Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Möwe im Sturm
Welche Poesie im Wasserkreislauf steckt, zeigen Anja Tuckermann und Daniela Chudzinski in ihrem hinreißenden Bilderbuch.
Von Susanne Klingenstein
Für Liebhaber der Farbe Blau - wer wäre das nicht? - ist das Buch von der listigen Möwe, die einen Kampf zwischen Meer und Himmel entfacht, ein Augenschmaus. Der scheinbar unschuldig gesprochene Eingangssatz der Möwe, "Ich will nur da sein, wo es blauer ist", löst durch die Spannung zwischen exklusivem "nur" und dem zunächst unverständlichen Komparativ (blauer) ein herrliches Naturschauspiel aus, das Daniela Chudzinski in satten, tiefbefriedigenden Farben in subtilsten Schattierungen der Blau-Grün-Palette dargestellt hat.
Es stellt sich heraus, dass die beiden Anwärter auf das blauere Blau keine Geringeren sind als Himmel und Meer. Beide beanspruchen die Bewunderung der Möwe für ihre Eigenheit. "Bei mir / sagte das Meer", so heißt es in der metrisch feinen Gedicht-Prosa Anja Tuckermanns, "kannst du sein / ich habe Tiefe / ich trage den Himmel." Der Himmel wirbt ebenfalls: "Bei mir geht es dir gut / da trägt dich der Wind / du siehst mein Blau und dich selbst / auf dem Spiegel des Wassers." Meerblau und Himmelblau beginnen ihr Ringen in einer geballten Spirale aus komplexestem Meer- und sommerigstem Himmelblau. Doch dann bittet das Meer die Wolken um Hilfe. Sie spucken Gischt in den Himmel. Das Meer wird Pazifikgrün. Die aufgewirbelten Wassertröpfchen auf dem nun gelbgiftgrünen Meer werden zu Wolken. "Weißgrau unterlag der Himmel."
Ist die Sache also entschieden? Die Wolken helfen nun wiederum dem Himmel und ergießen sich auflösend ins Meer, entschleiern das Blau des Himmels und jagen das Meer durch bleierne Schwärze in dunkelstes Grün. Doch kein Spiel ist von Dauer. Die Wolken verzehren sich im Regnen, kehren zum Meer zurück, dem sie entstiegen waren, und Himmelblau und Meerblau sind wieder, was sie waren. "Die Möwe saß am Strand / ließ sich nicht tragen vom Meer / kreiste nicht am Himmel / sie saß im gelben Sand / und sann nach einer List / das Schauspiel von Neuem zu beginnen."
Die Möwe hat den Sturm genossen. Als weiß-schwarzer Kontrapunkt mit roten Füßen und Schnabel fliegt sie durch alle Bilder. Wenn wir sie am Ende mit aufrührerischen Gedanken beschäftigt im gelben Sand sitzen sehen, begreifen wir plötzlich, dass dies nur scheinbar ein Buch über den Wasserkreislauf ist. Tatsächlich geht es um die emotionale Wirkung von Farben. Mit kosmischen Kräften spielend, bringt die Möwe ihre Farben ein: Weiß und Schwarz zum Aufhellen und Verdunkeln; Rot zur Abschattierung von Kobaltblau zu Indigo; Gelb zur Verwandlung von Meerblau in Meergrün.
Hinter dem etwas holprigen Titel "Die Möwe und ein Meer von Farben" verbirgt sich eine elegant formulierte und brillant illustrierte Geschichte, in der naturwissenschaftlich orientierte Leser gewiss die Darstellung von Wasserkreislauf und Farbenlehre entdecken. Aber eigentlich geht es darum, welche Veränderungen kleine Ingredienzen zuwege bringen können: ein hingeworfener Satz, ein Pfeil ins eifersüchtige Herz, ein Appell an den Stolz, ein Tupfen Rot, ein Klecks Gelb - und die Welt gerät in Aufruhr und verändert ihr Gesicht. Durfte die Möwe so mit allen spielen?
Wer mag, kann sich diesem ethischen Problem stellen. Oder sich einfach an den Farben dieses Buchs freuen.
Anja Tuckermann, Daniela Chudzinski: "Die Möwe und ein Meer von Farben".
Thienemann Verlag, Stuttgart 2011. 32 S., geb., 12,90 [Euro]. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welche Poesie im Wasserkreislauf steckt, zeigen Anja Tuckermann und Daniela Chudzinski in ihrem hinreißenden Bilderbuch.
Von Susanne Klingenstein
Für Liebhaber der Farbe Blau - wer wäre das nicht? - ist das Buch von der listigen Möwe, die einen Kampf zwischen Meer und Himmel entfacht, ein Augenschmaus. Der scheinbar unschuldig gesprochene Eingangssatz der Möwe, "Ich will nur da sein, wo es blauer ist", löst durch die Spannung zwischen exklusivem "nur" und dem zunächst unverständlichen Komparativ (blauer) ein herrliches Naturschauspiel aus, das Daniela Chudzinski in satten, tiefbefriedigenden Farben in subtilsten Schattierungen der Blau-Grün-Palette dargestellt hat.
Es stellt sich heraus, dass die beiden Anwärter auf das blauere Blau keine Geringeren sind als Himmel und Meer. Beide beanspruchen die Bewunderung der Möwe für ihre Eigenheit. "Bei mir / sagte das Meer", so heißt es in der metrisch feinen Gedicht-Prosa Anja Tuckermanns, "kannst du sein / ich habe Tiefe / ich trage den Himmel." Der Himmel wirbt ebenfalls: "Bei mir geht es dir gut / da trägt dich der Wind / du siehst mein Blau und dich selbst / auf dem Spiegel des Wassers." Meerblau und Himmelblau beginnen ihr Ringen in einer geballten Spirale aus komplexestem Meer- und sommerigstem Himmelblau. Doch dann bittet das Meer die Wolken um Hilfe. Sie spucken Gischt in den Himmel. Das Meer wird Pazifikgrün. Die aufgewirbelten Wassertröpfchen auf dem nun gelbgiftgrünen Meer werden zu Wolken. "Weißgrau unterlag der Himmel."
Ist die Sache also entschieden? Die Wolken helfen nun wiederum dem Himmel und ergießen sich auflösend ins Meer, entschleiern das Blau des Himmels und jagen das Meer durch bleierne Schwärze in dunkelstes Grün. Doch kein Spiel ist von Dauer. Die Wolken verzehren sich im Regnen, kehren zum Meer zurück, dem sie entstiegen waren, und Himmelblau und Meerblau sind wieder, was sie waren. "Die Möwe saß am Strand / ließ sich nicht tragen vom Meer / kreiste nicht am Himmel / sie saß im gelben Sand / und sann nach einer List / das Schauspiel von Neuem zu beginnen."
Die Möwe hat den Sturm genossen. Als weiß-schwarzer Kontrapunkt mit roten Füßen und Schnabel fliegt sie durch alle Bilder. Wenn wir sie am Ende mit aufrührerischen Gedanken beschäftigt im gelben Sand sitzen sehen, begreifen wir plötzlich, dass dies nur scheinbar ein Buch über den Wasserkreislauf ist. Tatsächlich geht es um die emotionale Wirkung von Farben. Mit kosmischen Kräften spielend, bringt die Möwe ihre Farben ein: Weiß und Schwarz zum Aufhellen und Verdunkeln; Rot zur Abschattierung von Kobaltblau zu Indigo; Gelb zur Verwandlung von Meerblau in Meergrün.
Hinter dem etwas holprigen Titel "Die Möwe und ein Meer von Farben" verbirgt sich eine elegant formulierte und brillant illustrierte Geschichte, in der naturwissenschaftlich orientierte Leser gewiss die Darstellung von Wasserkreislauf und Farbenlehre entdecken. Aber eigentlich geht es darum, welche Veränderungen kleine Ingredienzen zuwege bringen können: ein hingeworfener Satz, ein Pfeil ins eifersüchtige Herz, ein Appell an den Stolz, ein Tupfen Rot, ein Klecks Gelb - und die Welt gerät in Aufruhr und verändert ihr Gesicht. Durfte die Möwe so mit allen spielen?
Wer mag, kann sich diesem ethischen Problem stellen. Oder sich einfach an den Farben dieses Buchs freuen.
Anja Tuckermann, Daniela Chudzinski: "Die Möwe und ein Meer von Farben".
Thienemann Verlag, Stuttgart 2011. 32 S., geb., 12,90 [Euro]. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Genüsslich schwelgt Rezensentin Susanne Klingenstein in den farbsatten Illustrationen und der Eleganz der Prosagedichte dieses Kinderbuchs, in dem eine Möwe Himmel und Meer im Streit über das blauste Blau gegeneinander antreten lässt. Wer mag, kann hier eine wunderschön illustrierte Naturgeschichte des Wasserkreislaufs wie eine Demonstration der Farbenlehre entdecken, genauso aber geht es um die emotionale Wirkung der Farben, erklärt die begeisterte Rezensentin. Auch eine ethische Dimension lässt sich in ihren Augen in dem listig entfachten Wettkampf der Möwe entdecken, so Klingenberg, die das Buch aber zu allererst als "Augenschmaus" bewundert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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