Das gute und fromme Aschenputtel, die fleißige Dienstmagd, die schöne Königstochter, treue Diener, untreue Ehefrauen, Dumme und Kluge, Riesen und Teufel - diese und zahlreiche andere uns wohlbekannte Märchenfiguren begegnen uns wieder in Wilhelm Solms Buch, das der moralischen Botschaft in Grimms Märchen nachspürt und mit kritischem Blick auf unterschiedlichste Deutungsansätze einen wichtigen Beitrag zur Märchenforschung leistet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.1999Treue ist doch kein leerer Wahn
Stets zu Diensten: Wilhelm Solms gibt eine Märchenstunde
Eltern kennen das: Da hat eine wohlmeinende Großtante der kleinen Tochter ein schönes Buch geschenkt, und während man es dem begeisterten Nachwuchs zum ersten Mal vorliest, beschleicht einen das mulmige Gefühl, die hier vermittelten Werte paßten gar nicht zu den biographischen Bastelvorschlägen aus dem Erziehungsratgeber. Das müssen nicht gleich die Gewaltorgien aus dem "Struwwelpeter" ("Hei! Da schreit der Konrad") sein, schon bei der Moral vieler Geschichten sträuben sich die ideologischen Nackenhaare. Da hilft dann nur konsequentes Ausdiskutieren nach dem Sandmännchen oder das Verschwindenlassen der pädagogisch nicht korrekten Lektüre, ohne die Tante etwas merken zu lassen.
Mit Grimms Märchen ist das nicht anders. Zwar hat sich die Märchenforschung, ob psychoanalytisch oder marxistisch, redlich bemüht, ihren erzieherischen Nährwert zu bestimmen. Doch auch wenn sich Pädagogen weitgehend einig sind, daß Märchen heute noch gelesen werden sollten, gehen die Begründungen dafür auseinander. Wilhelm Solms, Märchenforscher in Marburg, kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, daß in Grimms Märchen nach wie vor aktuelle und lobenswerte moralische Vorstellungen vermittelt werden und sie deshalb ein unentbehrliches Instrument heutiger Erziehung seien.
Folgt man soziologischen Überlegungen über die Aushandlung moralischer Werte in Alltagskommunikationen, scheint es plausibel, daß die ursprünglich oral tradierten Märchen ein Ort des Moraldiskurses sind. Eine andere Frage ist jedoch, mit welchen Methoden man implizierte Handlungsnormen und Werte ermittelt und ob sie auch fast zweihundert Jahre später noch gelten sollen. Solms polemisiert gegen die unterschiedlichsten Formen bisheriger Märchenforschung, die ihre Resultate in die Texte hineininterpretiert habe. Er selber legt dagegen natürlich nichts "rein", sondern holt heraus nach dem Motto: Schief gewickelt sind immer die Interpretationssprößlinge der anderen.
Dabei begnügt sich seine Deutung oft mit inhaltlichen Paraphrasen oder "empirischen" Begründungen, die penibel abzählen, wie oft denn nun häßliche Töchter am Ende den Prinzen bekommen. Außerdem ist er wenig konsequent. Die an einer Stelle widerlegte These von Volker Klotz von der "naiven Ästhetik" des Märchens wird wenig später zustimmend zitiert. Man merkt dem Buch an, daß es nicht in einem Wurf entstanden ist, sondern sich auf frühere Arbeiten des Verfassers stützt. Zweifellos kennt Solms seine Märchen in- und auswendig. Auch kann man aus wissenschaftlicher Sicht eine Menge interessanter Dinge erfahren, etwa wie Ernst Bloch das tapfere Schneiderlein als listigen Widersacher der herrschenden Klassen deutete. Solms' beflissener Versuch, eine Lanze für das Märchenerzählen zu brechen, führt jedoch zu gezwungenen oder teilweise ärgerlichen Aktualisierungen. Bei seiner Interpretation von "Hänsel und Gretel" und verwandten Geschwistermärchen arbeitet er beispielsweise die Treue als "Kardinaltugend" heraus und verweist kritisch auf die Erosion heutiger Ehen und Familien, aber auch des Verhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Nicht selten spricht aus solchen überflüssigen privaten Meinungsäußerungen ein dumpfer Konservatismus. In "Frau Holle" erblickt Solms beispielsweise ein Lob des "dienstfertigen", "uneigennützigen" und "bodenständigen" Märchens: "Wer sich aus freiem Willen und selbstlos den von außen gesetzten Anforderungen unterwirft, wird reich belohnt, wer an seine eigenen Interessen denkt, wird hart bestraft". Diese Werte hätten sich "nicht grundlegend verändert". Tugendhaft sei nach wie vor "die Bereitschaft, von sich aus alle Anforderungen zu erfüllen und sich diesen Anforderungen gemäß ausbilden und umbilden zu lassen". Mit Joachim Heinrich Campe, den Solms ohne jede Ironie zitiert, wird "Dienstbarkeit" als weibliche Tugend schlechthin gefeiert. Dazu paßt natürlich prima, daß Solms ausgerechnet in diesem Kapitel den unveröffentlichten Text einer Mitarbeiterin "benutzt" hat, wie das Nachwort verrät. Was wäre der deutsche Ordinarius ohne seine tugendhaften Hilfskräfte.
Solms spekuliert weiterhin darüber, was ein häßliches Mädchen wohl empfinden mag, wenn es das Märchen von der schönen Königstochter liest ("außen hui innen pfui"?), oder sieht im "Dummling" ein Loblied des "widerspruchslosen" Gehorsams. Es ist überaus fraglich, ob Märchen tatsächlich auf dieser realistischen Ebene rezipiert werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Grausamkeit im Märchen betont Solms selbst ihren fiktionalen Charakter, der sich gegen eine naive Verrechnung mit der Wirklichkeit sperrt. Wenn Grimms Märchen wirklich die Botschaften enthalten würden, die Solms in ihnen erkennt, dann sollten wir sie in den pädagogischen Giftschrank stellen. Doch zum Glück für die Märchenleser überzeugen seine Lektüren wenig.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Wilhelm Solms: "Die Moral von Grimms Märchen". Primus Verlag, Darmstadt 1999. 250 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stets zu Diensten: Wilhelm Solms gibt eine Märchenstunde
Eltern kennen das: Da hat eine wohlmeinende Großtante der kleinen Tochter ein schönes Buch geschenkt, und während man es dem begeisterten Nachwuchs zum ersten Mal vorliest, beschleicht einen das mulmige Gefühl, die hier vermittelten Werte paßten gar nicht zu den biographischen Bastelvorschlägen aus dem Erziehungsratgeber. Das müssen nicht gleich die Gewaltorgien aus dem "Struwwelpeter" ("Hei! Da schreit der Konrad") sein, schon bei der Moral vieler Geschichten sträuben sich die ideologischen Nackenhaare. Da hilft dann nur konsequentes Ausdiskutieren nach dem Sandmännchen oder das Verschwindenlassen der pädagogisch nicht korrekten Lektüre, ohne die Tante etwas merken zu lassen.
Mit Grimms Märchen ist das nicht anders. Zwar hat sich die Märchenforschung, ob psychoanalytisch oder marxistisch, redlich bemüht, ihren erzieherischen Nährwert zu bestimmen. Doch auch wenn sich Pädagogen weitgehend einig sind, daß Märchen heute noch gelesen werden sollten, gehen die Begründungen dafür auseinander. Wilhelm Solms, Märchenforscher in Marburg, kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, daß in Grimms Märchen nach wie vor aktuelle und lobenswerte moralische Vorstellungen vermittelt werden und sie deshalb ein unentbehrliches Instrument heutiger Erziehung seien.
Folgt man soziologischen Überlegungen über die Aushandlung moralischer Werte in Alltagskommunikationen, scheint es plausibel, daß die ursprünglich oral tradierten Märchen ein Ort des Moraldiskurses sind. Eine andere Frage ist jedoch, mit welchen Methoden man implizierte Handlungsnormen und Werte ermittelt und ob sie auch fast zweihundert Jahre später noch gelten sollen. Solms polemisiert gegen die unterschiedlichsten Formen bisheriger Märchenforschung, die ihre Resultate in die Texte hineininterpretiert habe. Er selber legt dagegen natürlich nichts "rein", sondern holt heraus nach dem Motto: Schief gewickelt sind immer die Interpretationssprößlinge der anderen.
Dabei begnügt sich seine Deutung oft mit inhaltlichen Paraphrasen oder "empirischen" Begründungen, die penibel abzählen, wie oft denn nun häßliche Töchter am Ende den Prinzen bekommen. Außerdem ist er wenig konsequent. Die an einer Stelle widerlegte These von Volker Klotz von der "naiven Ästhetik" des Märchens wird wenig später zustimmend zitiert. Man merkt dem Buch an, daß es nicht in einem Wurf entstanden ist, sondern sich auf frühere Arbeiten des Verfassers stützt. Zweifellos kennt Solms seine Märchen in- und auswendig. Auch kann man aus wissenschaftlicher Sicht eine Menge interessanter Dinge erfahren, etwa wie Ernst Bloch das tapfere Schneiderlein als listigen Widersacher der herrschenden Klassen deutete. Solms' beflissener Versuch, eine Lanze für das Märchenerzählen zu brechen, führt jedoch zu gezwungenen oder teilweise ärgerlichen Aktualisierungen. Bei seiner Interpretation von "Hänsel und Gretel" und verwandten Geschwistermärchen arbeitet er beispielsweise die Treue als "Kardinaltugend" heraus und verweist kritisch auf die Erosion heutiger Ehen und Familien, aber auch des Verhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Nicht selten spricht aus solchen überflüssigen privaten Meinungsäußerungen ein dumpfer Konservatismus. In "Frau Holle" erblickt Solms beispielsweise ein Lob des "dienstfertigen", "uneigennützigen" und "bodenständigen" Märchens: "Wer sich aus freiem Willen und selbstlos den von außen gesetzten Anforderungen unterwirft, wird reich belohnt, wer an seine eigenen Interessen denkt, wird hart bestraft". Diese Werte hätten sich "nicht grundlegend verändert". Tugendhaft sei nach wie vor "die Bereitschaft, von sich aus alle Anforderungen zu erfüllen und sich diesen Anforderungen gemäß ausbilden und umbilden zu lassen". Mit Joachim Heinrich Campe, den Solms ohne jede Ironie zitiert, wird "Dienstbarkeit" als weibliche Tugend schlechthin gefeiert. Dazu paßt natürlich prima, daß Solms ausgerechnet in diesem Kapitel den unveröffentlichten Text einer Mitarbeiterin "benutzt" hat, wie das Nachwort verrät. Was wäre der deutsche Ordinarius ohne seine tugendhaften Hilfskräfte.
Solms spekuliert weiterhin darüber, was ein häßliches Mädchen wohl empfinden mag, wenn es das Märchen von der schönen Königstochter liest ("außen hui innen pfui"?), oder sieht im "Dummling" ein Loblied des "widerspruchslosen" Gehorsams. Es ist überaus fraglich, ob Märchen tatsächlich auf dieser realistischen Ebene rezipiert werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Grausamkeit im Märchen betont Solms selbst ihren fiktionalen Charakter, der sich gegen eine naive Verrechnung mit der Wirklichkeit sperrt. Wenn Grimms Märchen wirklich die Botschaften enthalten würden, die Solms in ihnen erkennt, dann sollten wir sie in den pädagogischen Giftschrank stellen. Doch zum Glück für die Märchenleser überzeugen seine Lektüren wenig.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Wilhelm Solms: "Die Moral von Grimms Märchen". Primus Verlag, Darmstadt 1999. 250 S., geb., 49,80 DM.
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