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Was ist heute unter Ethik zu verstehen? Mit welchen Fragen setzt sie sich auseinander und auf welche Weise tut sie das? Ethik - so argumentiert Wilhelm Vossenkuhl - soll helfen, moralische Konflikte im Leben der Menschen zu lösen, und sie soll dazu beitragen, Konflikte im Leben der Gesellschaft zu bewältigen. Sein Buch zeigt die zentralen Probleme und weist Wege, sich ihnen zu stellen.
Vossenkuhl versteht unter Ethik weniger ein Theoriegebäude, das sich selbst genügt, als vielmehr eine praktische Wissenschaft, der es um die Frage geht, wie das Gute möglich sei. "Das Gute" wird dabei verstanden als das gute, glückende Leben der Menschen. Daß ein gutes Leben glückt, wird einerseits von wissenschaftlichen Fortschritten gefördert, etwa bei der Verlängerung des Lebens, andererseits aber durch neue Probleme, etwa die Sterbehilfe, belastet. Vossenkuhl stellt in einer ganzen Reihe von Problemkonstellationen dieses doppelte Gesicht des Fortschritts vor. Anhand der Frage nach der Freiheit prüft er, inwieweit wir Menschen befähigt sind, für uns selbst und für andere so viel Verantwortung zu tragen, daß ein gutes Leben für alle denkbar und konkret möglich ist. Das Gute, gerade das gute Leben, war lange kein Thema der Ethik mehr. Dafür gibt es Gründe. Vossenkuhl spricht von der Paradoxie des Guten, weil es sich häufig herausstellt, daß das, was einmal als gut galt, im Nachhinein anders zu beurteilen ist. Er denkt dabei an Nebenfolgen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen, aber auch an die sozialen Verteilungsprozesse. Für diese Prozesse schlägt er ein neues Verfahren vor, mittels dessen Güter und Lasten in einer Gesellschaft gerecht verteilt werden, so daß ein gutes Leben für alle möglich wird.
Was ist heute unter Ethik zu verstehen? Mit welchen Fragen setzt sie sich auseinander und auf welche Weise tut sie das? Ethik - so argumentiert Wilhelm Vossenkuhl - soll helfen, moralische Konflikte im Leben der Menschen zu lösen, und sie soll dazu beitragen, Konflikte im Leben der Gesellschaft zu bewältigen. Sein Buch zeigt die zentralen Probleme und weist Wege, sich ihnen zu stellen.
Vossenkuhl versteht unter Ethik weniger ein Theoriegebäude, das sich selbst genügt, als vielmehr eine praktische Wissenschaft, der es um die Frage geht, wie das Gute möglich sei. "Das Gute" wird dabei verstanden als das gute, glückende Leben der Menschen. Daß ein gutes Leben glückt, wird einerseits von wissenschaftlichen Fortschritten gefördert, etwa bei der Verlängerung des Lebens, andererseits aber durch neue Probleme, etwa die Sterbehilfe, belastet. Vossenkuhl stellt in einer ganzen Reihe von Problemkonstellationen dieses doppelte Gesicht des Fortschritts vor. Anhand der Frage nach der Freiheit prüft er, inwieweit wir Menschen befähigt sind, für uns selbst und für andere so viel Verantwortung zu tragen, daß ein gutes Leben für alle denkbar und konkret möglich ist. Das Gute, gerade das gute Leben, war lange kein Thema der Ethik mehr. Dafür gibt es Gründe. Vossenkuhl spricht von der Paradoxie des Guten, weil es sich häufig herausstellt, daß das, was einmal als gut galt, im Nachhinein anders zu beurteilen ist. Er denkt dabei an Nebenfolgen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen, aber auch an die sozialen Verteilungsprozesse. Für diese Prozesse schlägt er ein neues Verfahren vor, mittels dessen Güter und Lasten in einer Gesellschaft gerecht verteilt werden, so daß ein gutes Leben für alle möglich wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2006Beseitigen wir die Knappheit
Wilhelm Vossenkuhls fahrige Vorschläge zur Güterverteilung
In seiner "Theorie der Gerechtigkeit" nahm John Rawls eine folgenschwere Verschiebung des traditionellen Gegenstandsbereichs der politischen Philosophie vor. Während seine Vorgänger von Hobbes bis Kant ihre Konzeptionen entlang der Alternative von Naturzustand und bürgerlichem Zustand entworfen und ihren Ehrgeiz darin gesetzt hatten, Notwendigkeit und Ausgestaltung eines Systems politischer Institutionen zu beweisen, nahm Rawls' Theorie ihren Ausgang von einem weitaus höheren gesellschaftlichen Komplexitätsniveau. Rawls' Gesellschaft war im wesentlichen befriedet, in ihr gab es Güter, die durch die Zusammenarbeit der Gesellschaftsmitglieder erzeugt worden waren, und es stellte sich lediglich noch die Frage nach deren gerechter Verteilung.
Auch der Münchner Philosoph Wilhelm Vossenkuhl wird in erster Linie von den Problemen der Güterverteilung umgetrieben. Im Unterschied zu Rawls, der sich auf die antiaristotelische Begründungsfigur des Gesellschaftsvertrags stützte, umhüllt Vossenkuhl seine sozialpolitischen Ambitionen allerdings mit einem neoaristotelischen Begriffspanzer. Das Ziel der Ethik besteht in seinen Worten darin, die Frage zu beantworten, "was das Gute ist und wie es möglich ist, das Gute in Gestalt des guten Lebens zu verwirklichen". Das gute Leben wiederum sei nur als Mischung höchst heterogener Arten von Gütern zu denken. Zu seiner Verwirklichung müßten "so unterschiedliche Güter wie die Menschenrechte, Gerechtigkeit, soziale Anerkennung, die Geltung des Rechts, Arbeit, Einkommen, Gesundheit und Bildung in ein Ganzes ohne Widersprüche integriert werden". Auf der gerechten Verteilung dieser Güter beruhe die Möglichkeit eines guten Lebens für alle Gesellschaftsmitglieder.
Wie soll dieses Verteilungskunststück gelingen? Rawls' erster Schritt bestand darin, die Gesamtheit der in Betracht kommenden Güter zu zwei Gruppen zusammenzufassen, der Gruppe der Freiheitsrechte einerseits und derjenigen der materiellen Güter andererseits. Das Verteilungsprinzip für die Güter der ersten Gruppe bestimmte Rawls in Anlehnung an Kant. Jedermann solle gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich sei. Weniger präzise, aber inhaltlich weitgehend übereinstimmend äußert sich Vossenkuhl. "Das gute Leben einer Gesellschaft und jedes ihrer Mitglieder setzt voraus, daß die Menschen- und Freiheitsrechte gelten, daß es ein demokratisches, parlamentarisches System, ein Rechtssystem und eine unabhängige Rechtsprechung gibt."
Rawls' Hauptsorge galt freilich den Prinzipien für die gerechte Verteilung der materiellen Grundgüter, zuvörderst des Vermögens. Auf die Beantwortung dieser Frage verwandte er Hunderte von Seiten. In immer neuen Anläufen verfeinerte und präzisierte er seine ursprüngliche Intuition, der zufolge natürliche Vorzüge sich nicht in rechtlichen Vorteilen niederschlagen dürfen, bis am Ende jene Verteilungsgrundsätze dastanden, an denen sich Rawls' Nachfolger bis heute die Zähne ausbeißen. Die Stelle von Rawls' Gerechtigkeitsprinzipien nimmt bei Vossenkuhl ein Set von "Maximen" ein. Deren Gebrauch werde "von der Frage geleitet, wie die knappen Güter auf bestmögliche Weise verteilt werden können". Die von Vossenkuhl so genannte "Maximenmethode" bildet somit den Kern des ganzen Buches.
Aber wie flüchtig sind Vossenkuhls Maximen formuliert, und wie fahrig werden sie erläutert! So lautet die erste Maxime: "Ein normativer Anspruch wird verändert, wenn er zu einer Güterverteilung führen würde, die nicht anerkannt werden kann." Der Leser legt seine Stirn in Falten. Erstens ärgert er sich über unnötigen terminologischen Bombast, denn nichtnormative Ansprüche sind ihm noch nie begegnet. Zweitens ist er irritiert darüber, dort, wo ihm eine Maxime, also ein Handlungsgrundsatz, angekündigt worden ist, eine bloße Begriffsbestimmung zu finden. Und drittens leuchtet ihm auch deren Inhalt nicht ein. Die Veränderung bestehender Ansprüche ist entweder legitim oder illegitim, aber daß von einer Veränderung nur dort die Rede sein könne, wo sie in eine nichtanerkennungswürdige Güterverteilung mündet, ist definitorische Willkür.
Gelingt es Vossenkuhl, durch seine nachfolgenden Erläuterungen diese Bedenken zu zerstreuen? Nein, man ist vielmehr versucht zu sagen: Er macht die Dinge dadurch nur noch schlimmer. Ein Beispiel: Aus gutem Grund plädiert die Verfassungsrechtswissenschaft für eine strenge Unterscheidung zwischen dem Eingriff in ein Recht und der Verletzung dieses Rechts. Zahllose Rechtseingriffe sind gerechtfertigt und deshalb nicht verletzend.
Vossenkuhl scheint beide Begriffe hingegen stillschweigend gleichzusetzen. Die Einschränkung bislang gewährter Leistungen öffentlicher Güter ist für ihn gleichbedeutend damit, daß die "normativen Ansprüche" der Betroffenen "verletzt" werden. Wörtlich verstanden, läuft dies auf einen sozialstaatlichen Konservatismus hinaus, im Vergleich zu dem selbst die Linkspartei eine progressive Programmatik aufweist. Will man diese Interpretation vermeiden, bleibt nur die Möglichkeit, Vossenkuhls Maxime als Umschreibung einer Tautologie zu lesen: "Ansprüche werden verändert, wenn in sie eingegriffen wird", oder noch knapper: "Ansprüche werden verändert, wenn sie verändert werden."
Die Verteilungsproblematik als solche hat freilich seit dem Erscheinen von Rawls' opus magnum nichts von ihrer Brisanz verloren. Sie macht sich heute an der Frage nach der Zukunft des Sozialstaats fest. Vossenkuhls Hauptsorge gilt der Gefahr, daß die Absenkung sozialstaatlicher Ansprüche deren Substanz beschädigen könnte. Dies sei unzulässig, weil dadurch den Betroffenen die Möglichkeit eines selbstbestimmten guten Lebens genommen werde. Das Niveau, das am Ende des Prozesses der Neuverteilung von Gütern erreicht werde, dürfe deshalb für keine Gruppe beliebig nach unten variieren.
Diesem Anliegen sucht eine weitere von Vossenkuhls Maximen Rechnung zu tragen. "Normative Ansprüche und Güterverteilungen können nur verändert werden, wenn damit weder absolut unverzichtbare Güter noch das Wertgefüge der Güter insgesamt gefährdet werden." Das "Beispiel schlechthin für diese Grenze" bilden Vossenkuhl zufolge das "menschliche Leben und der aus dem Lebensrecht abgeleitete Anspruch eines jeden Menschen auf Lebensschutz und Achtung seiner körperlichen und seelischen Integrität".
Wie aber, wenn die Knappheit ein solches Ausmaß erreicht, daß es unmöglich wird, diese Begrenzung einzuhalten, weil beispielsweise eine flächendeckende Maximalversorgung im Gesundheitswesen nicht mehr finanzierbar ist? Vossenkuhl weiß Rat: In diesen Fällen "sollte die Knappheit beseitigt werden", zum Beispiel durch höhere Steuereinnahmen, wenngleich es selbstverständlich "kein Wachstum um jeden Preis" geben dürfe.
Man kann nur hoffen, daß die Koalitionäre in Berlin Wichtigeres zu tun haben, als Philosophiebücher zu lesen. Allen Nichtpolitikern aber sei geraten: Lest Rawls!
MICHAEL PAWLIK
Wilhelm Vossenkuhl: "Die Möglichkeit des Guten". Ethik im 21. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2006. 472 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wilhelm Vossenkuhls fahrige Vorschläge zur Güterverteilung
In seiner "Theorie der Gerechtigkeit" nahm John Rawls eine folgenschwere Verschiebung des traditionellen Gegenstandsbereichs der politischen Philosophie vor. Während seine Vorgänger von Hobbes bis Kant ihre Konzeptionen entlang der Alternative von Naturzustand und bürgerlichem Zustand entworfen und ihren Ehrgeiz darin gesetzt hatten, Notwendigkeit und Ausgestaltung eines Systems politischer Institutionen zu beweisen, nahm Rawls' Theorie ihren Ausgang von einem weitaus höheren gesellschaftlichen Komplexitätsniveau. Rawls' Gesellschaft war im wesentlichen befriedet, in ihr gab es Güter, die durch die Zusammenarbeit der Gesellschaftsmitglieder erzeugt worden waren, und es stellte sich lediglich noch die Frage nach deren gerechter Verteilung.
Auch der Münchner Philosoph Wilhelm Vossenkuhl wird in erster Linie von den Problemen der Güterverteilung umgetrieben. Im Unterschied zu Rawls, der sich auf die antiaristotelische Begründungsfigur des Gesellschaftsvertrags stützte, umhüllt Vossenkuhl seine sozialpolitischen Ambitionen allerdings mit einem neoaristotelischen Begriffspanzer. Das Ziel der Ethik besteht in seinen Worten darin, die Frage zu beantworten, "was das Gute ist und wie es möglich ist, das Gute in Gestalt des guten Lebens zu verwirklichen". Das gute Leben wiederum sei nur als Mischung höchst heterogener Arten von Gütern zu denken. Zu seiner Verwirklichung müßten "so unterschiedliche Güter wie die Menschenrechte, Gerechtigkeit, soziale Anerkennung, die Geltung des Rechts, Arbeit, Einkommen, Gesundheit und Bildung in ein Ganzes ohne Widersprüche integriert werden". Auf der gerechten Verteilung dieser Güter beruhe die Möglichkeit eines guten Lebens für alle Gesellschaftsmitglieder.
Wie soll dieses Verteilungskunststück gelingen? Rawls' erster Schritt bestand darin, die Gesamtheit der in Betracht kommenden Güter zu zwei Gruppen zusammenzufassen, der Gruppe der Freiheitsrechte einerseits und derjenigen der materiellen Güter andererseits. Das Verteilungsprinzip für die Güter der ersten Gruppe bestimmte Rawls in Anlehnung an Kant. Jedermann solle gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich sei. Weniger präzise, aber inhaltlich weitgehend übereinstimmend äußert sich Vossenkuhl. "Das gute Leben einer Gesellschaft und jedes ihrer Mitglieder setzt voraus, daß die Menschen- und Freiheitsrechte gelten, daß es ein demokratisches, parlamentarisches System, ein Rechtssystem und eine unabhängige Rechtsprechung gibt."
Rawls' Hauptsorge galt freilich den Prinzipien für die gerechte Verteilung der materiellen Grundgüter, zuvörderst des Vermögens. Auf die Beantwortung dieser Frage verwandte er Hunderte von Seiten. In immer neuen Anläufen verfeinerte und präzisierte er seine ursprüngliche Intuition, der zufolge natürliche Vorzüge sich nicht in rechtlichen Vorteilen niederschlagen dürfen, bis am Ende jene Verteilungsgrundsätze dastanden, an denen sich Rawls' Nachfolger bis heute die Zähne ausbeißen. Die Stelle von Rawls' Gerechtigkeitsprinzipien nimmt bei Vossenkuhl ein Set von "Maximen" ein. Deren Gebrauch werde "von der Frage geleitet, wie die knappen Güter auf bestmögliche Weise verteilt werden können". Die von Vossenkuhl so genannte "Maximenmethode" bildet somit den Kern des ganzen Buches.
Aber wie flüchtig sind Vossenkuhls Maximen formuliert, und wie fahrig werden sie erläutert! So lautet die erste Maxime: "Ein normativer Anspruch wird verändert, wenn er zu einer Güterverteilung führen würde, die nicht anerkannt werden kann." Der Leser legt seine Stirn in Falten. Erstens ärgert er sich über unnötigen terminologischen Bombast, denn nichtnormative Ansprüche sind ihm noch nie begegnet. Zweitens ist er irritiert darüber, dort, wo ihm eine Maxime, also ein Handlungsgrundsatz, angekündigt worden ist, eine bloße Begriffsbestimmung zu finden. Und drittens leuchtet ihm auch deren Inhalt nicht ein. Die Veränderung bestehender Ansprüche ist entweder legitim oder illegitim, aber daß von einer Veränderung nur dort die Rede sein könne, wo sie in eine nichtanerkennungswürdige Güterverteilung mündet, ist definitorische Willkür.
Gelingt es Vossenkuhl, durch seine nachfolgenden Erläuterungen diese Bedenken zu zerstreuen? Nein, man ist vielmehr versucht zu sagen: Er macht die Dinge dadurch nur noch schlimmer. Ein Beispiel: Aus gutem Grund plädiert die Verfassungsrechtswissenschaft für eine strenge Unterscheidung zwischen dem Eingriff in ein Recht und der Verletzung dieses Rechts. Zahllose Rechtseingriffe sind gerechtfertigt und deshalb nicht verletzend.
Vossenkuhl scheint beide Begriffe hingegen stillschweigend gleichzusetzen. Die Einschränkung bislang gewährter Leistungen öffentlicher Güter ist für ihn gleichbedeutend damit, daß die "normativen Ansprüche" der Betroffenen "verletzt" werden. Wörtlich verstanden, läuft dies auf einen sozialstaatlichen Konservatismus hinaus, im Vergleich zu dem selbst die Linkspartei eine progressive Programmatik aufweist. Will man diese Interpretation vermeiden, bleibt nur die Möglichkeit, Vossenkuhls Maxime als Umschreibung einer Tautologie zu lesen: "Ansprüche werden verändert, wenn in sie eingegriffen wird", oder noch knapper: "Ansprüche werden verändert, wenn sie verändert werden."
Die Verteilungsproblematik als solche hat freilich seit dem Erscheinen von Rawls' opus magnum nichts von ihrer Brisanz verloren. Sie macht sich heute an der Frage nach der Zukunft des Sozialstaats fest. Vossenkuhls Hauptsorge gilt der Gefahr, daß die Absenkung sozialstaatlicher Ansprüche deren Substanz beschädigen könnte. Dies sei unzulässig, weil dadurch den Betroffenen die Möglichkeit eines selbstbestimmten guten Lebens genommen werde. Das Niveau, das am Ende des Prozesses der Neuverteilung von Gütern erreicht werde, dürfe deshalb für keine Gruppe beliebig nach unten variieren.
Diesem Anliegen sucht eine weitere von Vossenkuhls Maximen Rechnung zu tragen. "Normative Ansprüche und Güterverteilungen können nur verändert werden, wenn damit weder absolut unverzichtbare Güter noch das Wertgefüge der Güter insgesamt gefährdet werden." Das "Beispiel schlechthin für diese Grenze" bilden Vossenkuhl zufolge das "menschliche Leben und der aus dem Lebensrecht abgeleitete Anspruch eines jeden Menschen auf Lebensschutz und Achtung seiner körperlichen und seelischen Integrität".
Wie aber, wenn die Knappheit ein solches Ausmaß erreicht, daß es unmöglich wird, diese Begrenzung einzuhalten, weil beispielsweise eine flächendeckende Maximalversorgung im Gesundheitswesen nicht mehr finanzierbar ist? Vossenkuhl weiß Rat: In diesen Fällen "sollte die Knappheit beseitigt werden", zum Beispiel durch höhere Steuereinnahmen, wenngleich es selbstverständlich "kein Wachstum um jeden Preis" geben dürfe.
Man kann nur hoffen, daß die Koalitionäre in Berlin Wichtigeres zu tun haben, als Philosophiebücher zu lesen. Allen Nichtpolitikern aber sei geraten: Lest Rawls!
MICHAEL PAWLIK
Wilhelm Vossenkuhl: "Die Möglichkeit des Guten". Ethik im 21. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2006. 472 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einen besseren Gegenstand der Ethik als die "Möglichkeit des Guten", die das jüngste Buch von Wilhelm Vossenkuhl ausloten will, kann sich Volker Gerhardt zwar kaum vorstellen, ganz zufrieden ist er mit dem Ergebnis aber nicht. Bei seiner Konzentration auf das Universelle verliere der Autor das Individuum aus dem Blick, beklagt der Rezensent. Für Vossenkuhl sind es Kommissionen, die mehrheitlich den von ihm vorausgesetzten Mangel an Gütern gerecht verteilen sollen und sich damit für das gute Leben einsetzten, so der Rezensent. Dass es dafür letztlich aber immer auf die "Spontaneität" des als Einheit verstandenen Einzelnen ankommt, werde vom Autor zwar indirekt vorausgesetzt, in seiner Philosophie aber nicht anerkannt, so Gerhardt kritisch. Wenn Vossenkuhl sich allerdings Fragen der Bioethik oder der medizinischen Ethik zuwendet, überzeugt er den Rezensenten mit einleuchtenden Argumenten und stabiler Sachkenntnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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