streitet für ein
„nicht-normativistisches
Verständnis“ von Normen
Normen erweitern unser
Handeln, Wahrnehmen,
Werten und Erleben
Christoph Möllers:
Die Möglichkeit der Normen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 461 Seiten, 34,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jenseits von Sollen und Müssen: Christoph Möllers zeigt in
einer grandiosen Studie, warum und wie Normen Spielräume eröffnen
VON MARTIN BAUER
Keine Biologin braucht eine Norm, um zu erklären, warum sich Pflanzen ins Licht der Sonne drehen. Da wirken Naturgesetze, wie sie die Pflanzenphysiologie entdeckt hat. Anders verhält sich die Sache, soll verständlich werden, dass Lebensformen existieren, in denen Männer Frauen den Vortritt beim Betreten eines Aufzugs lassen, Kinder mit Sanktionen rechnen müssen, falls sie ihre Eltern belügen und der Gebrauch eines Fahrrads unter Umständen strafrechtlich geahndet wird, sind Nutzer und Eigentümer des Verkehrsgerätes nicht dieselbe Person. Offenbar lassen sich gewisse Handlungsweisen nur richtig beschreiben und verstehen, wenn normative Vereinbarungen ins Spiel kommen. Innerhalb der Gattung dieser Regeln sind verschiedene Arten erkennbar. Benimmregeln sind etwas anderes als moralische Gebote, solche Gebote wieder etwas anderes als Gesetze. Was aber macht bei allen Unterschieden den normativen Charakter derjenigen Vorschriften, Standards, Wertungen und Identitäten aus, ohne die Sozialität undenkbar ist?
Diese Fragestellung greift Christoph Möllers, der an der Humboldt Universität Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie lehrt, in seinem jüngsten Buch auf. Schon der erste Satz setzt den Ton und beleuchtet den Zugriff: „Wir wissen von Normen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen.“ Möllers geht es um den Entwurf einer Wirklichkeitswissenschaft normativer Praktiken. Dem Erklärungswert von Großtheorien, seien sie im Umkreis von Jürgen Habermas oder in Griffnähe zum Zettelkasten von Niklas Luhmann konzipiert, misstraut er zutiefst. Also müssen Sichtweisen wissenschaftlicher Normbeobachtung, die zumal in intellektuellen Milieus der Bundesrepublik gut eingespielt sind, verändert, wenn nicht abgeräumt werden. Im Fokus steht deshalb nicht mehr die Legitimation von Normen oder Verfahren, sondern eine gründliche Inspektion derjenigen Praktiken, in denen soziale Normen wirksam sind.
Mit Sorgfalt, Augenmaß und Scharfsinn zeigt Möllers, wie vielfältig, komplex und hybrid die normativen Praktiken einer Gesellschaft sind. Seine Sondierungen ermitteln, wie soziale Normen in der Praxis operieren, wie es um ihre Erkennbarkeit steht, wie ihre Autorisierung von statten geht, was geschehen muss, um sie situativ durchzusetzen, was die Formalisierung von Normen verlangt und welche Unkosten dabei anfallen. Sie beeindrucken sowohl durch die Weite des Blicks als auch durch die Feinkörnigkeit der analytischen Erträge. Möllers steuert nichts Bescheideneres als eine Komparatistik an, „die nicht nur französische und spanische Romane oder kanadische und südafrikanische Verfassungen miteinander vergleicht, sondern französische Romantheorie mit deutscher Rechtstheorie, roman expérimental mit naturalistischer Kriminologie oder die protestantische Gnadenlehre mit der Genieästhetik“.
Was sich abzeichnet, ist eine allgemeine und vergleichende Normwissenschaft, die dezidiert empirisch verfährt. Ob eines Tages eine überzeugende Theorie vorliegen wird, der eine systematische Vereinheitlichung des faktischen Pluralismus normativer Praktiken gelingt, hält Möllers für eine offene Frage. In der Zwischenzeit favorisiert er den Habitus eines normwissenschaftlichen Antifundamentalismus: lieber Wissen nüchtern sichern, als die Energie ganzer Exzellenzcluster in zu hoch gesteckte Ziele investieren.
Möllers Befunde gestatten ihm, Idealisierungen zu korrigieren, zu denen insbesondere die sozialphilosophische Reflexion auf normative Ordnungen tendiert. Ihn stört unter anderem die eklatante Machtvergessenheit der Theorien, die Vernunft und Normativität zusammendenken. Gleichzeitig geraten Reduktionismen in den Blick, derer sich sozialwissenschaftliche Untersuchungen normativer Praxis schuldig machen. Auf dem Bildschirm der Soziologie tauchen Normen als gesellschaftlich vermittelte „Erwartungen“ auf, die menschliches Verhalten steuern. So werden Normen zu Handlungs- und Kommunikationsregeln, denen die Akteure auf den verschiedenen Feldern ihrer Interaktionen folgen müssen. Die Gesellschaftsbeobachtung nimmt Normen mithin als Kausalfaktoren in Anspruch, um die Integration ganzer Gesellschaften, die Existenz bestimmter Institutionen, die Logik politischer Systeme oder das Handlungsrepertoire einer sozialen Rolle zu erklären.
Demgegenüber konzentriert sich die praktische Philosophie auf das moralische Sollen. Für sie werden Normen nicht als „Ursachen“, sondern als „Gründe“ von Handlungen zum Thema. Weil Menschen zur Überlegung fähig sind, können sie ihr Handeln aus vernünftiger Einsicht bestimmen. Würden sich möglichst viele an derartige Einsichten halten, wäre Kooperation weniger konfliktbehaftet. Außerdem könnte man sich bei Streitfällen auf die im Lichte der Vernunft besseren Gründe einigen.
Zwar wird in diesem Bild der normativen Praxis der gewichtige Unterschied zwischen einer handlungsmotivierenden Norm und einer handlungsdeterminierenden Ursache anerkannt. Doch handelt sich die Philosophie mit ihrer Wertschätzung der Autonomie sozialer Akteure ein „normativistisches“ Verständnis von deren Tun und Treiben ein. Sie fertigt Beschreibungen normativer Verhältnisse an, deren prospektive Rationalität unterstellt und für gut geheißen wird. Unter dieser Perspektive kann normative Unordnung oder die Verletzung normativer Standards eigentlich nur aus einem Mangel an Vernünftigkeit hervorgehen. Entweder ist der individuelle Geist zu schwach oder eine Weltvernunft in universaler Geltung, deren umfassende Verwirklichung historisch leider noch aussteht. Logisch, dass die Mächte der Unvernunft dann vor den Richterstuhl der Rationalität zu zitieren sind.
Möllers will den Philosophen wie den Soziologen in die Suppe spucken. Sein Buch streitet für ein „nicht-normativistisches Verständnis“ von Normen. Bezweifelt wird, dass Vernunftmoral zum Inbegriff sozialer Normativität taugt. Damit ist der Stellenwert des „Raums der Gründe“ keineswegs abgewertet, sondern lediglich für gute Nachbarschaft gesorgt. Dass das Fressen vor der Moral kommt, würde Möllers nie behaupten. Allerdings mit sanftem Nachdruck in Erinnerung rufen, dass es neben der Moral einer Gemeinschaft auch noch die Vielfalt ihrer Tischsitten gibt. Ihm zufolge sollte man weder im Alltagsleben noch im akademischen Seminar davon ausgehen, die Vernunft liefere den Maßstab für jede normative Wirklichkeit. Man sollte aber auch nicht glauben, soziale Normen in ihrem gesamten Leistungsspektrum erfasst zu haben, wenn sie als Ursachen der Bestandssicherung sozialer Systeme definiert sind. Aus beiden Einwänden zieht Möllers die entscheidende Konsequenz: Die Praxis, über die uns eine Wirklichkeitswissenschaft der Normativität Auskunft gibt, verortet der Untertitel seines Buches „jenseits von Moralität und Kausalität“.
Dem Umstand, dass sich das Areal normativer Praktiken weder durch Philosophien des vernünftigen Sollens noch durch Sozialtheorien des erwartbaren Müssens angemessen ausleuchten lässt, trägt Möllers mit seinem eigenen Definitionsvorschlag Rechnung. Die Normativität eines Standards, einer Regel, einer Konvention, einer Wertung besteht für ihn darin, dass jeweils „positiv markierte Möglichkeiten“ angezeigt werden; wobei „positiv markiert“ bedeutet, dass die aufgerufene Möglichkeit zugleich mitkommuniziert, sie sei realisierbar. Wer mit Fingern isst, könnte auch zu Messer und Gabel greifen, wer flunkert, auch die Wahrheit sagen. Möglichkeiten, deren etwaige Verwirklichung auszuschließen ist, wird alle normative Kraft abgesprochen.
Sofort leuchtet ein, dass etwas, das unmöglich ist, kein Gegenstand normativer Gebote sein kann. Sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben, lässt sich sinnvollerweise nicht von einem menschlichen Lebewesen fordern. Aber wie ist im unüberschaubaren Reich der Possibilitäten trennscharf zwischen jenen Möglichkeiten zu unterscheiden, die sich „positiv markieren“ lassen und denen, die dazu ungeeignet sind? Und dieser Frage folgt die noch grundsätzlichere auf dem Fuß, in welchem Sinne realisierbare Möglichkeiten eigentlich zum Mobiliar der sozialen Welt gehören. Hier würde eine Leserin, die über Möllers Definition ins Grübeln gerät, gerne mehr erfahren.
Ein Vorzug der Definition ist, dass sie ein altes, vertracktes Problem besser in den Griff bekommt. Von der sogenannten Ohnmacht des Sollens ist die Rede. Im Alltag wie im Nachdenken nehmen wir Anstoß daran, dass Normen, die als verbindlich gelten, dennoch ständig verletzt werden. Begreift man Normen mit Möllers als „positiv markierte Möglichkeiten“, verschwindet das Phänomen nicht, doch lässt es sich anders gewichten. Der Akzent bei normativen Praktiken liegt nun nicht mehr auf der Erzwingung eines gewünschten Verhaltens, sondern darauf, die unterschiedlichen Gegenwarten menschlicher Praxis mit „Möglichkeitssinn“ auszustatten. Möllers arbeitet schlüssig heraus, dass Normen unser Handeln, Kommunizieren, Werten, Wahrnehmen und Erleben erweitern, nämlich mit Optionen versehen.
Die Pointe ist so plausibel wie eindeutig: Weit davon entfernt, in Normen primär repressive Maßnahmen zur Zivilisierung auszumachen, unterstreicht er ihre befreiende Kreativität. Sie erschließen Spielräume, brechen den Absolutismus der Wirklichkeit. Normen vollbringen „in der Wirklichkeit“ das paradoxe Kunststück, diese Wirklichkeit „auf Distanz zu bringen“. Insofern verschaffen sie uns als soziokulturelle Arrangements Luft zum Atmen.
Mit dieser Deutung entfaltet Möllers ein geradezu urliberales Motiv jener Anthropologie, die Hans Blumenberg vertreten hat. Für den Vorgang der Menschwerdung wie die anhaltende Notwendigkeit von Selbsterhaltung, so der Münsteraner Philosoph, sind unter Bedingungen, die eine notorisch überraschungsreiche, schwer berechenbare Realität aufnötigt, Distanznahmen unverzichtbar. Bevor es Wege gibt, also Ziele gesteckt und verfolgt werden können, müssen sich – überspitzt formuliert – Umwege angeboten haben. Der Einsicht Blumenbergs erweist Möllers seine Referenz, indem er mit schlagenden Argumenten dafür wirbt, soziale Normen letztlich aus ihrem Potenzial zu verstehen, die Immanenz gegebener gesellschaftlicher Zustände aufzusprengen.
Dieses Buch streitet für ein
„nicht-normativistisches
Verständnis“ von Normen
Normen erweitern unser
Handeln, Wahrnehmen,
Werten und Erleben
Christoph Möllers:
Die Möglichkeit der Normen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 461 Seiten, 34,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2015Demokratie lebt nicht vom großen Zusammenhalt
Opus magnum: Christoph Möllers, gerade mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, sondiert den Anspruch von Normen
Kant sah die Probleme der praktischen Philosophie noch in der Frage "Was soll ich tun?" zusammenlaufen. Der Kampf um ihre Beantwortung ist allerdings seit geraumer Zeit in der Tristesse des Stellungskriegs erstarrt. Die streitenden Parteien - Kantianer auf der einen, Konsequentialisten auf der anderen Seite, dazwischen noch einige versprengte Trupps von Aristotelikern und Hegelianern - haben sich im schweren Boden ihrer Gewissheiten eingegraben. Von Zeit zu Zeit überziehen sie den Gegner mit einem publizistischen Sperrfeuer, bisweilen erobern sie einen Graben in Gestalt eines Lehrstuhls oder eines Gremiensitzes, aber entscheidende Durchbrüche an der Wahrheitsfront sind nicht zu erwarten.
Der frischgebackene Leibniz-Preisträger Christoph Möllers wählt für sein Opus magnum "Die Möglichkeit der Normen" denn auch einen anderen, weniger stark vorbelasteten Ausgangspunkt. Statt sich an dem Problem abzuarbeiten, wie eine Norm sein sollte, widmet er sich der systematisch vorgelagerten Frage, was eine Norm ist. Als Jurist ist Möllers besonders an sozialen Normen interessiert, an Normen also, die nicht lediglich im Inneren der einzelnen moralischen Subjekte ihr Werk tun, sondern deren äußeres, gesellschaftlich wahrnehmbares und bewertbares Verhalten betreffen.
Möllers' Ziel besteht darin, "einen begrifflichen Rahmen für soziale Normen zu entwickeln, der hinreichend weit für unterschiedlichste Phänomene ist, ohne konturenlos zu werden". Diesen Rahmen findet Möllers in einem Normbegriff, der auf den ersten Blick so unscheinbar wirkt, dass der Leser sich angstvoll fragt, wie sich mit seiner Erläuterung vierhundertfünfzig Seiten sollen füllen lassen. Wer sich davon nicht Bange machen lässt, wird allerdings auf das angenehmste enttäuscht. Möllers brennt ein solches Feuerwerk an Analysen und Thesen ab, dass die Lektüre seines Buches streckenweise einem intellektuellen Abenteuerurlaub gleicht.
Eine Norm ist, wie Möllers herausarbeitet, "die Affirmation der Verwirklichung einer Möglichkeit". Sie lässt sich weder auf den Status eines Instruments zur Erreichung bestimmter sozialer oder politischer Zwecke noch auf den eines von jeder sozialen Verkörperung unabhängigen guten Grundes reduzieren. Ginge es nur um möglichst effiziente Zweckerreichung, so wäre es besser, eine den Ausschluss alternativer Verhaltensmöglichkeiten bezweckende kausalistische Strategie zu verfolgen, statt das Risiko einzugehen, Normen zu setzen, die bekanntlich nicht nur befolgt, sondern auch gebrochen werden können. Wäre die Rolle von Normen umgekehrt nur diejenige guter Gründe, so würde dadurch die Funktionsweise realer sozialer Praktiken verzerrt, deren Normen "einen Ort, eine Zeit, eine Darstellungsform" im gesellschaftlichen Raum benötigen und deren Legitimationsansprüche in spezifischer Weise begrenzt sind.
So geht es, wie Möllers gegen Habermas geltend macht, im Rahmen juridischer Verfahren nicht nur darum, gute Gründe zum Zug kommen zu lassen, sondern auch darum, den Kreis der entscheidungsrelevanten guten Gründe sachlich und zeitlich zu beschränken.
Für Möllers liegt die zentrale Leistung von Normativität nicht in Steuerung oder Begründung, sondern - viel grundsätzlicher - in der Bezeichnung und Sichtbarmachung von Alternativen zum bestehenden Weltzustand. Wenn Jesus, nachdem er seine Jünger daran erinnert hat, wie die Herrschenden mit ihrer Macht umzugehen pflegen, fortfährt: "Bei euch soll es nicht so sein!", so macht er damit den Ausgangspunkt jeder normativen Praxis deutlich. Dieser besteht in der "Möglichkeit, sich der Wirklichkeit zu verweigern", also nicht einfach alles so hinzunehmen, wie es ist. Ebenso wie Hegel, dessen philosophisches System seine Dynamik der Figur der konkreten Negation verdankt, weiß auch Möllers: "Die Grundoperation des Normativen ist negativ. Sie weist die Welt so, wie sie ist, zurück." Die Affirmation als das zweite Begriffsmoment des Normativen baut stets auf dieser basalen Negation auf. Über die reine Möglichkeit des Andersseins geht sie insofern hinaus, als sie eine bestimmte Möglichkeit mit einem Verwirklichungsanspruch belegt. "Wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein."
Normativität ist demnach eine soziale Praxis, in der sich eine Gesellschaft von ihrer eigenen Realität distanziert; sie stellt "eine Gegenwelt als Teil der Welt" dar. Dies ist nicht ohne Risiko. Durch die ihnen innewohnende Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte und sollte, wirken Normen potentiell destabilisierend. In besonderer Weise gilt dies im Rahmen demokratischer Verfassungsordnungen. Diese setzen nämlich nicht nur Normen so wie andere politische Systeme auch, sondern sie verstehen sich, wie Möllers hervorhebt, zudem "als Ordnungen, deren normativer Anspruch nicht erfüllt ist und letztlich nicht erfüllt werden kann"; die wahre Demokratie gibt es nur im Irrealis. In Demokratien ist es deshalb üblich, die eigenen demokratischen Defizite zu kritisieren; nicht zuletzt dadurch unterscheiden sie sich von autoritären oder traditionalen Systemen.
Dieses Destabilisierungsrisiko nehmen Demokratien um der Freiheit willen jedoch sehenden Auges in Kauf. Abweichung ist in ihnen deshalb nicht etwa ein notwendiges Übel, sondern sie ist geradezu ihr Lebenselixier. Zu Recht führt Möllers aus: "Zu viel wird in der politischen Theorie über Gemeinsamkeit und Zusammenhalt nachgedacht. Dabei entstehen Gefährdungen demokratischer Ordnungen dadurch, dass Möglichkeiten zu abweichendem Verhalten faktisch ausgeschlossen werden." Wenn in einer politisch existentiellen Frage wie dem Flüchtlingsproblem die Überzeugungen eines großen Teils der Bevölkerung pauschal als "rechts" etikettiert und die Betreffenden dadurch de facto mundtot gemacht werden oder wenn, wie in der Euro-Krise, die Rhetorik der Alternativlosigkeit jegliche Gegenposition als verantwortungslos brandmarkt, so markieren derartige Methoden der Auseinandersetzung einen in seinen Wirkungen noch nicht absehbaren Abschied von Möllers' Modell demokratischer Normativität.
Wer sich zu Beginn von Möllers' Buch fragte, wozu dessen "nicht-normative Theorie des Normativen" gut sein solle, der kennt spätestens jetzt die Antwort. Indem Möllers aufdeckt, welche Konsequenzen theoretische Vorannahmen für die Praxis haben, hält er nicht nur Theorien den Spiegel vor, die an den Eigenarten sozialer Praktiken vorbeigehen, sondern auch einer Praxis, die den kulturellen Wert reflektierter sozialer Selbstinfragestellung allzu gering achtet. So gesehen, ist Möllers' Normkonzeption institutionell ebenso wenig unschuldig, wie er es den Vertretern abweichender Normativitätsverständnisse vorwirft. Aber es ist eine wohlbegründete Schuld: der Preis unserer bisherigen Lebensform.
MICHAEL PAWLIK.
Christoph Möllers: "Die Möglichkeit der Normen". Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 464 S., geb., 34,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Opus magnum: Christoph Möllers, gerade mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, sondiert den Anspruch von Normen
Kant sah die Probleme der praktischen Philosophie noch in der Frage "Was soll ich tun?" zusammenlaufen. Der Kampf um ihre Beantwortung ist allerdings seit geraumer Zeit in der Tristesse des Stellungskriegs erstarrt. Die streitenden Parteien - Kantianer auf der einen, Konsequentialisten auf der anderen Seite, dazwischen noch einige versprengte Trupps von Aristotelikern und Hegelianern - haben sich im schweren Boden ihrer Gewissheiten eingegraben. Von Zeit zu Zeit überziehen sie den Gegner mit einem publizistischen Sperrfeuer, bisweilen erobern sie einen Graben in Gestalt eines Lehrstuhls oder eines Gremiensitzes, aber entscheidende Durchbrüche an der Wahrheitsfront sind nicht zu erwarten.
Der frischgebackene Leibniz-Preisträger Christoph Möllers wählt für sein Opus magnum "Die Möglichkeit der Normen" denn auch einen anderen, weniger stark vorbelasteten Ausgangspunkt. Statt sich an dem Problem abzuarbeiten, wie eine Norm sein sollte, widmet er sich der systematisch vorgelagerten Frage, was eine Norm ist. Als Jurist ist Möllers besonders an sozialen Normen interessiert, an Normen also, die nicht lediglich im Inneren der einzelnen moralischen Subjekte ihr Werk tun, sondern deren äußeres, gesellschaftlich wahrnehmbares und bewertbares Verhalten betreffen.
Möllers' Ziel besteht darin, "einen begrifflichen Rahmen für soziale Normen zu entwickeln, der hinreichend weit für unterschiedlichste Phänomene ist, ohne konturenlos zu werden". Diesen Rahmen findet Möllers in einem Normbegriff, der auf den ersten Blick so unscheinbar wirkt, dass der Leser sich angstvoll fragt, wie sich mit seiner Erläuterung vierhundertfünfzig Seiten sollen füllen lassen. Wer sich davon nicht Bange machen lässt, wird allerdings auf das angenehmste enttäuscht. Möllers brennt ein solches Feuerwerk an Analysen und Thesen ab, dass die Lektüre seines Buches streckenweise einem intellektuellen Abenteuerurlaub gleicht.
Eine Norm ist, wie Möllers herausarbeitet, "die Affirmation der Verwirklichung einer Möglichkeit". Sie lässt sich weder auf den Status eines Instruments zur Erreichung bestimmter sozialer oder politischer Zwecke noch auf den eines von jeder sozialen Verkörperung unabhängigen guten Grundes reduzieren. Ginge es nur um möglichst effiziente Zweckerreichung, so wäre es besser, eine den Ausschluss alternativer Verhaltensmöglichkeiten bezweckende kausalistische Strategie zu verfolgen, statt das Risiko einzugehen, Normen zu setzen, die bekanntlich nicht nur befolgt, sondern auch gebrochen werden können. Wäre die Rolle von Normen umgekehrt nur diejenige guter Gründe, so würde dadurch die Funktionsweise realer sozialer Praktiken verzerrt, deren Normen "einen Ort, eine Zeit, eine Darstellungsform" im gesellschaftlichen Raum benötigen und deren Legitimationsansprüche in spezifischer Weise begrenzt sind.
So geht es, wie Möllers gegen Habermas geltend macht, im Rahmen juridischer Verfahren nicht nur darum, gute Gründe zum Zug kommen zu lassen, sondern auch darum, den Kreis der entscheidungsrelevanten guten Gründe sachlich und zeitlich zu beschränken.
Für Möllers liegt die zentrale Leistung von Normativität nicht in Steuerung oder Begründung, sondern - viel grundsätzlicher - in der Bezeichnung und Sichtbarmachung von Alternativen zum bestehenden Weltzustand. Wenn Jesus, nachdem er seine Jünger daran erinnert hat, wie die Herrschenden mit ihrer Macht umzugehen pflegen, fortfährt: "Bei euch soll es nicht so sein!", so macht er damit den Ausgangspunkt jeder normativen Praxis deutlich. Dieser besteht in der "Möglichkeit, sich der Wirklichkeit zu verweigern", also nicht einfach alles so hinzunehmen, wie es ist. Ebenso wie Hegel, dessen philosophisches System seine Dynamik der Figur der konkreten Negation verdankt, weiß auch Möllers: "Die Grundoperation des Normativen ist negativ. Sie weist die Welt so, wie sie ist, zurück." Die Affirmation als das zweite Begriffsmoment des Normativen baut stets auf dieser basalen Negation auf. Über die reine Möglichkeit des Andersseins geht sie insofern hinaus, als sie eine bestimmte Möglichkeit mit einem Verwirklichungsanspruch belegt. "Wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein."
Normativität ist demnach eine soziale Praxis, in der sich eine Gesellschaft von ihrer eigenen Realität distanziert; sie stellt "eine Gegenwelt als Teil der Welt" dar. Dies ist nicht ohne Risiko. Durch die ihnen innewohnende Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte und sollte, wirken Normen potentiell destabilisierend. In besonderer Weise gilt dies im Rahmen demokratischer Verfassungsordnungen. Diese setzen nämlich nicht nur Normen so wie andere politische Systeme auch, sondern sie verstehen sich, wie Möllers hervorhebt, zudem "als Ordnungen, deren normativer Anspruch nicht erfüllt ist und letztlich nicht erfüllt werden kann"; die wahre Demokratie gibt es nur im Irrealis. In Demokratien ist es deshalb üblich, die eigenen demokratischen Defizite zu kritisieren; nicht zuletzt dadurch unterscheiden sie sich von autoritären oder traditionalen Systemen.
Dieses Destabilisierungsrisiko nehmen Demokratien um der Freiheit willen jedoch sehenden Auges in Kauf. Abweichung ist in ihnen deshalb nicht etwa ein notwendiges Übel, sondern sie ist geradezu ihr Lebenselixier. Zu Recht führt Möllers aus: "Zu viel wird in der politischen Theorie über Gemeinsamkeit und Zusammenhalt nachgedacht. Dabei entstehen Gefährdungen demokratischer Ordnungen dadurch, dass Möglichkeiten zu abweichendem Verhalten faktisch ausgeschlossen werden." Wenn in einer politisch existentiellen Frage wie dem Flüchtlingsproblem die Überzeugungen eines großen Teils der Bevölkerung pauschal als "rechts" etikettiert und die Betreffenden dadurch de facto mundtot gemacht werden oder wenn, wie in der Euro-Krise, die Rhetorik der Alternativlosigkeit jegliche Gegenposition als verantwortungslos brandmarkt, so markieren derartige Methoden der Auseinandersetzung einen in seinen Wirkungen noch nicht absehbaren Abschied von Möllers' Modell demokratischer Normativität.
Wer sich zu Beginn von Möllers' Buch fragte, wozu dessen "nicht-normative Theorie des Normativen" gut sein solle, der kennt spätestens jetzt die Antwort. Indem Möllers aufdeckt, welche Konsequenzen theoretische Vorannahmen für die Praxis haben, hält er nicht nur Theorien den Spiegel vor, die an den Eigenarten sozialer Praktiken vorbeigehen, sondern auch einer Praxis, die den kulturellen Wert reflektierter sozialer Selbstinfragestellung allzu gering achtet. So gesehen, ist Möllers' Normkonzeption institutionell ebenso wenig unschuldig, wie er es den Vertretern abweichender Normativitätsverständnisse vorwirft. Aber es ist eine wohlbegründete Schuld: der Preis unserer bisherigen Lebensform.
MICHAEL PAWLIK.
Christoph Möllers: "Die Möglichkeit der Normen". Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 464 S., geb., 34,95 [Euro].
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