Woran die DDR gescheitert ist - das stalinistische Trauma der Gründergeneration: Die DDR war geprägt von Paranoia und Denunziation. Der Historiker und Publizist Andreas Petersen erzählt, wie es dazu kam, und erkundet das Trauma der Gründergeneration um Pieck und Ulbricht.
Sie hatten in Moskau die Jahre des Terrors erlebt, in denen Stalin mehr Spitzenkader der KPD ermorden ließ als Hitler. Angst und Verrat wurden für die Exilanten aus Deutschland zur schrecklichen Normalität.
Ab 1945 übernahmen die zurückgekehrten »Moskauer« die Führung in der sowjetisch besetzten Zone. Die ersten Jahre waren Stalin-Jahre, Zweifel und Fragen waren in der neu gegründeten SED nicht erwünscht. Die »Moskauer« hätten sich sonst der eigenen Verstrickung stellen müssen. Denn jeder von ihnen hatte jemanden denunziert, um sich selbst zu retten, und jeder wusste es vom Anderen. Ein Mantel des Schweigens legte sich über den neuen Staat.
Fesselnd schildert Andreas Petersen dieses Gründungstrauma und seine Folgen - ein lebendiges Psychogramm der führenden SED-Funktionäre, aber auch der Gesellschaft der DDR. Bis heute wird geschwiegen, Verwundungen, Ängste und Zorn sind nicht verschwunden. Ein aufrüttelndes Buch, das dazu beitragen kann, die noch immer spürbare Zerrissenheit zu überwinden.
Sie hatten in Moskau die Jahre des Terrors erlebt, in denen Stalin mehr Spitzenkader der KPD ermorden ließ als Hitler. Angst und Verrat wurden für die Exilanten aus Deutschland zur schrecklichen Normalität.
Ab 1945 übernahmen die zurückgekehrten »Moskauer« die Führung in der sowjetisch besetzten Zone. Die ersten Jahre waren Stalin-Jahre, Zweifel und Fragen waren in der neu gegründeten SED nicht erwünscht. Die »Moskauer« hätten sich sonst der eigenen Verstrickung stellen müssen. Denn jeder von ihnen hatte jemanden denunziert, um sich selbst zu retten, und jeder wusste es vom Anderen. Ein Mantel des Schweigens legte sich über den neuen Staat.
Fesselnd schildert Andreas Petersen dieses Gründungstrauma und seine Folgen - ein lebendiges Psychogramm der führenden SED-Funktionäre, aber auch der Gesellschaft der DDR. Bis heute wird geschwiegen, Verwundungen, Ängste und Zorn sind nicht verschwunden. Ein aufrüttelndes Buch, das dazu beitragen kann, die noch immer spürbare Zerrissenheit zu überwinden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2019Wer überlebte, schwieg
Der Historiker Andreas Petersen schildert, wie das Stalintrauma deutscher Kommunisten die junge DDR prägte
Wer war der entschiedenere Antikommunist: Hitler oder Stalin? Ginge es allein nach den getöteten Kommunisten, so zweifelsfrei Stalin. Er hat weitaus mehr Kommunisten ermorden lassen als Hitler. Seine Vernichtungsmaschinerie wütete jahrelang in der Sowjetunion. Ihr fielen nicht nur die erste Garde der kommunistischen Partei zum Opfer, sondern auch ungezählte einfache Kommunisten und Kommunistinnen.
Das gesamte Land überzogen Stalins Schergen mit Terror, Denunziation und Willkür. Und natürlich gerieten nicht nur Kommunisten ins Visier, jeden konnte es treffen. Eine Stringenz der Verfolgung gab es nicht, aber sehr wohl eine Logik. Stalin atomisierte bewusst die Gesellschaft, was absurd erscheint, steht doch der Kommunismus für Kollektivierung. Das Kollektiv sollte jedoch nicht einfach aus der alten Gesellschaft entstehen, sondern sich aus vielen voneinander gelösten Teilen neu zusammensetzen.
Das funktioniert in einem Polizei- und Terrorstaat durchaus, wenn Angst omnipräsent und Gewalt allerorten und immer verfügbar sind. Die Formung des neuen Kollektivs mittels Terrors hatte einen weiteren Zweck, einen Herrschaftszweck: Stalin benötigte für seine absolute Machtausübung eine ihm bedingungslos ergebene Dienerschaft. Die rekrutierte er aus den Überlebenden. Überleben unter Stalin hieß, korrumpiert zu sein. Keiner von Stalins Getreuen war unschuldig geblieben, niemand hatte kein Blut an den Händen.
Der Historiker Andreas Petersen beschreibt in seinem neuesten Buch den Terror in der Sowjetunion gegen deutsche Kommunisten. Als Hitler an die Macht kam, setzte kein Flüchtlingsstrom in die UdSSR ein. Stalin öffnete seine Grenzen nicht. Lediglich achttausend deutschen Kommunisten gestattete er in einem komplizierten Verfahren die Einreise und den dauerhaften Aufenthalt in der Sowjetunion. Nicht wenige bereuten alsbald ihre Emigration nach Osten. Nur 1400 überlebten und konnten 1945 nach Deutschland zurückkehren.
Das Buch von Petersen besticht durch eine dichte Darstellung der „Säuberungspraxis“. Der Autor erzählt immer wieder konkrete Schicksale, die keinen Leser unberührt lassen können. Gerade diese Beispiele verdeutlichen, dass es buchstäblich jeden treffen konnte. Die Überlebenschancen in der Sowjetunion für deutsche Kommunisten waren nicht sonderlich hoch. Und dabei ist es noch nicht einmal zu einem Schauprozess ausschließlich gegen KPD-Mitglieder gekommen, wie ihn Stalin ganz offensichtlich plante, als er sich mit Hitler 1939 auf einen Deal einließ. Nach diesem Schauprozess, so die Annahme nicht nur von Petersen, wäre die KPD endgültig zerschlagen gewesen.
Petersen lässt die KPD als verlängerten Arm der Moskauer Parteiführung erscheinen. Das ist historisch vollkommen zutreffend. Als 1919 die Kommunistische Internationale (Komintern) gegründet wurde, geschah dies in der Absicht, eine revolutionäre Weltpartei mit nationalen Sektionen aus der Taufe zu heben. Moskau war das Zentrum dieser Partei, die KPD die mächtigste nichtrussische Sektion. Aber sie war eben nur Teil eines Ganzen. Daher ist die immer wieder anzutreffende Verwunderung – ob im Blick auf die Zeit vor 1933, nach 1933 oder nach 1945 –, die deutschen Kommunisten wären nur Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger gewesen, historisch unverständlich. Denn das Selbstverständnis der moskautreuen Kommunisten in aller Welt – auch nach der Auflösung der Komintern 1943 – war, dass sich ihr Zentrum und ihre Befehlsausgabe in Moskau befänden. Andreas Petersen zeigt dies eindrücklich und mit vielen Beispielen in bedrückender Dichte auf.
Im sowjetischen Exil begannen die deutschen Kommunisten ihre Machtübernahme für die Zeit nach dem Untergang des Nationalsozialismus vorzubereiten. Als es 1945 so weit war, übernahmen in der Sowjetischen Besatzungszone vor allem deutsche Kommunisten aus dem sowjetischen Exil das Zepter. Nur sie garantierten den Sowjets, dass die Rituale von Kritik und Selbstkritik, Unterwerfung und Kontrolle auch in der SBZ Gültigkeit erlangen und die führende Rolle Moskaus uneingeschränkt akzeptiert werden würde.
In der gesamten Ulbricht-Ära hatten es Kommunisten, die zwischen 1933 und 1945 in der westlichen Emigration oder in Haftanstalten und Konzentrationslagern eingesperrt waren, außerordentlich schwer, politisch Fuß zu fassen. Anders als bei den Sowjetemigranten konnten die Parteiwächter und Parteikontrolleure nicht sicher feststellen, was die im Westen, wo auch immer, verbliebenen Kommunisten zwischen 1933 und 1945 tatsächlich getan, gesagt, gedacht hatten.
Andreas Petersen stellt erstmals systematisch dar, welch konstitutive Rolle die Terrorerfahrung in der Sowjetunion für den Aufbau der DDR spielte. Die durch Blut und Wegsehen erzwungenen Macht- und Herrschaftsrituale sollten nun auch beim Aufbau der kommunistischen Diktatur in der DDR zur Anwendung kommen. Stalins Tod am 5. März 1953 hat noch Schlimmeres verhindert. Die Herrschenden verzichteten danach auf einige besonders offenkundig terroristische Mittel, die Prinzipien aber blieben bestehen. Stalin hatte durch den Terror das Schweigen der Opfer erzwungen. Das funktionierte auch in der DDR. Kaum ein Überlebender des Gulag brach nach seiner Rückkehr das Schweigen; die Überlebenden ohne Gulag schon gar nicht. Schweigen ist ein wichtiger Kitt jeder funktionierenden Diktatur.
Petersens Buch liest sich wie ein Roman. Es ist spannend, enthält dramatische Höhepunkte und fordert Empathie auch dann heraus, wenn der Autor besonders nüchtern und zurückhaltend wie ein Chronist „nur“ festhält. Nur wenige kleinere Fehler sind ärgerlich. Der Architekt Kurt Liebknecht war kein Bruder, sondern ein Neffe von Karl Liebknecht; entgegen einer neueren Legende war Walter Ulbricht KPD-Mitglied der ersten Stunde und nicht erst seit 1920.
Überhaupt fällt auf, dass auch Petersen die überlebenden Funktionäre wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck oder Herbert Wehner nur als Vasallen zeichnet. Wer an Grautönen in der Geschichte interessiert ist, kommt hier nicht auf seine Kosten. Die gab es weder in der Erfahrungswelt in der sowjetischen Emigration noch später in der DDR für deutsche Kommunisten, so jedenfalls der Duktus des Autors.
Diese Sicht hängt auch damit zusammen, dass Petersen den Darstellungen abtrünniger Kommunisten wie Carola Stern, Wolfgang Leonhard, Hermann Weber, Ruth Fischer oder Margarete Buber-Neumann, um nur einige wenige zu erwähnen, unkritisch folgt. Deren Bücher über die Kommunismusgeschichte machten selbst Geschichte. Sie stellen unzweifelhaft wichtige Quellen dar. Seit Jahrzehnten werden sie aber wie unleugbare Tatsachenwerke hingenommen.
Tatsächlich standen ihre Autoren im Zeitalter des Kalten Krieges unter enormem Druck: Sie mussten beweisen, dass sie wirklich die Seiten gewechselt hatten. Dazu riefen sie allesamt Bilder und Klischees auf, die im Westen ohnehin über Ulbricht, Pieck, Stalin oder innere Vorgänge in der KP kursierten.
Die Schilderungen über Pieck und Ulbricht entsprangen einem nachvollziehbaren Zeitgeist. Wir können durch sie erfahren, wie die beiden kommunistischen Parteiführer in der Nachkriegszeit bis zu ihrem Ableben wahrgenommen, wie sie konstruiert wurden. Sicher, vieles davon stimmt auch. Aber niemand, auch nicht Ulbricht, auch nicht Pieck, ist immer nur eine kaltherzige, gefühllose Person. So wurden sie jahrzehntelang gezeichnet. Andreas Petersen reproduziert diese Bilder, ohne sie auch nur einmal zu hinterfragen. Das mag seiner Darstellung sehr entgegenkommen. Ob es der historischen Realität entspricht, werden weitere Forschungen noch zu erweisen haben.
Kritische Anmerkungen verdienen nur wichtige Bücher. Andreas Petersen hat ein solches Buch geschrieben. Es hat einen Vorzug, der wirklich außergewöhnlich ist. Historisch Interessierte mit geringen Vorkenntnissen können es zur Hand nehmen, um Grundlegendes zur kommunistischen Herrschaftspraxis zu erfahren. Experten wiederum erfahren neue Details. Zugleich regt die Studie über „Die Moskauer“ ungemein die wissenschaftliche Debatte über innerkommunistische Macht- und Herrschaftstechniken an. Mehr kann ein Sachbuch nicht erreichen.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Die KPD erscheint als
verlängerter Arm der
Moskauer Führung
Wer an Grautönen interessiert
ist, kommt in diesem Buch
nicht auf seine Kosten
Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 368 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Historiker Andreas Petersen schildert, wie das Stalintrauma deutscher Kommunisten die junge DDR prägte
Wer war der entschiedenere Antikommunist: Hitler oder Stalin? Ginge es allein nach den getöteten Kommunisten, so zweifelsfrei Stalin. Er hat weitaus mehr Kommunisten ermorden lassen als Hitler. Seine Vernichtungsmaschinerie wütete jahrelang in der Sowjetunion. Ihr fielen nicht nur die erste Garde der kommunistischen Partei zum Opfer, sondern auch ungezählte einfache Kommunisten und Kommunistinnen.
Das gesamte Land überzogen Stalins Schergen mit Terror, Denunziation und Willkür. Und natürlich gerieten nicht nur Kommunisten ins Visier, jeden konnte es treffen. Eine Stringenz der Verfolgung gab es nicht, aber sehr wohl eine Logik. Stalin atomisierte bewusst die Gesellschaft, was absurd erscheint, steht doch der Kommunismus für Kollektivierung. Das Kollektiv sollte jedoch nicht einfach aus der alten Gesellschaft entstehen, sondern sich aus vielen voneinander gelösten Teilen neu zusammensetzen.
Das funktioniert in einem Polizei- und Terrorstaat durchaus, wenn Angst omnipräsent und Gewalt allerorten und immer verfügbar sind. Die Formung des neuen Kollektivs mittels Terrors hatte einen weiteren Zweck, einen Herrschaftszweck: Stalin benötigte für seine absolute Machtausübung eine ihm bedingungslos ergebene Dienerschaft. Die rekrutierte er aus den Überlebenden. Überleben unter Stalin hieß, korrumpiert zu sein. Keiner von Stalins Getreuen war unschuldig geblieben, niemand hatte kein Blut an den Händen.
Der Historiker Andreas Petersen beschreibt in seinem neuesten Buch den Terror in der Sowjetunion gegen deutsche Kommunisten. Als Hitler an die Macht kam, setzte kein Flüchtlingsstrom in die UdSSR ein. Stalin öffnete seine Grenzen nicht. Lediglich achttausend deutschen Kommunisten gestattete er in einem komplizierten Verfahren die Einreise und den dauerhaften Aufenthalt in der Sowjetunion. Nicht wenige bereuten alsbald ihre Emigration nach Osten. Nur 1400 überlebten und konnten 1945 nach Deutschland zurückkehren.
Das Buch von Petersen besticht durch eine dichte Darstellung der „Säuberungspraxis“. Der Autor erzählt immer wieder konkrete Schicksale, die keinen Leser unberührt lassen können. Gerade diese Beispiele verdeutlichen, dass es buchstäblich jeden treffen konnte. Die Überlebenschancen in der Sowjetunion für deutsche Kommunisten waren nicht sonderlich hoch. Und dabei ist es noch nicht einmal zu einem Schauprozess ausschließlich gegen KPD-Mitglieder gekommen, wie ihn Stalin ganz offensichtlich plante, als er sich mit Hitler 1939 auf einen Deal einließ. Nach diesem Schauprozess, so die Annahme nicht nur von Petersen, wäre die KPD endgültig zerschlagen gewesen.
Petersen lässt die KPD als verlängerten Arm der Moskauer Parteiführung erscheinen. Das ist historisch vollkommen zutreffend. Als 1919 die Kommunistische Internationale (Komintern) gegründet wurde, geschah dies in der Absicht, eine revolutionäre Weltpartei mit nationalen Sektionen aus der Taufe zu heben. Moskau war das Zentrum dieser Partei, die KPD die mächtigste nichtrussische Sektion. Aber sie war eben nur Teil eines Ganzen. Daher ist die immer wieder anzutreffende Verwunderung – ob im Blick auf die Zeit vor 1933, nach 1933 oder nach 1945 –, die deutschen Kommunisten wären nur Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger gewesen, historisch unverständlich. Denn das Selbstverständnis der moskautreuen Kommunisten in aller Welt – auch nach der Auflösung der Komintern 1943 – war, dass sich ihr Zentrum und ihre Befehlsausgabe in Moskau befänden. Andreas Petersen zeigt dies eindrücklich und mit vielen Beispielen in bedrückender Dichte auf.
Im sowjetischen Exil begannen die deutschen Kommunisten ihre Machtübernahme für die Zeit nach dem Untergang des Nationalsozialismus vorzubereiten. Als es 1945 so weit war, übernahmen in der Sowjetischen Besatzungszone vor allem deutsche Kommunisten aus dem sowjetischen Exil das Zepter. Nur sie garantierten den Sowjets, dass die Rituale von Kritik und Selbstkritik, Unterwerfung und Kontrolle auch in der SBZ Gültigkeit erlangen und die führende Rolle Moskaus uneingeschränkt akzeptiert werden würde.
In der gesamten Ulbricht-Ära hatten es Kommunisten, die zwischen 1933 und 1945 in der westlichen Emigration oder in Haftanstalten und Konzentrationslagern eingesperrt waren, außerordentlich schwer, politisch Fuß zu fassen. Anders als bei den Sowjetemigranten konnten die Parteiwächter und Parteikontrolleure nicht sicher feststellen, was die im Westen, wo auch immer, verbliebenen Kommunisten zwischen 1933 und 1945 tatsächlich getan, gesagt, gedacht hatten.
Andreas Petersen stellt erstmals systematisch dar, welch konstitutive Rolle die Terrorerfahrung in der Sowjetunion für den Aufbau der DDR spielte. Die durch Blut und Wegsehen erzwungenen Macht- und Herrschaftsrituale sollten nun auch beim Aufbau der kommunistischen Diktatur in der DDR zur Anwendung kommen. Stalins Tod am 5. März 1953 hat noch Schlimmeres verhindert. Die Herrschenden verzichteten danach auf einige besonders offenkundig terroristische Mittel, die Prinzipien aber blieben bestehen. Stalin hatte durch den Terror das Schweigen der Opfer erzwungen. Das funktionierte auch in der DDR. Kaum ein Überlebender des Gulag brach nach seiner Rückkehr das Schweigen; die Überlebenden ohne Gulag schon gar nicht. Schweigen ist ein wichtiger Kitt jeder funktionierenden Diktatur.
Petersens Buch liest sich wie ein Roman. Es ist spannend, enthält dramatische Höhepunkte und fordert Empathie auch dann heraus, wenn der Autor besonders nüchtern und zurückhaltend wie ein Chronist „nur“ festhält. Nur wenige kleinere Fehler sind ärgerlich. Der Architekt Kurt Liebknecht war kein Bruder, sondern ein Neffe von Karl Liebknecht; entgegen einer neueren Legende war Walter Ulbricht KPD-Mitglied der ersten Stunde und nicht erst seit 1920.
Überhaupt fällt auf, dass auch Petersen die überlebenden Funktionäre wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck oder Herbert Wehner nur als Vasallen zeichnet. Wer an Grautönen in der Geschichte interessiert ist, kommt hier nicht auf seine Kosten. Die gab es weder in der Erfahrungswelt in der sowjetischen Emigration noch später in der DDR für deutsche Kommunisten, so jedenfalls der Duktus des Autors.
Diese Sicht hängt auch damit zusammen, dass Petersen den Darstellungen abtrünniger Kommunisten wie Carola Stern, Wolfgang Leonhard, Hermann Weber, Ruth Fischer oder Margarete Buber-Neumann, um nur einige wenige zu erwähnen, unkritisch folgt. Deren Bücher über die Kommunismusgeschichte machten selbst Geschichte. Sie stellen unzweifelhaft wichtige Quellen dar. Seit Jahrzehnten werden sie aber wie unleugbare Tatsachenwerke hingenommen.
Tatsächlich standen ihre Autoren im Zeitalter des Kalten Krieges unter enormem Druck: Sie mussten beweisen, dass sie wirklich die Seiten gewechselt hatten. Dazu riefen sie allesamt Bilder und Klischees auf, die im Westen ohnehin über Ulbricht, Pieck, Stalin oder innere Vorgänge in der KP kursierten.
Die Schilderungen über Pieck und Ulbricht entsprangen einem nachvollziehbaren Zeitgeist. Wir können durch sie erfahren, wie die beiden kommunistischen Parteiführer in der Nachkriegszeit bis zu ihrem Ableben wahrgenommen, wie sie konstruiert wurden. Sicher, vieles davon stimmt auch. Aber niemand, auch nicht Ulbricht, auch nicht Pieck, ist immer nur eine kaltherzige, gefühllose Person. So wurden sie jahrzehntelang gezeichnet. Andreas Petersen reproduziert diese Bilder, ohne sie auch nur einmal zu hinterfragen. Das mag seiner Darstellung sehr entgegenkommen. Ob es der historischen Realität entspricht, werden weitere Forschungen noch zu erweisen haben.
Kritische Anmerkungen verdienen nur wichtige Bücher. Andreas Petersen hat ein solches Buch geschrieben. Es hat einen Vorzug, der wirklich außergewöhnlich ist. Historisch Interessierte mit geringen Vorkenntnissen können es zur Hand nehmen, um Grundlegendes zur kommunistischen Herrschaftspraxis zu erfahren. Experten wiederum erfahren neue Details. Zugleich regt die Studie über „Die Moskauer“ ungemein die wissenschaftliche Debatte über innerkommunistische Macht- und Herrschaftstechniken an. Mehr kann ein Sachbuch nicht erreichen.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Die KPD erscheint als
verlängerter Arm der
Moskauer Führung
Wer an Grautönen interessiert
ist, kommt in diesem Buch
nicht auf seine Kosten
Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 368 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Fabian Wolff nimmt es mit Humor und sieht in Andreas Petersens Studie "Die Moskauer" einen Beitrag zur Debatte um DDR-Trauma und Migrationshintergrund. Der Historiker Petersen beleuchtet in seinem Psychogramm der alten KPD-Führung, wie Ulbricht, Pieck und Co. von ihren Exil-Erfahrungen in Stalins Moskau geprägt wurden und wie sie damit der DDR den Stempel aufdrückten: Denunzieren oder denunziert werden. Wie Petersen die Atmosphäre der Angst und des Terrors in Moskau schildert, lässt Fabian gelten, zumal Petersen viele bekannte Quellen nutzt. Den von der Totalitarismustheorie geprägten Deutungen des Autors kann der Kritiker allerdings nichts abgewinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2019Wenn Lügen überlebenswichtig wird
Die Gründerväter der DDR - von gegenseitigem Misstrauen und Sprachlosigkeit geprägt
"Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." Diese Sätze stehen in den Erinnerungen von Wolfgang Leonhard. Walter Ulbricht soll sie am 1. Mai 1945 in Berlin gesagt haben, kurz nachdem ein sowjetisches Flugzeug ihn und seine Gefährten aus Moskau nach Deutschland zurückgebracht hatte. Manch einer mag noch gehofft haben, nach der zwölfjährigen Schreckenszeit könnten sich in Deutschland neue Wege in den Sozialismus eröffnen, die sich von der sowjetischen Diktatur unterschieden. Die "Moskauer" aber schufen Tatsachen. Sie setzten ihren autoritären, stalinistischen Stil gegen alle Widerstände durch. Und am Ende kam es so, wie Ulbricht es vorausgesagt hatte. Andreas Petersen spricht vom "Stalintrauma" als dem Gründungsakt der DDR. Ulbricht und seine Genossen, die in den dreißiger Jahren in die Sowjetunion emigrierten, seien durch Terror, Furcht und Schrecken sozialisiert worden, und diese Erfahrungen seien für die Einrichtung der Macht in der DDR entscheidend gewesen.
Natürlich weiß auch Petersen, dass die KPD eine autoritäre und hierarchisch strukturierte Partei war, noch bevor ihre leitenden Funktionäre nach 1933 in die Sowjetunion flüchteten. Ihre eigentliche Feuertaufe aber hätten Ulbricht, Pieck und andere erst im Heimatland der Revolution erhalten. Abgeschnitten und isoliert, waren die deutschen Kommunisten ihren Gastgebern ausgeliefert. Kaum einer sprach Russisch oder verstand, worauf es die Hetzjagd auf vermeintliche Saboteure und Spione abgesehen hatte. Nacht für Nacht wurden im Hotel "Lux", in dem die deutschen Funktionäre wohnten, Menschen aus ihren Zimmern geholt und in die Lubjanka gebracht. Sie wurden erschossen oder in Zwangsarbeitslager verschleppt, ohne dass die Angehörigen je erfuhren, was man ihnen zur Last legte.
Aber welche Wahl hatten Emigranten schon, die nirgendwo hingehen konnten? In wenigen Wochen lernten sie, worauf es im Überlebenskampf ankam. Schon bald kam ihnen die Lüge automatisch von den Lippen, Verstellung und Misstrauen wurden ihnen zur zweiten Natur. Wer die Schule der Paranoia absolviert hatte, war bereit, alles für möglich zu halten. Danach, so Petersen, habe kein Kommunist es mehr gewagt, Widerworte zu geben. Selbst die absurdesten Verschwörungstheorien habe man nun für glaubhaft halten müssen. Nach dem ersten Moskauer Schauprozess gegen prominente Bolschewiki lieferte die Kaderabteilung der KPD dem NKWD Informationen über Verräter und Spione in den eigenen Reihen. In der deutschen Parteipresse erschienen hysterische Aufrufe: Der "menschliche Abschaum" müsse ausgerottet und "alle noch vorhandenen Überreste des Gesindels unschädlich" gemacht werden. Der Gulag und die Lubjanka waren Orte irdischer Verdammnis, eine moderne Variante der Disziplinierung durch Furcht. Seht her, wohin ihr kommen werdet, wenn ihr nicht gehorcht! Alle deutschen Kommunisten, die das Jahr 1937 überlebt hatten, verinnerlichten diese eine Lehre: Liebe den Gehorsam und die Lüge, denn sie retten dir das Leben. Die Partei und ihre Generallinie wurden zum Über-Ich, zur einzigen Erklärungsressource, aus dem sich noch Sinn schöpfen ließ. Hugo Eberlein, der gefoltert worden und ohne Verhandlung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, schrieb in einem Brief an Wilhelm Pieck, dass die "Partei Lenins" diese "schreckliche Ungerechtigkeit" nicht zulassen werde. Er konnte und wollte sich Stalin nicht als Urheber all dieser Verbrechen vorstellen. Eberlein wurde 1941 erschossen, Pieck verlor kein Wort mehr über ihn.
Die seelischen Wirkungen waren verheerend. Es gab irgendwann kein Gemeinschaftsleben mehr, Gespräche verstummten. "Die deutsche Emigration hier ist völlig atomisiert", schrieb der Kommunist Franz Schwarzmüller an Stalin. "Jeder lebt für sich in seinen vier Wänden, aus Furcht vor Verhaftungen in seinem Bekanntenkreis oder sonstwo ebenfalls hineingezogen oder zumindest diskreditiert zu werden." Die Emigrantengemeinde richtete sich in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Sprachlosigkeit ein. Aber in ihr entstand auch der stalinistische Funktionär, der Meinungen aufgab und Freunde opferte, wenn es von ihm verlangt wurde. Man pries die Mörder der eigenen Kinder und besang den Diktator, der für die Mordexzesse verantwortlich war. Walter Ulbricht war ein Mann von geringem Verstand. Aber er war ein höriger Vasall Stalins. In Moskau lernte er, wie man Konkurrenten ausschaltete und welche Mittel im Überlebenskampf von Nutzen waren. Petersen schreibt: "Diese Lektion nahm Ulbricht vollständig in sich auf. Seine Härte, sein Dogmatismus und seine Gefühlskälte verfestigten sich in den Moskauer Jahren zu jenem Funktionärstypus, den Stalin zur Terrorherrschaft brauchte."
Als der Krieg zu Ende ging, gab es für Stalin überhaupt keinen Zweifel, dass die "Moskauer" den neuen Staat auf deutschem Boden errichten sollten. Kommunisten, die im Untergrund, im westlichen Ausland oder in den Lagern der Nationalsozialisten gewesen waren, konnte Stalin nicht gebrauchen. Ulbricht und seine Genossen hingegen waren bereit, jeden Befehl auszuführen. Was die Moskauer selbst erlitten hatten, gaben sie nun an die Deutschen weiter, die sich ihrer Herrschaft beugen mussten. Zehntausende verschwanden in den Lagern der sowjetischen Besatzungsmacht, wurden erschossen oder in die Sowjetunion deportiert. Auch in der DDR wurde die Sprache des Terrors gesprochen. Man solle "Schädlinge" ausrotten und "Schumacher-Agenten" entlarven, so lauteten die Parolen, die in der Partei neuen Typs aufgesagt werden mussten. Auch in der DDR wurden Schauprozesse nach sowjetischem Muster vorbereitet, Spanien-Kämpfer, Juden und Westemigranten als Spione und Agenten des amerikanischen Imperialismus diskreditiert. Im Stahlbad des Terrors verwandelte sich die SED in eine stalinistische Kaderpartei. Petersen spricht vom "Purgatorium", das den stalinistischen Funktionär hervorbrachte.
Für all jene, die das Jahr 1937 in der Sowjetunion erlebt hatten, sei die Wiederkehr der Gewalt aber auch ein Akt der Retraumatisierung gewesen. Niemand konnte und wollte über die erlittene Gewalt sprechen, was geschehen war, musste verschwiegen oder umgeschrieben werden. Die Partei war der einzige Lebensraum, der den Davongekommenen geblieben war. Nie verließ sie die Angst, aber im Angesicht der Wahrheit, die man über diese Erfahrungen hätte aussprechen können, wäre das System zusammengebrochen. Hätte man sich nach all den Entbehrungen eingestehen sollen, einer falschen Sache gedient zu haben? Wer hätte über die Ohnmacht und die Demütigungen, die einem zugefügt worden waren, überhaupt sprechen können? Das Weltvertrauen war zerstört und mit ihm die Möglichkeit, anderen zu vertrauen. Am Ende siegte das Gefühl der Dankbarkeit über das Bedürfnis, das Unausgesprochene zur Sprache zu bringen. Man war noch einmal davongekommen, und man hatte diese Gnade nur dem Großmut der Partei zu verdanken. Immerhin konnte man anderen antun, was einem selbst angetan worden war. Und nach allem, was die "Moskauer" erlebt und erlitten hatten, konnten sie die Gewalt als reinigendes Gewitter rechtfertigen, als Purgatorium, das Sünder in Erlöste verwandelte. Andreas Petersen hat ein wichtiges, notwendiges Buch geschrieben. Es ist dem Leben auf der Spur, das sich hinter den Erzählungen vom Leben verbirgt. Über die DDR und ihre Gründungsväter wird man nach der Lektüre dieses klugen Buches wahrscheinlich anders sprechen müssen als bisher.
JÖRG BABEROWSKI
Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2019. 384 S., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gründerväter der DDR - von gegenseitigem Misstrauen und Sprachlosigkeit geprägt
"Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." Diese Sätze stehen in den Erinnerungen von Wolfgang Leonhard. Walter Ulbricht soll sie am 1. Mai 1945 in Berlin gesagt haben, kurz nachdem ein sowjetisches Flugzeug ihn und seine Gefährten aus Moskau nach Deutschland zurückgebracht hatte. Manch einer mag noch gehofft haben, nach der zwölfjährigen Schreckenszeit könnten sich in Deutschland neue Wege in den Sozialismus eröffnen, die sich von der sowjetischen Diktatur unterschieden. Die "Moskauer" aber schufen Tatsachen. Sie setzten ihren autoritären, stalinistischen Stil gegen alle Widerstände durch. Und am Ende kam es so, wie Ulbricht es vorausgesagt hatte. Andreas Petersen spricht vom "Stalintrauma" als dem Gründungsakt der DDR. Ulbricht und seine Genossen, die in den dreißiger Jahren in die Sowjetunion emigrierten, seien durch Terror, Furcht und Schrecken sozialisiert worden, und diese Erfahrungen seien für die Einrichtung der Macht in der DDR entscheidend gewesen.
Natürlich weiß auch Petersen, dass die KPD eine autoritäre und hierarchisch strukturierte Partei war, noch bevor ihre leitenden Funktionäre nach 1933 in die Sowjetunion flüchteten. Ihre eigentliche Feuertaufe aber hätten Ulbricht, Pieck und andere erst im Heimatland der Revolution erhalten. Abgeschnitten und isoliert, waren die deutschen Kommunisten ihren Gastgebern ausgeliefert. Kaum einer sprach Russisch oder verstand, worauf es die Hetzjagd auf vermeintliche Saboteure und Spione abgesehen hatte. Nacht für Nacht wurden im Hotel "Lux", in dem die deutschen Funktionäre wohnten, Menschen aus ihren Zimmern geholt und in die Lubjanka gebracht. Sie wurden erschossen oder in Zwangsarbeitslager verschleppt, ohne dass die Angehörigen je erfuhren, was man ihnen zur Last legte.
Aber welche Wahl hatten Emigranten schon, die nirgendwo hingehen konnten? In wenigen Wochen lernten sie, worauf es im Überlebenskampf ankam. Schon bald kam ihnen die Lüge automatisch von den Lippen, Verstellung und Misstrauen wurden ihnen zur zweiten Natur. Wer die Schule der Paranoia absolviert hatte, war bereit, alles für möglich zu halten. Danach, so Petersen, habe kein Kommunist es mehr gewagt, Widerworte zu geben. Selbst die absurdesten Verschwörungstheorien habe man nun für glaubhaft halten müssen. Nach dem ersten Moskauer Schauprozess gegen prominente Bolschewiki lieferte die Kaderabteilung der KPD dem NKWD Informationen über Verräter und Spione in den eigenen Reihen. In der deutschen Parteipresse erschienen hysterische Aufrufe: Der "menschliche Abschaum" müsse ausgerottet und "alle noch vorhandenen Überreste des Gesindels unschädlich" gemacht werden. Der Gulag und die Lubjanka waren Orte irdischer Verdammnis, eine moderne Variante der Disziplinierung durch Furcht. Seht her, wohin ihr kommen werdet, wenn ihr nicht gehorcht! Alle deutschen Kommunisten, die das Jahr 1937 überlebt hatten, verinnerlichten diese eine Lehre: Liebe den Gehorsam und die Lüge, denn sie retten dir das Leben. Die Partei und ihre Generallinie wurden zum Über-Ich, zur einzigen Erklärungsressource, aus dem sich noch Sinn schöpfen ließ. Hugo Eberlein, der gefoltert worden und ohne Verhandlung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, schrieb in einem Brief an Wilhelm Pieck, dass die "Partei Lenins" diese "schreckliche Ungerechtigkeit" nicht zulassen werde. Er konnte und wollte sich Stalin nicht als Urheber all dieser Verbrechen vorstellen. Eberlein wurde 1941 erschossen, Pieck verlor kein Wort mehr über ihn.
Die seelischen Wirkungen waren verheerend. Es gab irgendwann kein Gemeinschaftsleben mehr, Gespräche verstummten. "Die deutsche Emigration hier ist völlig atomisiert", schrieb der Kommunist Franz Schwarzmüller an Stalin. "Jeder lebt für sich in seinen vier Wänden, aus Furcht vor Verhaftungen in seinem Bekanntenkreis oder sonstwo ebenfalls hineingezogen oder zumindest diskreditiert zu werden." Die Emigrantengemeinde richtete sich in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Sprachlosigkeit ein. Aber in ihr entstand auch der stalinistische Funktionär, der Meinungen aufgab und Freunde opferte, wenn es von ihm verlangt wurde. Man pries die Mörder der eigenen Kinder und besang den Diktator, der für die Mordexzesse verantwortlich war. Walter Ulbricht war ein Mann von geringem Verstand. Aber er war ein höriger Vasall Stalins. In Moskau lernte er, wie man Konkurrenten ausschaltete und welche Mittel im Überlebenskampf von Nutzen waren. Petersen schreibt: "Diese Lektion nahm Ulbricht vollständig in sich auf. Seine Härte, sein Dogmatismus und seine Gefühlskälte verfestigten sich in den Moskauer Jahren zu jenem Funktionärstypus, den Stalin zur Terrorherrschaft brauchte."
Als der Krieg zu Ende ging, gab es für Stalin überhaupt keinen Zweifel, dass die "Moskauer" den neuen Staat auf deutschem Boden errichten sollten. Kommunisten, die im Untergrund, im westlichen Ausland oder in den Lagern der Nationalsozialisten gewesen waren, konnte Stalin nicht gebrauchen. Ulbricht und seine Genossen hingegen waren bereit, jeden Befehl auszuführen. Was die Moskauer selbst erlitten hatten, gaben sie nun an die Deutschen weiter, die sich ihrer Herrschaft beugen mussten. Zehntausende verschwanden in den Lagern der sowjetischen Besatzungsmacht, wurden erschossen oder in die Sowjetunion deportiert. Auch in der DDR wurde die Sprache des Terrors gesprochen. Man solle "Schädlinge" ausrotten und "Schumacher-Agenten" entlarven, so lauteten die Parolen, die in der Partei neuen Typs aufgesagt werden mussten. Auch in der DDR wurden Schauprozesse nach sowjetischem Muster vorbereitet, Spanien-Kämpfer, Juden und Westemigranten als Spione und Agenten des amerikanischen Imperialismus diskreditiert. Im Stahlbad des Terrors verwandelte sich die SED in eine stalinistische Kaderpartei. Petersen spricht vom "Purgatorium", das den stalinistischen Funktionär hervorbrachte.
Für all jene, die das Jahr 1937 in der Sowjetunion erlebt hatten, sei die Wiederkehr der Gewalt aber auch ein Akt der Retraumatisierung gewesen. Niemand konnte und wollte über die erlittene Gewalt sprechen, was geschehen war, musste verschwiegen oder umgeschrieben werden. Die Partei war der einzige Lebensraum, der den Davongekommenen geblieben war. Nie verließ sie die Angst, aber im Angesicht der Wahrheit, die man über diese Erfahrungen hätte aussprechen können, wäre das System zusammengebrochen. Hätte man sich nach all den Entbehrungen eingestehen sollen, einer falschen Sache gedient zu haben? Wer hätte über die Ohnmacht und die Demütigungen, die einem zugefügt worden waren, überhaupt sprechen können? Das Weltvertrauen war zerstört und mit ihm die Möglichkeit, anderen zu vertrauen. Am Ende siegte das Gefühl der Dankbarkeit über das Bedürfnis, das Unausgesprochene zur Sprache zu bringen. Man war noch einmal davongekommen, und man hatte diese Gnade nur dem Großmut der Partei zu verdanken. Immerhin konnte man anderen antun, was einem selbst angetan worden war. Und nach allem, was die "Moskauer" erlebt und erlitten hatten, konnten sie die Gewalt als reinigendes Gewitter rechtfertigen, als Purgatorium, das Sünder in Erlöste verwandelte. Andreas Petersen hat ein wichtiges, notwendiges Buch geschrieben. Es ist dem Leben auf der Spur, das sich hinter den Erzählungen vom Leben verbirgt. Über die DDR und ihre Gründungsväter wird man nach der Lektüre dieses klugen Buches wahrscheinlich anders sprechen müssen als bisher.
JÖRG BABEROWSKI
Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2019. 384 S., 24,- [Euro].
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Insgesamt liegt ein informatives und lesenswertes Werk vor, das insbesondere in den biographischen Abschnitten und zur "Kultur des Vergessens" reichhaltige Beiträge leistet. Werner Müller Jahrbuch "Extremismus & Demokratie" 20210125