In den entwickelten Gesellschaften haben sich die durchschnittlichen Realeinkommen in den vergangenen 50 Jahren vervierfacht oder sogar verfünffacht. Die heutigen Waren und Dienstleistungen gleichen kaum mehr denen, die vor 50 oder 100 Jahren existierten. Nicht nur der Umfang, sondern auch das »Wo und Wie« des Konsumierens und Produzierens haben sich radikal verändert. Dennoch stammen viele unserer wichtigsten Vorstellungen von den Eigenschaften des Marktes und unserem angeblich typischen Marktverhalten aus einer Welt, die keinen verbreiteten Wohlstand und kein allgemeines Bildungswesen, sondern nur ausgesprochene Armut, umfassende Machtlosigkeit, verbreiteten Hunger und Analphabetismus kannte. Diesen Widerspruch versucht die vorliegende Studie zu analysieren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2007Der gute Konsum
Wird die Marktwirtschaft etwa von selber moralisch?
Auf den ersten Blick legt der Titel „Die Moralisierung der Märkte” die Erwartung nahe, hier werde ein weiteres Lehrstück zum Thema „Wirtschaftsethik” vorgelegt. Weit gefehlt. Nico Stehr ist ein genauer Beobachter und Deuter von Veränderungen, die seit einiger Zeit besonders in konsumnahen Märkten auffällig geworden sind. Dem Leser wird – mit nachvollziehbaren Gründen – vorgeführt, dass und wie moralische Motive sowohl auf Seiten der Produzenten als auch der Konsumenten mehr und mehr in das Marktgeschehen eindringen. Hier scheint etwas vor sich zu gehen, was kein Lehrbuch der Wirtschaftsethik und keine Predigt gegen den Irrsinn des Konsumrauschs zustande brächten – eine Entwicklung, die einer offenen, demokratischen Bürgergesellschaft durchaus angemessen ist.
Zwei historische Umstände sind es, so Stehr, die eine solche Entwicklung angeschoben und strukturiert haben: der gewachsene Wohlstand weiter Kreise der Bürgerschaft in den entwickelten Gesellschaften und der Zuwachs an Wissen, welches den Einzelnen immer besser in die Lage versetzt, seine Entscheidungen und sein Kaufverhalten zu fundieren und selbstbewusst zu steuern. Dies ist, wie Stehr zu Recht betont, ein Trend, dessen weiterer Verlauf nur schwer vorhersagbar ist. Aber nicht nur theoretische Herleitungen und Indizien, auch handfeste Fakten lassen ahnen, welch gravierende Veränderungen auf dem Weg sind und eine grundlegende Revision des traditionellen ökonomischen Marktschematismus erfordern. Stehr zeigt dies ausführlich und exemplarisch an der kurzen Geschichte des gestiegenen Umweltbewusstseins und der Biotechnologie, wo sich auf beiden Seiten des Marktes wirksame Entscheidungskriterien gebildet haben, teilweise unterstützt durch Politik und Gesetzgebung. Die Märkte moralisieren sich gewissermaßen selbst, gegen das konventionelle ökonomische Marktdenken und ohne Belehrungen von oben.
Die Schrift von Nico Stehr will mehr als nur zeigen, was geschieht und was sich daraus entwickeln könnte; sie bietet eine umfassende theoretische Einordnung der These von der Moralisierung der Märkte in die bekannten und immer gleichen Denkschemata und theoretischen Positionen der herrschenden neoklassischen Ökonomie und der Soziologie der Ökonomie. Die Moralisierung der Märkte ist ja nicht irgendeine beiläufige These, sondern eine zentrale Konfrontation gegenüber den Kernannahmen des ökonomischen Determinismus einerseits und den soziologischen Gegenpositionen der Kritik am modernen Kapitalismus andererseits. Deshalb der Untertitel: „Eine Gesellschaftstheorie”.
Unter dem Stichwort „Die Herrschaft des Wirtschaftsmenschen” wird ein Cluster von Positionen unter die Lupe genommen, welche die gegenwärtigen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der werteauflösenden Ökonomisierung der Gesellschaft diagnostizieren. Konträr dazu liegen Auffassungen, die „Vom Ende des Wirtschaftsmenschen” sprechen und auf eine wachsende Verleugnung der Überlegenheit ökonomischer Werte hinweisen, die die Tugenden kapitalistischen Wirtschaftens repräsentieren und dessen Erfolge bewirkt haben.
Kernpunkt der kritischen Auseinandersetzung mit diesen beiden Positionen ist die Frage, ob das herkömmliche Bild vom Markt als einem Gebilde der Begegnung zweier von antipodischen Interessen getriebener Gruppen von Marktagenten, nämlich den Produzenten und Konsumenten, der Wirklichkeit entspricht. Insbesondere den Konsumenten wird unrealistischerweise von ökonomischer Seite attestiert, sie agierten aus einer Position der Souveränität heraus – das ist die von der neoklassischen Ökonomie behauptete Rationalität des Konsumenten, der seine Eigeninteressen wahrt. Für die ebenso unrealistische Gegenposition ist der Konsument in die Rolle eines Opfers geraten, das von der Übermacht der Konzerne überwältigt wird und das Marktgeschehen nur passiv hinnimmt – das ist die Sicht von Kritikern des modernen Kapitalismus.
Dem Leser wird detailliert dargelegt, worin die Schwächen beider Positionen liegen, nämlich in empirisch nicht haltbaren Grundannahmen über das Verhalten der Produzenten und Konsumenten. Der herrschenden Ökonomie wird vorgehalten, dass sie ihre Theorie auf eine produzentenbezogene Sicht reduziert und die Seite der Konsumenten mit der Prämisse rationaler Entscheidungskompetenz deterministisch verschließt. Ihr entgeht daher die gesamte Vitalität des gesellschaftlichen Geschehens auf der Seite der Nachfrage, und sie erkennt nicht die Hebelwirkungen, die Konsumenten selbst dann entfalten können, wenn sie sich nur indirekt und unorganisiert zu den Angeboten der Produzenten äußern.
Wer mit Marktforschung vertraut ist, wird den kritischen Vorbehalt gegen den ökonomischen Determinismus bestätigen können: Alles, was hinter dem Vorhang der für ausgemacht gehaltenen Souveränität des Konsumenten und der Annahme zumindest tendenziell rationalen Kaufverhaltens geschieht, bleibt außerhalb des ökonomischen Fokus. Folglich treten Wirkungen des Marktgeschehens, die darüber hinausreichen – bis weit in die gesellschaftliche Praxis hinein – gar nicht erst in Erscheinung.
Diese Einwände gegen die neoklassischen Positionen der ökonomischen Theorie sind nicht neu; sie prallen aber offenbar immer wieder an der inneren Logik und Stringenz des ökonomischen Grundmodells ab, wie Nico Stehr selbst zugesteht. Das Dilemma liegt darin, dass die ökonomische Theorie im Grunde gar nicht erklärt, was real geschieht, sondern ein – aus den axiomatischen Grundannahmen des Marktmechanismus abgeleitetes – normatives Modell konstruiert, welches dann für die Praxis, für das wirtschaftspolitische und unternehmerische Handeln, als ein gefestigter Maßstab genutzt wird. Ein solches Modell, das nicht die Realität wiedergibt, sondern handlungsleitend wirken will, kann man nicht empirisch widerlegen. Dieses Modell hat sich die offensichtlichen Wohlstandseffekte als Erfolg zugerechnet – niemand könnte indes beweisen, ob diese nicht wegen, sondern trotz des ökonomischen Determinismus entstanden sind.
Ein kritischer Ansatzpunkt – auf den Stehr allerdings nur am Rande hinweist – könnte die enge Ausrichtung der Ökonomie auf dingliche Vorgänge sein: auf das Quantifizierbare, Monetarisierbare der Produktion, der Verteilung und der makroökonomischen Effekte. Eine solche Kritik könnte darauf verweisen, dass jegliche ökonomische Disposition in der Realität eine Kopfgeburt ist, also auf schöpferischen Ideen und dem Gestalten von Menschen beruht, die in real wirkende kulturelle Muster eingebettet sind. Kein wirtschaftendes Individuum agiert isoliert und unbeeinflusst von seiner gesellschaftlichen Umgebung. Daraus ergibt sich zwanglos die Wirkung und Bedeutung von Wissen, die wissensbasierte Ökonomie also, wie Stehr sie beschreibt. Den – linken ebenso wie den konservativen – Kritikern der modernen kapitalistischen Praxis hält Nico Stehr entgegen, dass sie beide, je auf ihre Weise, von einer selektiven Wahrnehmung ausgehen, die von ihren eigenen normativen Positionen bestimmt ist. Ihre Weltsicht sei von tiefer Skepsis hinsichtlich der kulturellen und moralischen Erosionen durch den modernen Industrialismus und Kommerzialismus gezeichnet – so die konservative Kritik – oder nehme die Machtpositionen wirtschaftlicher Großinstitutionen auf der Produzentenseite in einer Weise wahr, dass den einzelnen, ob Bürger oder Konsument, zwangsläufig nur der Leidensweg zunehmender Ohnmacht bleibt – so die linke Kritik.
Nico Stehr zeigt nun, dass sich auf eine oft nur indirekte Weise die angenommene Struktur der totalen Antipoden von Angebot und Nachfrage zu keiner Zeit in der Wirklichkeit herausgebildet hat; und dass sich in jüngster Zeit sogar eine Art von Gemeinschaftshandeln mit ungewollten Supraeffekten in der Marktgesellschaft zwischen Produzenten und Konsumenten zu zeigen begonnen hat, wodurch ein ganz anderes, vielfältigeres Bild der (Konsum-)Märkte entsteht. Ein Beispiel für solche wechselseitige Einflussnahme ist die rasante Entwicklung der Märkte für (wie man meint: ethisch saubere) ökologische Produkte (Lebensmittel, Kosmetika, Textilien) .
Das theoretisch Weitreichende an der These von der Moralisierung der Märkte ist die Feststellung Nico Stehrs, dass sich die eindimensionale Prämisse rationaler Nützlichkeitserwägungen bei Produzenten und Konsumenten auflöst – zugunsten eines Bündels von Entscheidungskriterien auf der Grundlage wissensbasierter Lebensführung, zu denen immer mehr Kriterien der Moral der Herstellung, des Vertriebs und des Gebrauchs von Erzeugnissen gehören. Offen bleibt bei Stehr, in welchem Maße neben Wissen auch gewandelte kulturelle (ästhetische, symbolische, soziale) Lebensmuster dabei mitspielen. Wissen, welches nicht in eine Persönlichkeitsformung integriert ist, also nicht auf „Bildung” beruht, führt ja nicht von selbst aus der Opferrolle heraus.
Ob der von Stehr beschriebene Trend in eine globale Entwicklung einmünden wird, ob er zu den gegenwärtigen Krisenerscheinungen etwa im Bereich des Klimawandels und der Naturzerstörung konstruktive Lösungen beiträgt, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Nico Stehr bleibt in dieser Frage wissenschaftlich seriös und zurückhaltend, bekennt jedoch ganz am Schluss, dass er „diese Entwicklung für gut” hielte.
Dieses Buch enthält eine Vielzahl von bemerkenswerten Argumentationen, die ganz gewiss nicht nur Soziologen interessieren dürften. Es besticht durch die Sorgfalt der Einordnung der These von der Moralisierung der Märkte in die bekannten, oft weit zurück reichenden Positionen von Theoretikern und Gesellschaftskritikern, und es gibt dem Leser einen durchgängigen Leitfaden bis zu den entscheidenden Passagen, in denen die Hauptthese exemplifiziert und empirisch untermauert wird. Was das Buch ebenfalls auszeichnet, ist die Haltung des Autors, nicht vorschnellen Ergebnissen Raum zu geben, sondern die Moralisierung der Märkte als einen Prozess darzulegen, der – wenn man will und es für richtig hält – wissenschaftlich und politisch gestützt werden könnte. PETER BENDIXEN
NICO STEHR: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 379 Seiten, 14 Euro.
Angebot und Nachfrage – das ist nichts als eine stringente Fiktion
Nico Stehr argumentiert gegen den ökonomischen Determinismus
Linke wie konservative Kritik am Kapitalismus lösen sich hier auf
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wird die Marktwirtschaft etwa von selber moralisch?
Auf den ersten Blick legt der Titel „Die Moralisierung der Märkte” die Erwartung nahe, hier werde ein weiteres Lehrstück zum Thema „Wirtschaftsethik” vorgelegt. Weit gefehlt. Nico Stehr ist ein genauer Beobachter und Deuter von Veränderungen, die seit einiger Zeit besonders in konsumnahen Märkten auffällig geworden sind. Dem Leser wird – mit nachvollziehbaren Gründen – vorgeführt, dass und wie moralische Motive sowohl auf Seiten der Produzenten als auch der Konsumenten mehr und mehr in das Marktgeschehen eindringen. Hier scheint etwas vor sich zu gehen, was kein Lehrbuch der Wirtschaftsethik und keine Predigt gegen den Irrsinn des Konsumrauschs zustande brächten – eine Entwicklung, die einer offenen, demokratischen Bürgergesellschaft durchaus angemessen ist.
Zwei historische Umstände sind es, so Stehr, die eine solche Entwicklung angeschoben und strukturiert haben: der gewachsene Wohlstand weiter Kreise der Bürgerschaft in den entwickelten Gesellschaften und der Zuwachs an Wissen, welches den Einzelnen immer besser in die Lage versetzt, seine Entscheidungen und sein Kaufverhalten zu fundieren und selbstbewusst zu steuern. Dies ist, wie Stehr zu Recht betont, ein Trend, dessen weiterer Verlauf nur schwer vorhersagbar ist. Aber nicht nur theoretische Herleitungen und Indizien, auch handfeste Fakten lassen ahnen, welch gravierende Veränderungen auf dem Weg sind und eine grundlegende Revision des traditionellen ökonomischen Marktschematismus erfordern. Stehr zeigt dies ausführlich und exemplarisch an der kurzen Geschichte des gestiegenen Umweltbewusstseins und der Biotechnologie, wo sich auf beiden Seiten des Marktes wirksame Entscheidungskriterien gebildet haben, teilweise unterstützt durch Politik und Gesetzgebung. Die Märkte moralisieren sich gewissermaßen selbst, gegen das konventionelle ökonomische Marktdenken und ohne Belehrungen von oben.
Die Schrift von Nico Stehr will mehr als nur zeigen, was geschieht und was sich daraus entwickeln könnte; sie bietet eine umfassende theoretische Einordnung der These von der Moralisierung der Märkte in die bekannten und immer gleichen Denkschemata und theoretischen Positionen der herrschenden neoklassischen Ökonomie und der Soziologie der Ökonomie. Die Moralisierung der Märkte ist ja nicht irgendeine beiläufige These, sondern eine zentrale Konfrontation gegenüber den Kernannahmen des ökonomischen Determinismus einerseits und den soziologischen Gegenpositionen der Kritik am modernen Kapitalismus andererseits. Deshalb der Untertitel: „Eine Gesellschaftstheorie”.
Unter dem Stichwort „Die Herrschaft des Wirtschaftsmenschen” wird ein Cluster von Positionen unter die Lupe genommen, welche die gegenwärtigen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der werteauflösenden Ökonomisierung der Gesellschaft diagnostizieren. Konträr dazu liegen Auffassungen, die „Vom Ende des Wirtschaftsmenschen” sprechen und auf eine wachsende Verleugnung der Überlegenheit ökonomischer Werte hinweisen, die die Tugenden kapitalistischen Wirtschaftens repräsentieren und dessen Erfolge bewirkt haben.
Kernpunkt der kritischen Auseinandersetzung mit diesen beiden Positionen ist die Frage, ob das herkömmliche Bild vom Markt als einem Gebilde der Begegnung zweier von antipodischen Interessen getriebener Gruppen von Marktagenten, nämlich den Produzenten und Konsumenten, der Wirklichkeit entspricht. Insbesondere den Konsumenten wird unrealistischerweise von ökonomischer Seite attestiert, sie agierten aus einer Position der Souveränität heraus – das ist die von der neoklassischen Ökonomie behauptete Rationalität des Konsumenten, der seine Eigeninteressen wahrt. Für die ebenso unrealistische Gegenposition ist der Konsument in die Rolle eines Opfers geraten, das von der Übermacht der Konzerne überwältigt wird und das Marktgeschehen nur passiv hinnimmt – das ist die Sicht von Kritikern des modernen Kapitalismus.
Dem Leser wird detailliert dargelegt, worin die Schwächen beider Positionen liegen, nämlich in empirisch nicht haltbaren Grundannahmen über das Verhalten der Produzenten und Konsumenten. Der herrschenden Ökonomie wird vorgehalten, dass sie ihre Theorie auf eine produzentenbezogene Sicht reduziert und die Seite der Konsumenten mit der Prämisse rationaler Entscheidungskompetenz deterministisch verschließt. Ihr entgeht daher die gesamte Vitalität des gesellschaftlichen Geschehens auf der Seite der Nachfrage, und sie erkennt nicht die Hebelwirkungen, die Konsumenten selbst dann entfalten können, wenn sie sich nur indirekt und unorganisiert zu den Angeboten der Produzenten äußern.
Wer mit Marktforschung vertraut ist, wird den kritischen Vorbehalt gegen den ökonomischen Determinismus bestätigen können: Alles, was hinter dem Vorhang der für ausgemacht gehaltenen Souveränität des Konsumenten und der Annahme zumindest tendenziell rationalen Kaufverhaltens geschieht, bleibt außerhalb des ökonomischen Fokus. Folglich treten Wirkungen des Marktgeschehens, die darüber hinausreichen – bis weit in die gesellschaftliche Praxis hinein – gar nicht erst in Erscheinung.
Diese Einwände gegen die neoklassischen Positionen der ökonomischen Theorie sind nicht neu; sie prallen aber offenbar immer wieder an der inneren Logik und Stringenz des ökonomischen Grundmodells ab, wie Nico Stehr selbst zugesteht. Das Dilemma liegt darin, dass die ökonomische Theorie im Grunde gar nicht erklärt, was real geschieht, sondern ein – aus den axiomatischen Grundannahmen des Marktmechanismus abgeleitetes – normatives Modell konstruiert, welches dann für die Praxis, für das wirtschaftspolitische und unternehmerische Handeln, als ein gefestigter Maßstab genutzt wird. Ein solches Modell, das nicht die Realität wiedergibt, sondern handlungsleitend wirken will, kann man nicht empirisch widerlegen. Dieses Modell hat sich die offensichtlichen Wohlstandseffekte als Erfolg zugerechnet – niemand könnte indes beweisen, ob diese nicht wegen, sondern trotz des ökonomischen Determinismus entstanden sind.
Ein kritischer Ansatzpunkt – auf den Stehr allerdings nur am Rande hinweist – könnte die enge Ausrichtung der Ökonomie auf dingliche Vorgänge sein: auf das Quantifizierbare, Monetarisierbare der Produktion, der Verteilung und der makroökonomischen Effekte. Eine solche Kritik könnte darauf verweisen, dass jegliche ökonomische Disposition in der Realität eine Kopfgeburt ist, also auf schöpferischen Ideen und dem Gestalten von Menschen beruht, die in real wirkende kulturelle Muster eingebettet sind. Kein wirtschaftendes Individuum agiert isoliert und unbeeinflusst von seiner gesellschaftlichen Umgebung. Daraus ergibt sich zwanglos die Wirkung und Bedeutung von Wissen, die wissensbasierte Ökonomie also, wie Stehr sie beschreibt. Den – linken ebenso wie den konservativen – Kritikern der modernen kapitalistischen Praxis hält Nico Stehr entgegen, dass sie beide, je auf ihre Weise, von einer selektiven Wahrnehmung ausgehen, die von ihren eigenen normativen Positionen bestimmt ist. Ihre Weltsicht sei von tiefer Skepsis hinsichtlich der kulturellen und moralischen Erosionen durch den modernen Industrialismus und Kommerzialismus gezeichnet – so die konservative Kritik – oder nehme die Machtpositionen wirtschaftlicher Großinstitutionen auf der Produzentenseite in einer Weise wahr, dass den einzelnen, ob Bürger oder Konsument, zwangsläufig nur der Leidensweg zunehmender Ohnmacht bleibt – so die linke Kritik.
Nico Stehr zeigt nun, dass sich auf eine oft nur indirekte Weise die angenommene Struktur der totalen Antipoden von Angebot und Nachfrage zu keiner Zeit in der Wirklichkeit herausgebildet hat; und dass sich in jüngster Zeit sogar eine Art von Gemeinschaftshandeln mit ungewollten Supraeffekten in der Marktgesellschaft zwischen Produzenten und Konsumenten zu zeigen begonnen hat, wodurch ein ganz anderes, vielfältigeres Bild der (Konsum-)Märkte entsteht. Ein Beispiel für solche wechselseitige Einflussnahme ist die rasante Entwicklung der Märkte für (wie man meint: ethisch saubere) ökologische Produkte (Lebensmittel, Kosmetika, Textilien) .
Das theoretisch Weitreichende an der These von der Moralisierung der Märkte ist die Feststellung Nico Stehrs, dass sich die eindimensionale Prämisse rationaler Nützlichkeitserwägungen bei Produzenten und Konsumenten auflöst – zugunsten eines Bündels von Entscheidungskriterien auf der Grundlage wissensbasierter Lebensführung, zu denen immer mehr Kriterien der Moral der Herstellung, des Vertriebs und des Gebrauchs von Erzeugnissen gehören. Offen bleibt bei Stehr, in welchem Maße neben Wissen auch gewandelte kulturelle (ästhetische, symbolische, soziale) Lebensmuster dabei mitspielen. Wissen, welches nicht in eine Persönlichkeitsformung integriert ist, also nicht auf „Bildung” beruht, führt ja nicht von selbst aus der Opferrolle heraus.
Ob der von Stehr beschriebene Trend in eine globale Entwicklung einmünden wird, ob er zu den gegenwärtigen Krisenerscheinungen etwa im Bereich des Klimawandels und der Naturzerstörung konstruktive Lösungen beiträgt, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Nico Stehr bleibt in dieser Frage wissenschaftlich seriös und zurückhaltend, bekennt jedoch ganz am Schluss, dass er „diese Entwicklung für gut” hielte.
Dieses Buch enthält eine Vielzahl von bemerkenswerten Argumentationen, die ganz gewiss nicht nur Soziologen interessieren dürften. Es besticht durch die Sorgfalt der Einordnung der These von der Moralisierung der Märkte in die bekannten, oft weit zurück reichenden Positionen von Theoretikern und Gesellschaftskritikern, und es gibt dem Leser einen durchgängigen Leitfaden bis zu den entscheidenden Passagen, in denen die Hauptthese exemplifiziert und empirisch untermauert wird. Was das Buch ebenfalls auszeichnet, ist die Haltung des Autors, nicht vorschnellen Ergebnissen Raum zu geben, sondern die Moralisierung der Märkte als einen Prozess darzulegen, der – wenn man will und es für richtig hält – wissenschaftlich und politisch gestützt werden könnte. PETER BENDIXEN
NICO STEHR: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 379 Seiten, 14 Euro.
Angebot und Nachfrage – das ist nichts als eine stringente Fiktion
Nico Stehr argumentiert gegen den ökonomischen Determinismus
Linke wie konservative Kritik am Kapitalismus lösen sich hier auf
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Peter Bendixen schätzt besonders die wissenschaftliche Zurückhaltung des Autors, keine "vorschnellen" Folgerungen aus seiner Analyse zu ziehen. Zunächst einmal würde Nico Stehr die bekannte These von der Moralisierung der Märkte theoretisch einordnen in die weit zurück reichenden Positionen sowohl des "ökonomischen Determinismus" als auch von deren gesellschaftskritischen Widersachern. Beide Standpunkte, referiert der Rezensent, gingen an der empirischen Realität des Konsumentenverhaltens jedoch vorbei, das sich dank Zunahme an Wohlstand und Wissen verändert habe. Jeder empirische Marktforscher wisse hingegen, dass sich eine Art von "Gemeinschaftshandeln" herausgebildet habe, dass von einer "wissensbasierten Lebensführung" heutiger Konsumenten bestimmt sei. Nico Stehr verweise hier auf den zunehmenden Markt mit ökologischen Produkten. Der Rezensent vermisst allerdings die Frage, welche auch kulturellen Veränderungen für die neuen Lebensmuster relevant seien, reines Wissen würde ja nicht allein zu verändertem Verhalten führen. Insgesamt aber trumpfe der Autor mit vielen "bemerkenswerten" Überlegungen auf, die nicht nur für den Fachsoziologen von Interesse seien.
© Perlentaucher Medien GmbH
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