Der Mensch ist verschwunden. Und mit ihm der Kult um Sex und Fun und ewige Jugend. Geblieben ist nichts als Ekel, Einsamkeit und Langeweile. Der Mensch ist für das Glück und dessen Voraussetzung, die bedingungslose Liebe, nicht geschaffen. Angesichts der unerträglich schmerzvollen Erfahrung des Alters nimmt der Mensch freiwillig Abschied von sich. Und nach der Klimakatastrophe bleiben vom Menschengeschlecht nur archaisch lebende Wilde zurück.
Nur der Neo-Mensch hat überlebt - geklont und unsterblich. Aber alle menschlichen Regungen wie Lachen und Weinen, Güte, Mitleid und Treue sind ihm zu unergründlichen Geheimnissen geworden. Daniel24 ist ein Neo-Mensch der vierundzwanzigsten Generation, der auf seinen genetischen Prototyp Daniel1 und dessen Lebensbericht zurückblickt. Dieser Daniel1 war ein Mensch unserer Gegenwart: Als Komiker auf der Bühne, in Film und Fernsehshows trat er als zynisch-scharfer Beobachter einer Gesellschaft auf, die längst alle Tabus gebrochen hatte. Aber sein Leben mit Isabelle, umgeben von Glamour und Geld, vermochte das Altern nicht aufzuheben. Der Bericht aus der Zeit seines Prototyps ermöglicht es Daniel24, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, seiner, die in der Zukunft liegt, und unserer selbstzerstörerischen Gegenwartsgesellschaft zu begreifen. Für die war vor allem »der moralische Schmerz des Alterns« unerträglich geworden. Ist der Gesellschaftsentwurf dieses Neo-Menschen der alten Gattung wirklich überlegen?
Schließlich macht sich Marie23, angestoßen durch die Berichte von Marie1, auf den Weg, um auf einer Insel eine neue Gesellschaftsform zu suchen, wo sich jenseits von altem Menschsein und Neo-Menschsein die Individuen in Liebe, Fürsorge und Geborgenheit begegnen. Wohin führt ihre verheißungsvolle Suche?
Michel Houellebecqs mit Spannung erwarteter neuer Roman Die Möglichkeit einer Insel entwirft radikal unsere Zukunft: Drastisch konfrontiert er Menschheitsentwürfe. Michel Houllebecqs Prosa ist voll visionärer Kraft, eine Abrechnung mit unserer heutigen Gesellschaft, wie sie endgültiger kaum sein kann.
Nur der Neo-Mensch hat überlebt - geklont und unsterblich. Aber alle menschlichen Regungen wie Lachen und Weinen, Güte, Mitleid und Treue sind ihm zu unergründlichen Geheimnissen geworden. Daniel24 ist ein Neo-Mensch der vierundzwanzigsten Generation, der auf seinen genetischen Prototyp Daniel1 und dessen Lebensbericht zurückblickt. Dieser Daniel1 war ein Mensch unserer Gegenwart: Als Komiker auf der Bühne, in Film und Fernsehshows trat er als zynisch-scharfer Beobachter einer Gesellschaft auf, die längst alle Tabus gebrochen hatte. Aber sein Leben mit Isabelle, umgeben von Glamour und Geld, vermochte das Altern nicht aufzuheben. Der Bericht aus der Zeit seines Prototyps ermöglicht es Daniel24, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, seiner, die in der Zukunft liegt, und unserer selbstzerstörerischen Gegenwartsgesellschaft zu begreifen. Für die war vor allem »der moralische Schmerz des Alterns« unerträglich geworden. Ist der Gesellschaftsentwurf dieses Neo-Menschen der alten Gattung wirklich überlegen?
Schließlich macht sich Marie23, angestoßen durch die Berichte von Marie1, auf den Weg, um auf einer Insel eine neue Gesellschaftsform zu suchen, wo sich jenseits von altem Menschsein und Neo-Menschsein die Individuen in Liebe, Fürsorge und Geborgenheit begegnen. Wohin führt ihre verheißungsvolle Suche?
Michel Houellebecqs mit Spannung erwarteter neuer Roman Die Möglichkeit einer Insel entwirft radikal unsere Zukunft: Drastisch konfrontiert er Menschheitsentwürfe. Michel Houllebecqs Prosa ist voll visionärer Kraft, eine Abrechnung mit unserer heutigen Gesellschaft, wie sie endgültiger kaum sein kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2005Was vom Tage übrigbleibt
Erntezeit für Leser: Die schöne Literatur in diesem Herbst
Carl Friedrich Gauß ist acht Jahre alt, als sein mathematisches Genie von einem Dorfschullehrer entdeckt wird. Daniel Kehlmann, selbst kaum dreißigjährig, beschreibt den Jungen in seinem neuen Roman "Die Vermessung der Welt" (Rowohlt) als seufzenden Melancholiker mit triefender Nase, der auf den Vorwurf, es gehöre sich nicht, daß ein Kind immer traurig sei, Erstaunliches zur Antwort gibt. Er sei traurig, weil die Welt recht stümperhaft geschaffen sei, erklärt er dem jungen Mathematiker Bartels, und weil man es ohne Schlaf und Vergessen in ihr nicht aushalte: "Nicht wegsehen können war Traurigkeit. Wachsein war Traurigkeit. Erkennen, armer Bartels, war Verzweiflung. Warum, Bartels? Weil die Zeit immer verging." Gauß wird das Reich der Zahlen und das Weltall erforschen. Aber auch hinter den Sternen wartet nur der Tod.
Kehlmanns Roman über Gauß und den Naturforscher Alexander von Humboldt ist die leichthändig ineinander verwobene Doppelbiographie zweier großer Gelehrter, so unterhaltsam, humorvoll und auf schwerelose Weise tiefgründig und intelligent, wie man es hierzulande kaum für möglich hält. In bester angelsächsischer Manier legt Kehlmann einen handwerklich nahezu perfekten Roman vor, der zeigt, was deutsche Autoren in der Regel allenfalls in der Theorie wissen: daß Bildung nicht Ballast sein muß, sondern ein Vergnügen sein kann.
Ganz anders als Kehlmann, der Szenen und Dialoge sehr genau kalkuliert und seinem oft trockenen Humor nie die Zügel schießen läßt, hält es der noch einmal zwei Jahre jüngere Amerikaner Jonathan Safran Foer in seinem zweiten Roman "Extrem laut und unglaublich nah" (Kiepenheuer & Witsch). Foer ist ein literarisches Wunderkind, das fast alles kann und sich buchstäblich alles zutraut. Behandelte sein Debüt "Alles ist erleuchtet" (2003) den Holocaust und die Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, so geht es nun um das amerikanische Trauma, das der Terrorangriff vom 11. Septembber 2001 ausgelöst hat. Sein Ich-Erzähler ist ein achtjähriger Junge, der seinen Vater verloren hat und nun dessen rätselhaftem Vermächtnis nachspürt, wenn er nicht gerade seinen autoaggressiven Schüben nachgibt und sich selbst grün und blau schlägt. "Extrem laut und unglaublich nah" ist ein mitunter befremdlich anmutendes Feuerwerk der Trauerarbeit, eine Art Bewältigungsmarathon, phantasievoll, überraschend, anrührend, kitschig und eitel.
Daß nicht nur Menschen Trauer kennen, sondern auch die Dinge ihre Tränen haben, erfuhr Uwe Timm vor mehr als vierzig Jahren von einem Freund, den er wenig später aus den Augen verlieren sollte. Als er Jahrzehnte später den Spuren des Toten nachgeht, begegnet er auch dem Sohn des Freundes. Lukas Ohnesorg hat seinen Vater nie kennengelernt, denn der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin von einem Polizisten erschossen, bevor sein Kind geboren wurde. Aber als hätte er den Satz des Vaters von den Tränen der Dinge sein ganzes Leben im Ohr gehabt, hat Lukas Ohnesorg sein Haus in ein gewaltiges Sammelsurium verwandelt, ein Asyl der verstoßenen Dinge, die hier ihr Gnadenbrot fristen.
Die Erzählung "Der fremde Freund" (Kiepenheuer & Witsch) gibt der Ikone Benno Ohnesorg eine persönliche Geschichte zurück, aber eine Biographie Ohnesorgs darf der Leser sich nicht erwarten. Wie schon in "Am Beispiel meines Bruders" verfolgt Timm hier das Projekt einer Autobiographie auf Umwegen, die zugleich Auskunft über eine ganze Generation geben soll.
Um Familien, beschädigte, chaotische, trostlose, geht es auch in den Romanen von Arno Geiger, Hans-Ulrich Treichel und Irene Dische. Mit "Es geht uns gut" (Hanser), "Menschenflug" (Suhrkamp) und "Großmama packt aus" (Hoffmann & Campe) zeigen diese drei Autoren noch einmal, wie fruchtbar das unverwüstliche Genre des Familienromans nach wie vor ist, aber auch, wie wichtig vielen Autoren noch immer die Schrecken der Nazizeit als Ausgangspunkt und Hintergrund ihrer Schilderungen sind. Mittlerweile meldet sich mit Arno Geiger oder auch Eva Menasse bereits die Enkelgeneration zu Wort, um vor ihren eigenen Geschichten zunächst noch einmal die ihrer Eltern und Großeltern zu erzählen.
Daß nicht alle literarischen Wege in die Vergangenheit führen müssen, zeigt Matthias Polityckis vitalistisches Kuba-Epos "Herr der Hörner" (Luchterhand) ebenso wie Ingo Schulzes Roman "Neue Leben" (Berlin Verlag). Zwei Romane, zwei Kraftakte von jeweils etwa siebenhundert Seiten, was auf ein gewisses Selbstbewußtsein und beachtliche Energievorräte der Autoren schließen läßt. So unterschiedlich die Bücher auch sind, schon allein in der Wahl ihrer Schauplätze Kuba und Thüringen, eines haben sie leider gemeinsam: eine Hauptfigur, die den Leser nicht zu fesseln vermag. Beide Romane verlangen vom Leser, daß er sich ihnen für viele Stunden überläßt, bleiben aber die Gründe dafür schuldig. Schulzes Konstruktion eines fiktiven Herausgebers, die Fußnoten, der Anhang von 150 Seiten - all das baut mehr Distanz auf, als der Roman verkraften kann.
Wer zuviel wagt, kann ebenso scheitern wie derjenige, der zuwenig wagt. A. L. Kennedy wagt in jedem ihrer Bücher mehr, als ratsam scheint. Sie unternimmt extreme Gratwanderungen, scheut vor größter Drastik ebensowenig zurück wie vor größter Intimität und zartesten Gefühlsregungen. Aber die existentielle Wucht und innere Notwendigkeit ihrer Literatur trägt den Leser über alle Klippen und Abgründe. Ihr neuer Roman "Paradies" (Wagenbach) erzählt die Liebesgeschichte zweier Alkoholiker, eine Glückssuche, in deren Zentrum Hannah steht, eine Frau, die im geregelten Ablauf des bürgerlichen Lebens untergeht wie in einem reißenden Fluß. Wer den Kapitalismus erfunden hat, glaubt Hannah, könne gewiß kein Alkoholiker gewesen sein.
Ein Satz, dem Michel Houellebecq vermutlich zustimmen würde. Sein neuer Roman "Von der Unmöglichkeit einer Insel" (DuMont) handelt von der Gegenwart ebenso wie von der Zukunft und ähnelt darin dem neuen Buch des in England aufgewachsenen japanischen Autors Kazuo Ishiguro. "Alles, was wir geben mußten" (Blessing) beginnt wie eine klassische englische Internatsgeschichte. Aber die Kinder, die hier umsorgt und unterrichtet werden, sind geklonte Wesen. Bei Houellebecq ist der Klon der Übermensch der Zukunft, bei Ishiguro ist er ein menschliches Ersatzteillager, dessen einziger Lebenszweck darin besteht, Organe zu spenden. Houellebecqs Name ist in aller Munde, Ishiguro ist dem breiten Publikum einstweilen noch weitgehend unbekannt, obwohl die Verfilmung seines mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Romans "Was vom Tage übrigblieb" recht erfolgreich war. Jetzt dürfte er auch in Deutschland die Aufmerksamkeit erfahren, die ihm gebührt: "Alles, was wir geben mußten" ist ohne Frage der bedeutendste Roman dieses Bücherherbstes.
Er schildert das beklemmende Experiment, das in dem Internat Hailsham durchgeführt wird, um herauszufinden, ob die Klone eine Seele haben, also wie Menschen behandelt werden müssen. Dazu werden sie aufgezogen wie ganz normale Kinder - und so entwickeln sie sich auch. Einer der genialen Kunstgriffe Ishiguros besteht darin, daß er uns das Geschehen nur aus der Sicht der Klone beobachten läßt. Sie haben Träume und Sehnsüchte, sie lieben und leiden, aber ihr Schicksal in Frage stellen oder dagegen aufbegehren, das können sie nicht. Ihre Trauer ist von der gleichen Art wie die des kleinen Gauß, denn auch für sie bedeutet Erkennen Verzweiflung.
Die Welt ist vermessen, kartiert und entzaubert. Die Literatur ist es noch nicht. Bis in den hintersten Winkel sind die Forscher und Geodäten gekrochen, Chronometer und Sextanten aus Messing, blankgeputzt und fein graviert, in ihrem Gepäck. Da kann und will die Literaturkritik nicht mit. Sie nimmt ihre Gegenstände in die Hand, dreht und wendet sie, wirft sie in die Luft, um spielerisch Gewicht und Flugeigenschaften zu prüfen, lugt in alle Ecken und Ritzen und stellt sie zurück ins Regal, damit ein anderer komme, um die Prozedur auf seine Weise zu wiederholen: der Leser. Der Bücherherbst erwartet ihn.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erntezeit für Leser: Die schöne Literatur in diesem Herbst
Carl Friedrich Gauß ist acht Jahre alt, als sein mathematisches Genie von einem Dorfschullehrer entdeckt wird. Daniel Kehlmann, selbst kaum dreißigjährig, beschreibt den Jungen in seinem neuen Roman "Die Vermessung der Welt" (Rowohlt) als seufzenden Melancholiker mit triefender Nase, der auf den Vorwurf, es gehöre sich nicht, daß ein Kind immer traurig sei, Erstaunliches zur Antwort gibt. Er sei traurig, weil die Welt recht stümperhaft geschaffen sei, erklärt er dem jungen Mathematiker Bartels, und weil man es ohne Schlaf und Vergessen in ihr nicht aushalte: "Nicht wegsehen können war Traurigkeit. Wachsein war Traurigkeit. Erkennen, armer Bartels, war Verzweiflung. Warum, Bartels? Weil die Zeit immer verging." Gauß wird das Reich der Zahlen und das Weltall erforschen. Aber auch hinter den Sternen wartet nur der Tod.
Kehlmanns Roman über Gauß und den Naturforscher Alexander von Humboldt ist die leichthändig ineinander verwobene Doppelbiographie zweier großer Gelehrter, so unterhaltsam, humorvoll und auf schwerelose Weise tiefgründig und intelligent, wie man es hierzulande kaum für möglich hält. In bester angelsächsischer Manier legt Kehlmann einen handwerklich nahezu perfekten Roman vor, der zeigt, was deutsche Autoren in der Regel allenfalls in der Theorie wissen: daß Bildung nicht Ballast sein muß, sondern ein Vergnügen sein kann.
Ganz anders als Kehlmann, der Szenen und Dialoge sehr genau kalkuliert und seinem oft trockenen Humor nie die Zügel schießen läßt, hält es der noch einmal zwei Jahre jüngere Amerikaner Jonathan Safran Foer in seinem zweiten Roman "Extrem laut und unglaublich nah" (Kiepenheuer & Witsch). Foer ist ein literarisches Wunderkind, das fast alles kann und sich buchstäblich alles zutraut. Behandelte sein Debüt "Alles ist erleuchtet" (2003) den Holocaust und die Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, so geht es nun um das amerikanische Trauma, das der Terrorangriff vom 11. Septembber 2001 ausgelöst hat. Sein Ich-Erzähler ist ein achtjähriger Junge, der seinen Vater verloren hat und nun dessen rätselhaftem Vermächtnis nachspürt, wenn er nicht gerade seinen autoaggressiven Schüben nachgibt und sich selbst grün und blau schlägt. "Extrem laut und unglaublich nah" ist ein mitunter befremdlich anmutendes Feuerwerk der Trauerarbeit, eine Art Bewältigungsmarathon, phantasievoll, überraschend, anrührend, kitschig und eitel.
Daß nicht nur Menschen Trauer kennen, sondern auch die Dinge ihre Tränen haben, erfuhr Uwe Timm vor mehr als vierzig Jahren von einem Freund, den er wenig später aus den Augen verlieren sollte. Als er Jahrzehnte später den Spuren des Toten nachgeht, begegnet er auch dem Sohn des Freundes. Lukas Ohnesorg hat seinen Vater nie kennengelernt, denn der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin von einem Polizisten erschossen, bevor sein Kind geboren wurde. Aber als hätte er den Satz des Vaters von den Tränen der Dinge sein ganzes Leben im Ohr gehabt, hat Lukas Ohnesorg sein Haus in ein gewaltiges Sammelsurium verwandelt, ein Asyl der verstoßenen Dinge, die hier ihr Gnadenbrot fristen.
Die Erzählung "Der fremde Freund" (Kiepenheuer & Witsch) gibt der Ikone Benno Ohnesorg eine persönliche Geschichte zurück, aber eine Biographie Ohnesorgs darf der Leser sich nicht erwarten. Wie schon in "Am Beispiel meines Bruders" verfolgt Timm hier das Projekt einer Autobiographie auf Umwegen, die zugleich Auskunft über eine ganze Generation geben soll.
Um Familien, beschädigte, chaotische, trostlose, geht es auch in den Romanen von Arno Geiger, Hans-Ulrich Treichel und Irene Dische. Mit "Es geht uns gut" (Hanser), "Menschenflug" (Suhrkamp) und "Großmama packt aus" (Hoffmann & Campe) zeigen diese drei Autoren noch einmal, wie fruchtbar das unverwüstliche Genre des Familienromans nach wie vor ist, aber auch, wie wichtig vielen Autoren noch immer die Schrecken der Nazizeit als Ausgangspunkt und Hintergrund ihrer Schilderungen sind. Mittlerweile meldet sich mit Arno Geiger oder auch Eva Menasse bereits die Enkelgeneration zu Wort, um vor ihren eigenen Geschichten zunächst noch einmal die ihrer Eltern und Großeltern zu erzählen.
Daß nicht alle literarischen Wege in die Vergangenheit führen müssen, zeigt Matthias Polityckis vitalistisches Kuba-Epos "Herr der Hörner" (Luchterhand) ebenso wie Ingo Schulzes Roman "Neue Leben" (Berlin Verlag). Zwei Romane, zwei Kraftakte von jeweils etwa siebenhundert Seiten, was auf ein gewisses Selbstbewußtsein und beachtliche Energievorräte der Autoren schließen läßt. So unterschiedlich die Bücher auch sind, schon allein in der Wahl ihrer Schauplätze Kuba und Thüringen, eines haben sie leider gemeinsam: eine Hauptfigur, die den Leser nicht zu fesseln vermag. Beide Romane verlangen vom Leser, daß er sich ihnen für viele Stunden überläßt, bleiben aber die Gründe dafür schuldig. Schulzes Konstruktion eines fiktiven Herausgebers, die Fußnoten, der Anhang von 150 Seiten - all das baut mehr Distanz auf, als der Roman verkraften kann.
Wer zuviel wagt, kann ebenso scheitern wie derjenige, der zuwenig wagt. A. L. Kennedy wagt in jedem ihrer Bücher mehr, als ratsam scheint. Sie unternimmt extreme Gratwanderungen, scheut vor größter Drastik ebensowenig zurück wie vor größter Intimität und zartesten Gefühlsregungen. Aber die existentielle Wucht und innere Notwendigkeit ihrer Literatur trägt den Leser über alle Klippen und Abgründe. Ihr neuer Roman "Paradies" (Wagenbach) erzählt die Liebesgeschichte zweier Alkoholiker, eine Glückssuche, in deren Zentrum Hannah steht, eine Frau, die im geregelten Ablauf des bürgerlichen Lebens untergeht wie in einem reißenden Fluß. Wer den Kapitalismus erfunden hat, glaubt Hannah, könne gewiß kein Alkoholiker gewesen sein.
Ein Satz, dem Michel Houellebecq vermutlich zustimmen würde. Sein neuer Roman "Von der Unmöglichkeit einer Insel" (DuMont) handelt von der Gegenwart ebenso wie von der Zukunft und ähnelt darin dem neuen Buch des in England aufgewachsenen japanischen Autors Kazuo Ishiguro. "Alles, was wir geben mußten" (Blessing) beginnt wie eine klassische englische Internatsgeschichte. Aber die Kinder, die hier umsorgt und unterrichtet werden, sind geklonte Wesen. Bei Houellebecq ist der Klon der Übermensch der Zukunft, bei Ishiguro ist er ein menschliches Ersatzteillager, dessen einziger Lebenszweck darin besteht, Organe zu spenden. Houellebecqs Name ist in aller Munde, Ishiguro ist dem breiten Publikum einstweilen noch weitgehend unbekannt, obwohl die Verfilmung seines mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Romans "Was vom Tage übrigblieb" recht erfolgreich war. Jetzt dürfte er auch in Deutschland die Aufmerksamkeit erfahren, die ihm gebührt: "Alles, was wir geben mußten" ist ohne Frage der bedeutendste Roman dieses Bücherherbstes.
Er schildert das beklemmende Experiment, das in dem Internat Hailsham durchgeführt wird, um herauszufinden, ob die Klone eine Seele haben, also wie Menschen behandelt werden müssen. Dazu werden sie aufgezogen wie ganz normale Kinder - und so entwickeln sie sich auch. Einer der genialen Kunstgriffe Ishiguros besteht darin, daß er uns das Geschehen nur aus der Sicht der Klone beobachten läßt. Sie haben Träume und Sehnsüchte, sie lieben und leiden, aber ihr Schicksal in Frage stellen oder dagegen aufbegehren, das können sie nicht. Ihre Trauer ist von der gleichen Art wie die des kleinen Gauß, denn auch für sie bedeutet Erkennen Verzweiflung.
Die Welt ist vermessen, kartiert und entzaubert. Die Literatur ist es noch nicht. Bis in den hintersten Winkel sind die Forscher und Geodäten gekrochen, Chronometer und Sextanten aus Messing, blankgeputzt und fein graviert, in ihrem Gepäck. Da kann und will die Literaturkritik nicht mit. Sie nimmt ihre Gegenstände in die Hand, dreht und wendet sie, wirft sie in die Luft, um spielerisch Gewicht und Flugeigenschaften zu prüfen, lugt in alle Ecken und Ritzen und stellt sie zurück ins Regal, damit ein anderer komme, um die Prozedur auf seine Weise zu wiederholen: der Leser. Der Bücherherbst erwartet ihn.
HUBERT SPIEGEL
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
" Als "zwiespältige Angelegenheit" beschreibt Rezensentin Julia Encke ihr Lektüreerlebnis. Denn einerseits löste auch dieser Roman von Michel Houellebecq bei ihr zunächst "die allergrößte Abwehr" gegen seine "aufdringliche Schonungslosigkeit" aus. Andererseits gibt es aus ihrer Sicht zur Zeit wohl keinen zeitgenössischen Autor, der "die Obsession und Ängste westlicher Gesellschaften" so scharf analysiere. Und deswegen habe sie auch diesen Roman "bis zu seinem bitteren Ende" gelesen. Den Roman beschreibt die Rezensentin als "großen Seufzer", als Buch über "die panische Angst vor dem Alter", die oberflächlich betrachtet als Science-Fiction daher komme. Tatsächlich gebe sich Houellebecq hier als leidenschaftlicher Romantiker zu erkennen und genau das ist für die Rezensentin das Anrührende an diesem Buch. Die Rezensentin fragt sich auch, ob man Houellebecq nicht immer falsch verstanden habe, wenn man in ihm "unbedingt den Provokateur" sehen wollte. Hinter allen antiislamischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Zügen des Buches kann sie nämlich unter "der Maske des Clowns den kichernden Autor" erkennen, der taktisch die Gemüter errege und so nur weiter an Prominenz gewinne. Im vorliegenden Roman geht es aus ihrer Sicht nicht um Provokation. Eher seien "Übertreibung, Verschärfung, Radikalisierung" seine Stilmittel, mit denen er beschreiben würde, wie der Mensch an seiner Abschaffung arbeitet und mit dem Altern die Liebe immer unmöglicher wird.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2005Der Narr verlässt die Kampfzone
Am Ende: Michel Houellebecq und sein Roman „Die Möglichkeit einer Insel”
Hart und böse ist dieses Buch, von großer Genauigkeit und verblüffendem Scharfblick, wenn der Erzähler von seinem Leben als Komödiant erzählt. Daniel heißt dieser Mann, der in seiner Jugend in einer türkischen Ferienanlage sein Talent entdeckte, als er öffentlich in einen Sketch verwandelte, was er am Tag zuvor am Frühstücksbuffet erlebt hatte: wie eine alte, nur noch mit sich selbst beschäftigte Engländerin die letzten Würstchen ergattert, nach denen ein großer, dicker Deutscher schon seine Gabel ausstreckt. So etwas bringt die Leute zum Lachen, denn es lebt vom alltäglichen Rassismus, und es ist gemein. Das Gelächter aber schwillt ins Unermessliche an, wenn man sich ins Mikrophon zu brüllen traut, was der Stammtisch so phantasiert, was Anstand und politische Tugend aber nicht auszuprechen wagen: um das Sexualleben der Palästinenserinnen geht es in Daniels Darbietungen, um einen „Hass in Reinkultur” oder um das Töten von Fliegen mit einem Gummiband, stets eng am Tabu entlang, manchmal mitten hinein, aber immer so, dass die Sketche noch als komödiantische Veranstaltung zu erkennen sind.
Ein Held der moralischen Indifferenz ist dieser Daniel, die Inszenierung eines freien Geistes, und das Publikum quittiert jede Übertretung von Anstand und Geschmack mit brüllendem Gelächter und begeisterter Zustimmung: „Das Gute an dem Beruf eines Humoristen und ganz allgemein an der humoristischen Haltung zum Leben ist, daß man sich völlig ungestraft wie eine Drecksau benehmen kann, sich noch dazu die Bösartigkeit finanziell vergolden oder mit sexuellen Erfolgen vergüten lässt, und das alles mit Zustimmung der Öffentlichkeit.” In diesem Gestus ähnelt der Erzähler den Hofnarren der demokratischen Selbstkontrolle - Harald Schmidt und mehr noch Stefan Raab heißen sie hierzulande -, aber am meisten gleicht er dem Autor dieses Romans, gleicht er Michel Houellebecq selber.
Der wirkt zwar in der Regel nicht wie ein Komiker, er feixt nicht herum, denn sein Metier ist die Apokalypse. Und doch begleitet auch ihn, wenn er von der Katastrophe des Alterns, vom Tausch zwischen Sexualität und Geld, vom radikalen, hoffnungslose Individualismus erzählt, dasselbe erschrockene Gelächter, das auch die Spaßvögel des politisch Inkorrekten hervorrufen. Und so ist es nur konsequent, wenn er auch in Louis-Ferdinand Céline, dem bittersten aller französischen Romanciers des zwanzigsten Jahrhunderts, nur den „Komiker”, den Kollegen, erkennen mag.
„Die Möglichkeit einer Insel”, der heute - ein paar Tage vor der französischen Originalausgabe - auf Deutsch erscheinende, vierte Roman von Michel Houellebecq besteht zum größten Teil aus der (fiktiven) Autobiographie dieses Komödianten. Hier zieht einer die Summe seines Lebens, zunächst, so scheint es, weil er sich in den Möglichkeiten seiner Kunst erschöpft hat. Er kann das Lachen nicht mehr hören, das dem Menschen „augenblicklich alle Würde nimmt”, dieses Lachen, das im Unernst plötzlich die nackte Grausamkeit, den Hass erkennen lässt. Dann aber vor allem, weil er die Katastrophe aller Helden von Michel Houellebecq erleben muss: das Altern und damit den allmählichen, erzwungenen Abschied aus allen erotischen Verhältnissen. Und schließlich, weil sich Daniel, der Komödiant, am Ende des Buches selbst töten wird, um, Jahrhunderte nach diesen Ereignissen, einzugehen in ein ewiges Lebens, das von Klon zu Klon weitergegeben wird. Sein Lebensbericht soll, in einer Art von biographischer Induktion, seinen späten Abkömmlingen etwas von seinem geistigen Wesen vermitteln.
Daniel nennt sich einen „Clown”, aber er ist weniger ein solcher als vielmehr ein Narr. Der König aber dieses Narren ist die permissive Gesellschaft mit ihrem prinzipiell schlechten Gewissen. Auch dieser Souverän hört sich an, was sein Narr zu sagen hat, und wieder ist der Narr der einzige, der ihm die Wahrheit sagen darf. Er lauscht ihm mit Vergnügen, manchmal auch mit Betroffenheit, und fährt dann fort zu tun, was er zuvor schon tat. Als einen solchen Narren, als eine Figur der völligen Folgenlosigkeit des wahrhaftigen Sprechens, nimmt sich mittlerweile offenbar auch Michel Houellebecq wahr. Von allen Einsichten, die Michel Houellebecq bislang zum Verfassen von Romanen getrieben haben mögen, ist dies die fatalste - denn sie führt nicht nur ans Ende der Jugend, der Schönheit, der Sexualität oder des Geldes, sondern ans Ende des Schreibens.
Ein trauriger, satter Clown
Michel Houellebecq weiß, dass der Erfolg einem solchen „Clown” auf Dauer nicht wohl tun kann. Der Clown muss, wenn er gut sein will, etwas Gescheitertes an sich haben. Doch dieser Artist stürzt nicht, im Gegenteil, jeder Sturz wird ihm - dem Helden Daniel wie seinem Autor Michel Houellebecq - als Gelingen ausgelegt. So besteht alles Unglück, das dem Clown widerfährt, darin, dass er älter wird. Er erlebt das Schicksal eines professionellen, satten Clowns. Denn der falsche Bauch eines Clowns ist lustig und tragisch zugleich, der echte ist nur noch katastrophal.
Die Konzentration auf diese Katastrophe ist die große Schwäche dieses Romans: er ist ein Lamento, ein einziges großes Dokument der Wehleidigkeit, mit der ein fast Fünfzigjähriger quittiert, dass zuerst seine Lebensgefährtin runzlig wird und dass dann er selbst, nachdem sie ihn verlassen hat wie ein zum Sterben sich zurückziehendes Tier, nicht einmal mehr für die willigsten Frauen begehrenswert ist. Diesem Lamento ist der wüste Zorn gewichen, der Michel Houellebecqs frühe Romane auszeichnete, der Wille zum Skandal, der wütende Aufstand gegen die Normalität, das Korrekte und den radikalen Individualismus, der in der sexuellen Freizügigkeit den letzten Rest individueller Würde der freien Marktwirtschaft überantwortete.
Rückblickend betrachtet, ist diese verzweifelte Wut Stück für Stück, Buch für Buch aus dem Werk von Michel Houellebecq verschwunden, von der Novelle „Ausweitung der Kampfzone” (1994) über den Roman „Elementarteilchen” (1998) bis zum Roman „Plattform” (2002). Das Aufbegehren gegen eine gigantische, so politische wie soziale Zumutung ist fort, und damit die Dringlichkeit, das Fahrige, Disparate und doch unglaublich Insistierende, das Michel Houellebecqs Bücher als ebenso mangelhaft wie notwendig erscheinen ließen - und das Ausdruck einer Gemeinsamkeit war zwischen dem, was er als Schicksal empfand, und dem, was diese Gesellschaft als ihr Los erkannte.
Und so klagt Daniel: „Seit zehn Minuten hatte ich eine irrsinnige Lust ihnen zu sagen, daß auch ich diese Welt gern kennenlernen, mich mit ihnen amüsieren und die Nacht durchmachen wollte ... Doch dann sah ich zufällig mein Gesicht in einem Spiegel und kapierte: Ich war hoch in den Vierzigern ... Ich hatte keine Chance.” Mit einem solchen Lagebericht zur erotischen Malaise der Epoche kann Michel Houellebecq auf keinen Widerstand mehr rechnen. Und je mehr er auf seiner Verzweiflung als letzte, negative Projektion seiner selbst als einer Figur der Fruchtbarkeit, Vitalität und Überzeugungskraft insistierte, desto mehr offenbart sich in der geschilderten erotischen seine literarische Malaise.
Denn wo steckt das dramatische Potential eines solchen Elends? Im Traum von einer Insel, in der Liebe in all ihrer Dauerhaftigkeit, Treue und gegenseitiges Verstehen geben sollte? In gelegentlichen glücklichen Erfahrungen, die eintreten, wenn freundliche Kühe zu den Fenstern eines Berggasthofes hereinschauen? In der Wiederholung von lauter bekannten Motiven und Gestalten aus dem bisherigen Werk von Michel Houellebecq, angefangen vom fanatischen, aber geschlechtslosen Wissenschaftler, der an der Herstellung von Homunculi arbeitet über die Topologie der Insel Lanzarote bis zu den Hautproben, aus den die neuen Menschen gezüchtet werden sollen? Dies alles war schon einmal da, und aus der Wiederkehr entsteht hier kein neues Werk.
An die Stelle des Aufbegehrens ist in „Die Möglichkeit einer Insel” die Science-Fiction getreten. Das ist problematisch, denn der Leser spürt die Absicht in diesem Gestus von „eines Tages werden wir auf diese Welt als auf eine einzige Katastrophe zurückblicken”. Zu dieser Art von Fiktion gehört die mit allerlei Elementen aus dem Genre „Mord und Totschlag” dekorierte Geschichte der Sekte, die Daniels DNS eines späten Tages in den Kreislauf der Klone befördert. Sie ist grob den Berichten über die Sekte der Raelianer nachgebildet, die vor knapp zwei Jahren durch die Medien geisterten. Das Retortenhafte prägt auch diesen dramaturgischen Einfall. Er ist nur eine Tapete, eine bemalte Wand, die der Autor in seiner Willkür als Zukunft definiert.
Vielleicht erlebt Houellebecq nun selbst, was er an Jacques Prévert so furchtbar fand: Er geht als Autor an dem großen Einverständnis zugrunde, das seine Werke erwecken. Es ist, als setzte sich der Clown eine Gummipistole an die Schläfe, drückte ab - und fiele im Ernst tot um.
THOMAS STEINFELD
MICHEL HOUELLEBECQ: Die Möglichkeit einer Insel. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Verlag, Köln 2004. 446 Seiten, 24,90 Euro.
Das ist die Insel der Seligen: Man muss sie verlassen, wenn man die Vierzig überschreitet
Foto: Cathleen Naundorf
Unerwartete Begegnung mit dem Glück: Eine Kuh tritt in des Helden Leben
Foto: SMP/PSL
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Am Ende: Michel Houellebecq und sein Roman „Die Möglichkeit einer Insel”
Hart und böse ist dieses Buch, von großer Genauigkeit und verblüffendem Scharfblick, wenn der Erzähler von seinem Leben als Komödiant erzählt. Daniel heißt dieser Mann, der in seiner Jugend in einer türkischen Ferienanlage sein Talent entdeckte, als er öffentlich in einen Sketch verwandelte, was er am Tag zuvor am Frühstücksbuffet erlebt hatte: wie eine alte, nur noch mit sich selbst beschäftigte Engländerin die letzten Würstchen ergattert, nach denen ein großer, dicker Deutscher schon seine Gabel ausstreckt. So etwas bringt die Leute zum Lachen, denn es lebt vom alltäglichen Rassismus, und es ist gemein. Das Gelächter aber schwillt ins Unermessliche an, wenn man sich ins Mikrophon zu brüllen traut, was der Stammtisch so phantasiert, was Anstand und politische Tugend aber nicht auszuprechen wagen: um das Sexualleben der Palästinenserinnen geht es in Daniels Darbietungen, um einen „Hass in Reinkultur” oder um das Töten von Fliegen mit einem Gummiband, stets eng am Tabu entlang, manchmal mitten hinein, aber immer so, dass die Sketche noch als komödiantische Veranstaltung zu erkennen sind.
Ein Held der moralischen Indifferenz ist dieser Daniel, die Inszenierung eines freien Geistes, und das Publikum quittiert jede Übertretung von Anstand und Geschmack mit brüllendem Gelächter und begeisterter Zustimmung: „Das Gute an dem Beruf eines Humoristen und ganz allgemein an der humoristischen Haltung zum Leben ist, daß man sich völlig ungestraft wie eine Drecksau benehmen kann, sich noch dazu die Bösartigkeit finanziell vergolden oder mit sexuellen Erfolgen vergüten lässt, und das alles mit Zustimmung der Öffentlichkeit.” In diesem Gestus ähnelt der Erzähler den Hofnarren der demokratischen Selbstkontrolle - Harald Schmidt und mehr noch Stefan Raab heißen sie hierzulande -, aber am meisten gleicht er dem Autor dieses Romans, gleicht er Michel Houellebecq selber.
Der wirkt zwar in der Regel nicht wie ein Komiker, er feixt nicht herum, denn sein Metier ist die Apokalypse. Und doch begleitet auch ihn, wenn er von der Katastrophe des Alterns, vom Tausch zwischen Sexualität und Geld, vom radikalen, hoffnungslose Individualismus erzählt, dasselbe erschrockene Gelächter, das auch die Spaßvögel des politisch Inkorrekten hervorrufen. Und so ist es nur konsequent, wenn er auch in Louis-Ferdinand Céline, dem bittersten aller französischen Romanciers des zwanzigsten Jahrhunderts, nur den „Komiker”, den Kollegen, erkennen mag.
„Die Möglichkeit einer Insel”, der heute - ein paar Tage vor der französischen Originalausgabe - auf Deutsch erscheinende, vierte Roman von Michel Houellebecq besteht zum größten Teil aus der (fiktiven) Autobiographie dieses Komödianten. Hier zieht einer die Summe seines Lebens, zunächst, so scheint es, weil er sich in den Möglichkeiten seiner Kunst erschöpft hat. Er kann das Lachen nicht mehr hören, das dem Menschen „augenblicklich alle Würde nimmt”, dieses Lachen, das im Unernst plötzlich die nackte Grausamkeit, den Hass erkennen lässt. Dann aber vor allem, weil er die Katastrophe aller Helden von Michel Houellebecq erleben muss: das Altern und damit den allmählichen, erzwungenen Abschied aus allen erotischen Verhältnissen. Und schließlich, weil sich Daniel, der Komödiant, am Ende des Buches selbst töten wird, um, Jahrhunderte nach diesen Ereignissen, einzugehen in ein ewiges Lebens, das von Klon zu Klon weitergegeben wird. Sein Lebensbericht soll, in einer Art von biographischer Induktion, seinen späten Abkömmlingen etwas von seinem geistigen Wesen vermitteln.
Daniel nennt sich einen „Clown”, aber er ist weniger ein solcher als vielmehr ein Narr. Der König aber dieses Narren ist die permissive Gesellschaft mit ihrem prinzipiell schlechten Gewissen. Auch dieser Souverän hört sich an, was sein Narr zu sagen hat, und wieder ist der Narr der einzige, der ihm die Wahrheit sagen darf. Er lauscht ihm mit Vergnügen, manchmal auch mit Betroffenheit, und fährt dann fort zu tun, was er zuvor schon tat. Als einen solchen Narren, als eine Figur der völligen Folgenlosigkeit des wahrhaftigen Sprechens, nimmt sich mittlerweile offenbar auch Michel Houellebecq wahr. Von allen Einsichten, die Michel Houellebecq bislang zum Verfassen von Romanen getrieben haben mögen, ist dies die fatalste - denn sie führt nicht nur ans Ende der Jugend, der Schönheit, der Sexualität oder des Geldes, sondern ans Ende des Schreibens.
Ein trauriger, satter Clown
Michel Houellebecq weiß, dass der Erfolg einem solchen „Clown” auf Dauer nicht wohl tun kann. Der Clown muss, wenn er gut sein will, etwas Gescheitertes an sich haben. Doch dieser Artist stürzt nicht, im Gegenteil, jeder Sturz wird ihm - dem Helden Daniel wie seinem Autor Michel Houellebecq - als Gelingen ausgelegt. So besteht alles Unglück, das dem Clown widerfährt, darin, dass er älter wird. Er erlebt das Schicksal eines professionellen, satten Clowns. Denn der falsche Bauch eines Clowns ist lustig und tragisch zugleich, der echte ist nur noch katastrophal.
Die Konzentration auf diese Katastrophe ist die große Schwäche dieses Romans: er ist ein Lamento, ein einziges großes Dokument der Wehleidigkeit, mit der ein fast Fünfzigjähriger quittiert, dass zuerst seine Lebensgefährtin runzlig wird und dass dann er selbst, nachdem sie ihn verlassen hat wie ein zum Sterben sich zurückziehendes Tier, nicht einmal mehr für die willigsten Frauen begehrenswert ist. Diesem Lamento ist der wüste Zorn gewichen, der Michel Houellebecqs frühe Romane auszeichnete, der Wille zum Skandal, der wütende Aufstand gegen die Normalität, das Korrekte und den radikalen Individualismus, der in der sexuellen Freizügigkeit den letzten Rest individueller Würde der freien Marktwirtschaft überantwortete.
Rückblickend betrachtet, ist diese verzweifelte Wut Stück für Stück, Buch für Buch aus dem Werk von Michel Houellebecq verschwunden, von der Novelle „Ausweitung der Kampfzone” (1994) über den Roman „Elementarteilchen” (1998) bis zum Roman „Plattform” (2002). Das Aufbegehren gegen eine gigantische, so politische wie soziale Zumutung ist fort, und damit die Dringlichkeit, das Fahrige, Disparate und doch unglaublich Insistierende, das Michel Houellebecqs Bücher als ebenso mangelhaft wie notwendig erscheinen ließen - und das Ausdruck einer Gemeinsamkeit war zwischen dem, was er als Schicksal empfand, und dem, was diese Gesellschaft als ihr Los erkannte.
Und so klagt Daniel: „Seit zehn Minuten hatte ich eine irrsinnige Lust ihnen zu sagen, daß auch ich diese Welt gern kennenlernen, mich mit ihnen amüsieren und die Nacht durchmachen wollte ... Doch dann sah ich zufällig mein Gesicht in einem Spiegel und kapierte: Ich war hoch in den Vierzigern ... Ich hatte keine Chance.” Mit einem solchen Lagebericht zur erotischen Malaise der Epoche kann Michel Houellebecq auf keinen Widerstand mehr rechnen. Und je mehr er auf seiner Verzweiflung als letzte, negative Projektion seiner selbst als einer Figur der Fruchtbarkeit, Vitalität und Überzeugungskraft insistierte, desto mehr offenbart sich in der geschilderten erotischen seine literarische Malaise.
Denn wo steckt das dramatische Potential eines solchen Elends? Im Traum von einer Insel, in der Liebe in all ihrer Dauerhaftigkeit, Treue und gegenseitiges Verstehen geben sollte? In gelegentlichen glücklichen Erfahrungen, die eintreten, wenn freundliche Kühe zu den Fenstern eines Berggasthofes hereinschauen? In der Wiederholung von lauter bekannten Motiven und Gestalten aus dem bisherigen Werk von Michel Houellebecq, angefangen vom fanatischen, aber geschlechtslosen Wissenschaftler, der an der Herstellung von Homunculi arbeitet über die Topologie der Insel Lanzarote bis zu den Hautproben, aus den die neuen Menschen gezüchtet werden sollen? Dies alles war schon einmal da, und aus der Wiederkehr entsteht hier kein neues Werk.
An die Stelle des Aufbegehrens ist in „Die Möglichkeit einer Insel” die Science-Fiction getreten. Das ist problematisch, denn der Leser spürt die Absicht in diesem Gestus von „eines Tages werden wir auf diese Welt als auf eine einzige Katastrophe zurückblicken”. Zu dieser Art von Fiktion gehört die mit allerlei Elementen aus dem Genre „Mord und Totschlag” dekorierte Geschichte der Sekte, die Daniels DNS eines späten Tages in den Kreislauf der Klone befördert. Sie ist grob den Berichten über die Sekte der Raelianer nachgebildet, die vor knapp zwei Jahren durch die Medien geisterten. Das Retortenhafte prägt auch diesen dramaturgischen Einfall. Er ist nur eine Tapete, eine bemalte Wand, die der Autor in seiner Willkür als Zukunft definiert.
Vielleicht erlebt Houellebecq nun selbst, was er an Jacques Prévert so furchtbar fand: Er geht als Autor an dem großen Einverständnis zugrunde, das seine Werke erwecken. Es ist, als setzte sich der Clown eine Gummipistole an die Schläfe, drückte ab - und fiele im Ernst tot um.
THOMAS STEINFELD
MICHEL HOUELLEBECQ: Die Möglichkeit einer Insel. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Verlag, Köln 2004. 446 Seiten, 24,90 Euro.
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