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Produktdetails
  • Verlag: Böhlau Wien
  • 1996.
  • Seitenzahl: 235
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 732g
  • ISBN-13: 9783205985570
  • ISBN-10: 3205985575
  • Artikelnr.: 06556644
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Im Wetterleuchten der Revolution
Waltraud Bayer zu Besuch bei den Mäzenen von Moskau / Von Hans-Peter Riese

Erst mit der spektakulären Ausstellung der Sammlungen Morosow und Schtschukin 1993 in Essen wurde einer breiteren Öffentlichkeit die Tatsache bewußt, daß es im vorrevolutionären Rußland bedeutende Kunstsammler gegeben hatte. Ihre Namen waren nahezu vergessen, denn die nach 1917 enteigneten Sammlungen wurden in die großen nationalen Museen integriert, jeder Hinweis auf die Sammler getilgt. Selbst die Namensgeber der "Tretjakow-Galerie" in Moskau, die Gebrüder Tretjakow, blieben den meisten Besuchern des Museums unbekannt, obwohl ohne sie und ihr sammlerisches Engagement das Land überhaupt nicht über ein Museum der russischen nationalen Malerei hätte verfügen können.

Niemand erfuhr auch, daß die wunderbare Kollektion französischer Impressionisten, über die in St. Petersburg die Eremitage und in Moskau das Puschkin-Museum verfügen, von zwei Tuchfabrikanten zusammengetragen worden war, die bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts ihre Stadtpalais in Moskau stundenweise für eine begrenzte Öffentlichkeit geöffnet hatten. Zwar war jahrhundertelang in einem autokratischen Staat wie dem zaristischen Rußland der Zar nahezu allein für die Sammlungen zuständig, aber die russischen Herrscher waren durchweg nicht eben gebildete Kunstkenner. Peter I. interessierte sich mehr für Technik und legte eine berühmte Sammlung von Kuriosa an, Katharina die Große kaufte in Europa Sammlungen gleich en gros ein und begründete damit immerhin den unermeßlichen Reichtum der Eremitage, aber eine systematische Sammlertätigkeit des Hofes, vor allem für die russische Kunst, gab es nicht.

In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war denn auch das kulturelle Leben in der Hauptstadt St. Petersburg gegenüber westeuropäischen Metropolen eher armselig, in der "zweiten Hauptstadt", Moskau, schien dieser Begriff gänzlich unangebracht. Dafür aber begann sich Moskau zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zu einer dynamisch wachsenden Wirtschaftsmetropole zu entwickeln, die mehr und mehr aus dem Schatten des höfischen St. Petersburg heraustrat. Liest man heute die Beschreibung dieses Moskau von Zeitgenossen, so fühlt man sich an die gegenwärtige Situation erinnert. Boris Pasternak schrieb: "Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts - so lebt es in meiner Kindererinnerung - veränderte sich alles wie durch einen einzigen Zauberschlag. Moskau wurde vom rasenden Geschäftsgeist gepackt, der die wichtigsten Weltstädte regierte."

Diese Entwicklung war erst nach den gemäßigt liberalen Reformen von Zar Alexander II. und der Aufhebung der Leibeigenschaft überhaupt möglich, aber sie setzte mit der Wucht ein, die der historische Nachholbedarf produzierte. Vor allem in Moskau bildete sich nun erstmals ansatzweise eine gesellschaftliche Klasse, die es im zaristischen Rußland bisher nicht gegeben hatte: das Bürgertum. Sein Aufstieg vollzog sich im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern gleichsam im Zeitraffer eines knappen Jahrhunderts.

Um so erstaunlicher sind die mäzenatischen Leistungen dieses russischen Bürgertums, das in der industriellen "Gründerzeit" um die Mitte des Jahrhunderts relativ schnell zu enormen Vermögen gekommen war. Daß Waltraud Bayer diese Sammler und Mäzene "Die Moskauer Medici" nennt, ist eine verspätete Anerkennung einer kulturellen Leistung, die bezeichnenderweise nicht aus Rußland, sondern aus dem Westen kommt. Dem "russischen Bürger als Mäzen", so der Untertitel ihrer Studie, war nur eine Zeitspanne von 1850 bis zur Revolution 1917 vergönnt, die er aber so intensiv nutzte, daß der Großteil der russischen Museen heute noch ohne diese Privatsammlungen gar nicht denkbar wäre.

Dabei war dieses Bürgertum zunächst weitgehend ungebildet, ja geradezu "neureich" in des Wortes abscheulichster Bedeutung. Aber Waltraud Bayer zeigt in ihrer kulturhistorisch-soziologischen Studie einen überraschenden Zusammenhang auf, nämlich "die Förderung neuer Künste durch neue Eliten", die im Falle Rußlands nicht nur zur Anerkennung einer vom Adel weitgehend unabhängigen "Landeskultur" geführt hat, sondern gegen Ende des Jahrhunderts einer Avantgarde galt, die in ihrem antibürgerlichen Impetus schon das Wetterleuchten der Revolution abbildete.

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts unterstützten die Moskauer Mäzene (die Studie beschränkt sich auf Moskau, darf in ihren Schlußfolgerungen aber als gültig für das Land insgesamt gelten) die Oppositionsbewegung der Künstler gegen die erstarrten, vom Hof und dem Adel gelenkten Akademien. Diese "Wanderer-Maler", die "Peredwishniki", etablierten überhaupt erst einen nationalen Stil. Ihr Realismus enthielt eine starke soziale Komponente, die für das Bürgertum von Anfang an prägend war. Mäzene wie den Eisenbahnunternehmer Sawa Mamontow, der mit der Künstlerkolonie "Abramzewo" den Grundstein für die russische Moderne legte, kann man nur mit den legendären amerikanischen Mäzenen, etwa den Mellons, vergleichen. Erst die zweite Generation von Sammlern, bereits gebildeter und nicht selten auf ausländischen Universitäten erzogen, löste sich von der Fixierung auf die russische kulturelle Identitätssuche, die ihren Ausdruck im Realismus der "Wanderer" fand, und öffnete das Land für westliche Einflüsse.

Die Auswirkungen der Impressionisten-Sammlungen Morosows und Schtschukins auf die sich um die Jahrhundertwende formierende russische Avantgarde war enorm und ließe sich in Stilanalysen nachweisen. Leider entsprach es nicht dem methodologischen Ansatz der Arbeit von Waltraud Bayer, die Sammlungen kunsthistorisch zu analysieren und die Ergebnisse mit dem soziologischen Befund der jeweiligen Familien und ihrer Entwicklung zu vergleichen.

Wenn die Autorin ihr Resümee unter den Titel "Richesse oblige" stellt, so fühlt man sich abermals an die heutige "Klasse" der neuen Reichen erinnert, die allerdings jenen Prozeß noch durchlaufen müssen, den Waltraud Bayer für die Entwicklung des russischen Bürgertums vor der Revolution so beschreibt: "Dieser Wandel vom orientalisch anmutenden, zumeist analphabetischen, politisch passiven russischen Kaufmann zum modernen Unternehmer und Kunstmäzen, der in Vereinen und Salons Umgang mit Adeligen, Intellektuellen und Künstlern pflegte, unterstreicht die sozialen Umwälzungen ebenso wie die intellektuellen Veränderungen dieser Schicht."

Auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen wie kulturellen Entwicklung wurde diese Gruppe der "Medici" von der Revolution liquidiert. Allerdings gaben die Bolschewiki weder die Sammlungen dem Vandalismus preis, noch liquidierten sie die Besitzer physisch. Wie viele dieser Mäzene es längst vorgesehen hatten, wurden ihre Kollektionen in Museen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, manch einer von ihnen wurde sogar zum Kurator auf Lebenszeit bestellt und erhielt in seinem ehemaligen Palais Wohnrecht.

Aber diese Phase dauerte nicht lange. Außer der Tretjakow-Galerie trägt heute kein einziges Museum mehr den Namen eines dieser "Moskauer Medici". In den meisten Museen hat man sich bisher nicht einmal dazu verstehen können, die Kunstwerke ihren früheren Besitzern zuzuordnen. So kurz die ihnen von der Geschichte zugemessene Zeit aber auch gewesen ist, die kulturellen Leistungen des russischen Bürgertums können sich, wie Waltraud Bayer zu Recht schreibt, auch in Westeuropa mit seinem sich seit der Renaissance entwickelt Bürgertum sehen lassen. Die ungeheuren Ausmaße ihres mäzenatischen Engagements, das manchmal die Maßlosigkeit streift, läßt den Vergleich zur Dynastie der Medici, der Italien seine unvergleichlichen Sammlungen verdankt, gerechtfertigt erscheinen.

Waltraud Bayer: "Die Moskauer Medici". Der russische Bürger als Mäzen 1850 bis 1917. Böhlau Verlag, Wien 1996. 235 S., 12 SW- und 4 Farbabb., br., 58,- DM.

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