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"Ich kann mich nicht mal richtig vorstellen, denn ich habe meinen Namen verhökert." Tatsächlich hat der göttliche Apollo bereits Anfang der 1960er, in Geldnöten befindlich, seinen guten Namen an die NASA verkauft - für einen Pappenstiel, so daß der ehemalige Hausherr des Delphi-Orakels künftig vom Horoskopschreiben leben muß. Bei seinen Studien der menschlichen Natur stößt er auf den jungen Niederländer Tibbolt Satink, Jahrgang 1973 und seit seiner Geburt von einem Fußleiden geplagt. Deutet letzteres auf Tibbolt als einen modernen Ödipus? Einen, dem seine leiblichen Eltern fremd sind, einen,…mehr

Produktbeschreibung
"Ich kann mich nicht mal richtig vorstellen, denn ich habe meinen Namen verhökert." Tatsächlich hat der göttliche Apollo bereits Anfang der 1960er, in Geldnöten befindlich, seinen guten Namen an die NASA verkauft - für einen Pappenstiel, so daß der ehemalige Hausherr des Delphi-Orakels künftig vom Horoskopschreiben leben muß. Bei seinen Studien der menschlichen Natur stößt er auf den jungen Niederländer Tibbolt Satink, Jahrgang 1973 und seit seiner Geburt von einem Fußleiden geplagt. Deutet letzteres auf Tibbolt als einen modernen Ödipus? Einen, dem seine leiblichen Eltern fremd sind, einen, der von dem Liebespärchen, das sich 1973 bei Dreharbeiten zu einem Pornofilm kennenlernt, nichts weiß?Tibbolt hat große Pläne; so will er die wüsteste Hooliganschlacht Amsterdams anzetteln, vor allem aber die lästigen Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens und Sterbens einem Alter ego mit Namen Movo (niederländisch kurz für "schlimme Füße") aufhalsen. An den Tapes, auf denen Tibbolt von seinem Vorhaben berichtet, ist nicht nur Apollo sehr interessiert.
Autorenporträt
Beuningen, Helga vanHelga van Beuningen, geboren 1945 in Obergünzburg, studierte Englische und Niederländische Sprache in Heidelberg, wo sie anschließend 15 Jahre lang Niederländisch lehrte. Seit 1984 lebt sie als freie Übersetzerin in Bad Segeberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2008

Apollo lässt die Puppen tanzen

Er will Proust und Joyce in einem sein: Der niederländische Literaturberserker A. F. Th. van der Heijden verlegt in seinem neuen Romanzyklus "Homo duplex" das Orakel von Delphi nach Rotterdam - und lässt einen modernen Ödipus als brutalen Hooligan ins Verderben rennen.

Von Richard Kämmerlings

A. F. Th. ist eine echte Marke, daran besteht kein Zweifel. Und zwar definitiv in dem Sinne, wie man jemanden als ein Original, einen unverwechselbaren Typen bezeichnet, aber durchaus auch im Verständnis der Ökonomie, als verkaufsförderndes und vertrauenbildendes branding. In seiner niederländischen Heimat hat es Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden Ärger eingebracht, dass er auf dem Cover der Bände seines neuen Romanzyklus "Homo duplex" nur mit den Initialen seiner Vornamen firmiert; es wurde als arrogant empfunden. Er selbst hält "A.F.Th." schlicht für ein Logo. Doch, so kann man ergänzen, ein Logo, dass nicht einfach für einen Autor mit barockem Namen steht, sondern für eine Weltliteraturfabrik, für den totalen Roman, für den tollkühnen Anspruch, zu Lebzeiten Klassiker zu sein, ein Breughel als Erzähler. Wie van der Heijdens schließlich auf sieben Bücher angewachsener Zyklus "Die zahnlose Zeit" (F.A.Z. vom 3. Mai 2003) eine holländische "Recherche du temps perdu" wurde, so ist "Homo duplex" nun sein "Ulysses". "Die Romantrilogie Homo duplex als allumfassendes Bild der Welt", notiert er 1999 in sein Tagebuch. Darunter macht der Mann es nicht.

Mit den "Movo-Tapes" liegt nun der erste Band in deutscher Übersetzung vor. Und gleich ist klar, dass das Namensding keine Marginalie ist: "Ich kann mich Ihnen nicht mal richtig vorstellen, denn ich habe meinen Namen verhökert", so begrüßt der hier nur "QX-Q-8" genannte Gott Apollo die Leser, um dann in einem geschwätzigen und selbstmitleidigen Monolog seine Geschichte seit den goldenen Tagen der Antike zu erzählen - wie er etwa von der Nasa übers Ohr gehauen wurde, von den Tantiemen seiner Namensrechte nicht leben kann und, einst Betreiber des Orakels von Delphi, inzwischen am Fließband Horoskope für Illustrierte schreibt.

Irgendwie aber mischt der auf den Hund gekommene Gott immer noch im menschlichen Glück und Unglück mit, zieht Schicksalsstrippen, legt Fährten und Fallen, lässt hier ein Flugzeug abstürzen und lenkt dort Lady Dis Limousine gegen einen Tunnelpfeiler. Doch was heute, man schreibt bereits das Jahr 2023, als "Tragödie" durchgeht, hat nicht mehr den Thrill vergangener Tage. Das Welttheater ist zur Kleinkunstbühne geworden; der deus ex machina zum Statisten.

Doch gibt es einen Sterblichen, der noch die nötige Fallhöhe hat, dessen Größe wahre Tragik verspricht: Tibbolt Satink, ein inzwischen verstorbener Amsterdamer Schriftsteller, hat 1996 eine Reihe von Kassetten mit einem autobiographischen Bericht besprochen. Darin erzählt der Dreiundzwanzigjährige die traumatische und von allerlei Demütigungen geprägte Geschichte seiner Jugend, aber vor allem - gewissermaßen als Live-Kommentar - von seinem mit aller Konsequenz betriebenen Versuch, sich in eine andere Person zu verwandeln - in Movo, den knallharten und coolen Anführer einer Amsterdamer Hooligan-Truppe. Seine nachgelassenen Movo-Tapes dokumentieren eine entscheidende Woche im Sommer 1996, die in einer blutigen Schlacht zwischen den Amsterdamern Fans und ihren Erzfeinden aus Rotterdam gipfeln wird. Und auf diesem Feld der Ehre soll die angestrebte Metamorphose von Tibbolt zu Movo ihre Vollendung finden.

Sophokles liefert das Gerüst.

Diesem Seelendrama hat van der Heijden nun zusätzlich das Gerüst des Ödipus-Mythos nach Sophokles unterlegt. Tibbolt Satink ist Ödipus; wie seinem antiken Vorläufer (der mit durchstochenen Füßen ausgesetzt wurde) ist Gehen ihm zeitlebends eine Qual gewesen. Der Name des Wunsch-Ichs Movo kommt von "Moeilijke voeten", den "problematischen Füßen", einem Leitmotiv. Dass die gesamte Handlung dem Mythos nachempfunden ist, dass Rotterdam und Amsterdam für Theben und Korinth stehen und dass Tibbolt seinen wahren Vater ermorden und seine eigene Mutter heiraten wird - all das ist in diesem Prolog freilich nur angedeutet.

Zwei Handlungsstränge treten hier hervor: Tibbolt fädelt, stets rasend unterwegs in seinem 250-PS-Sportwagen-Modell "Festina Lente", den finalen Zusammenstoß der Hooligan-Banden ein. Sein Gegenspieler auf Rotterdamer Seite ist der fette Wirt und frühere Stürmerstar Tonnis Mombarg, der eine Horde von ultrabrutalen Bikern kommandiert und seine Frau mit der eigenen, blutjungen Nichte betrügt - ein Ekel sondergleichen also, das aber, der Leser ahnt es hier schon, zufällig einen Sohn genau in Tibbolts Alter hat.

Abwechselnd mit dem atemlos mitgeschnittenen Adoleszensroman Tibbolts/Movos erzählt Apoll eine kuriose Liebesgeschichte aus den frühen Siebzigern: Wie der junge Tonnis Mombarg, Hoffnungsträger der Rotterdamer A-Junioren, seine Fußballlaufbahn für eine gut bezahlte Mitwirkung an einem Sexstreifen aufs Spiel setzt, bei den "Dreharbeiten" aber die süße Zora kennenlernt, und wie sich dann eine zarte Teenager-Romanze entspinnt. Leider wird das Mädchen während der Aufnahmen schwanger, und da am Filmset auch der hier als Beleuchter getarnte Lichtgott Apoll seine Finger im Spiel hat, kann man sich den Ödipus-Plot selbst weiterdenken: Der von einer Weissagung verängstigte Tonnis wird sein ungewolltes Kind loszuwerden versuchen, und da umgekehrt bei Tibbolts Geburt nicht alles mit rechten Dingen zuging (die Fußprobleme!), liegt schon offen zutage, was erst in späteren Bänden ausgeführt werden wird: Mit Tonnis und Tibbolt/Movo stehen sich Vater und Sohn unwissend als Feinde gegenüber.

Einerseits die Vorgeschichte von Tibbolts Geburt, andererseits nur der Fehdehandschuh für die große, hier noch ausgesparte Ultra-Schlacht - mit Sophokles im Gepäck kann man leicht hochrechnen, was da noch alles folgen muss. Allenfalls die Love-Story mit ihrer eingebauten Satire auf die Porno-Industrie und das Mediengeschäft fügen sich zu einer abgeschlossenen Binnengeschichte. Aber auch über die zahlreichen nur angedeuteten Handlungsfäden hinaus bleiben manche Fragen offen. Beispielsweise, warum sich der abgehalfterte Apollo überhaupt so intensiv mit den nachgelassenen Tapes beschäftigt, warum er alle Hebel in Bewegung setzt, um in deren Besitz zu gelangen. Die Erklärung, dass sie der Unterhaltung der sich am menschlichen Leid delektierenden Götterverwandtschaft dienen sollen, wirken eher aus der Luft gegriffen. Apoll hat selbst etwas von einer tragischen Figur, von einem alternden Fußballstar, der es dem Nachwuchs noch einmal zeigen will.

Der menschliche Makel gibt den Stoff.

Auch die zentrale philosophische Frage bedarf in kommenden Bänden noch etwas mehr Hirnschmalzes. Warum nämlich der sanfte und komplexbeladene Tibbolt zum brutalen Movo werden will, wird auch in wortreichen Exkursen nicht wirklich deutlich. Ein bisschen Nietzsches Theorie vom Übermenschen, ein umgedeuteter Sartre'scher Existentialismus - völlig stimmig scheint die Sache nicht zu sein, zumal sie verknüpft wird mit der titanischen Idee eines Aufstands gegen Gott. Bei diesem "Weltstreik" soll die an Vergänglichkeit und Tod leidende Menschheit auf die Barrikaden gehen, um damit den Schöpfer zur Offenbarung zu zwingen: "Die condition humaine ist schon seit Jahrtausenden ein menschliches Manko." Und offenbar dient die Movo-Werdung Tibbolts nicht zuletzt der Übertragung seiner sterblichen Hülle auf ein Alter Ego. Letztlich also läuft es auf jene - ja bereits der "Zahnlosen Zeit" zugrunde liegende - Idee eines "Lebens in die Breite" hinaus, das Unsterblichkeit bedeuten würde. Der eigentliche Feind des Erzählers ist der Gott Kronos - fürwahr ein ambitioniertes Romanprogramm.

"Es gibt Schriftsteller, die nach Vielfalt streben und dabei (unbewusst) eine straffe Einheit hervorbringen; andere gehen von dieser Einheit aus und versuchen, in ihr möglichst vielfältig zu sein", notiert van der Heijden 1996, wie in seinem Tagebuchband "Engelsdreck" nachzulesen ist. Er selbst versucht das Unmögliche, nämlich beides zugleich und noch vieles mehr: "Homo duplex" ist ein Panorama der Gegenwart und ein zeitloser Mythos, ein philosophisches Experiment und ein barockes, lebenspralles und saftiges Sittengemälde, zugleich Allegorie und Hyperrealismus, Fasten und Karneval, Welttheater und Provinzposse, Tragödie des Ich und Komödie des Seins. Was oft, durch den mündlichen Charakter des Diktats verstärkt, wie daherfabuliert wirkt, ist tatsächlich genau auskomponiert - der genialische Hochstapler ist tatsächlich ein Meistererzähler.

Bleibt die Frage nach der konkreten Leseerfahrung: Die ersten zwei-, dreihundert Seiten sind - mangels Durchblicks - recht hartes Brot. Bei der Anlage des Gesamtwerks sind das peanuts. Dann entfaltet das Erzählen seinen Sog, und man verspürt Bedauern, wenn man kapiert, dass selbst dieser Umfang nicht ausreichen kann, um auch nur einen Teil der Geschichten zu Ende zu erzählen. Und nach Seite 756 will man Holländisch lernen, um die bereits im Original erschienenen Folgebände zu lesen. Im April, so viel als Trost, erscheint in der Bibliothek Suhrkamp "Treibsand urbar machen", wo Hooligans um die Bestattung eines verräterischen Sohnes von Movo streiten. Da sind wir also schon mitten in der "Antigone". Dazwischen liegt eine Menge Holz - und Blut. Was bisher geschah: Das werden wir erst in ein paar Jahren wissen.

- A. F. Th. van der Heijden: "Die Movo-Tapes". Eine Karriere als anderer. Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 768 S., geb., 26,80 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007

Ödipus im Unfallwagen
A. F. Th. van der Heijdens bilderpraller, bedeutungstrunkener Roman „Die Movo-Tapes” führt den Leser auch durch zähes GeländeVon Rüdiger Nüchtern
Über dem Titel des Romans steht auf dem Cover anstelle des vollen Autorennamens schlicht: A.F.Th. Das ist nicht nur ein typografisches Understatement, das sich gut in die zugleich reduzierte und verspielte Ästhetik des von Hermann Michels und Regina Göllner gestalteten Umschlags fügt, sondern überhaupt ein ziemlich guter Witz, trägt der Schriftsteller, dem wir „Die Movo-Tapes” verdanken, doch einen der umständlichsten und längsten Namen der zeitgenössischen Literatur: Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden.
Jemand, der so heißt, kann keine schmalen Bücher schreiben. Der 56-jährige Autor ist vor allem durch seinen, seit vier Jahren auch auf deutsch vollständig vorliegenden Zyklus „Die zahnlose Zeit” bekannt geworden: ein insgesamt dreieinhalbtausend Seiten umfassendes, aus einem „Prolog”, einem „Intermezzo” und vier Romanen bestehendes Prosa-Labyrinth, das seinesgleichen sucht. Nachdem der Autor das gigantische Werk im Frühjahr 1996 – übrigens in Münster, während einer Lesereise – beendet hatte und quasi in post-koitale Depression verfallen war, machte er sich an das nächste Monsterprojekt, eine Bearbeitung des Ödipus-Stoffes: Im Falle von „Homo Duplex”, so der Name des Zyklus, hat der Autor ein Plansoll von acht Bänden zu erfüllen, und nachdem bereits „Die Movo-Tapes” als Band null 762 Seiten umfassen, darf man wohl ein zumindest ähnlich dimensioniertes Werk erwarten – zumal sich van der Heijden über den Verlauf desselben von Anfang an sehr sicher war: „Ich hatten einen guten Einfall für Band drei, dann wusste ich plötzlich, wie alles enden sollte, habe also sofort an Band sieben geschrieben, bin dann wieder zu Band zwei zurückgegangen”, verriet er 2003 in einem Interview. „Das hat eine starke Struktur geschaffen, die nicht als Plan an der Wand hängt, aber sehr fest in meinem Kopf sitzt. ,Die zahnlose Zeit‘ ist viel intuitiver entstanden, und die Struktur kam erst hinterher, wohingegen sie bei ,Homo Duplex‘ schon da war, noch bevor irgendetwas davon publiziert wurde.”
Wie „Die zahnlose Zeit”, deren Chronologie in dem sehr hilfreichen Supplementband „Gruppenporträt. Wer ist wer in der ,Zahnlosen Zeit‘” rekonstruiert wird, verwendet auch „Homo Duplex” ein engmaschiges zeitliches Raster, in dem die fiktive Romanhandlung mit symbolträchtigen Daten der Geschichte verknüpft wird. So verliert etwa am 21. Juli 1969 nicht nur der Mond als romantischer „Lampion der Liebe” durch die Landung von Apollo 11 seine Unschuld, sondern auch der 14-jährige Tonnis Momberg (geboren am 13. Oktober 1955), seinen vorzeitigen Samenerguss freilich außerhalb der aufnahmebereiten weiblichen Physis erledigend – sehr im Unterschied zum 10. Februar 1973, an dem Tonnis, „die Rotterdamer Antwort auf Johann Cruijff”, seine Fußballerkarriere beerdigt und anstatt zum Spiel ins Filmstudio geht, wo er als Ziegenpeter im alpenländischen Lederhosen-Hardcore-Streifen aber aufgrund unprofessioneller Verliebtheit in eine der beiden Hauptdarstellerinnen kläglich versagt: „Sie berührte ihn kaum, aber es war mehr, als der Junge noch ertragen konnte. Er stieß gegen Edelweiß’ Rücken, um sie dazu zu bewegen, sich von ihm zu lösen. Das Mädchen schien wie betäubt von dem, was sie so plötzlich überflutet hatte, und blieb schwer auf ihm sitzen. Er wollte eine Warnung schreien, doch es kam nur ein scharf gurgelnder Laut aus seiner Kehle. ,Scheiße!‘ rief der Regisseur, ,da vergeudet einer seinen come shot . . . !’”
In der Folge wird – so muss jedenfalls ein mit humanbiologisch und altphilologischem Rudimentärwissen ausgestatteter Leser mutmaßen – am 4. November 1973 Tibbolt Satink auf die Welt kommen und zwar mithilfe eines ungeplanten, qua Frontalzusammenstoß herbeigeführten Kaiserschnitts, den Tibbolts Mutter ausgerechnet am ersten autofreien Sonntag mit dem Wagen eines auf Zirkus- und Jahrmarktssegnungen spezialisierten Geistlichen hat. Ob Tibbolt seine – in Analogie zum antiken Ödipus-Mythos – verstümmelten Füße dem Unfall oder den Rettungsmaßnahmen verdankt, und wie es kommt, dass er an der Seite einer von transplantationschirurgischen Eingriffen schwer gezeichneten Mutter aufwächst, die – allem höheren Romansinn zufolge – nicht seine leibliche sein kann, all das wird wohl im nächsten oder einem der nächsten sieben Folgebände von „Homo Duplex” geklärt werden.
Wer sich mit solch forciertem und buchstäblich bedeutungsschwangerem Handlungsreichtum nicht anfreunden kann, sollte besser die Finger von A.F.Th. van der Heijdens Romanen lassen. Der aus Geldrop gebürtige und somit aus dem überwiegend katholischen Nordbrabant stammende Autor ist barocker, als man es einem Holländer je zutrauen würde. In unüblicher polemischer Direktheit mokiert sich der Autor denn auch darüber, dass seine Landsleute „für eine bilderreiche Sprache . . . nun einmal nichts übrig” hätten, und an anderer Stelle lässt er den Großvater des Protagonisten, einen Buchhändler, über die niederländische Literatur herziehen: „Bücher genug, alle zusammen, sie reden immer von ihrem ,Öhfre‘, aber um eine schöne Frau zu Gesicht zu bekommen, müssen sie den Fernseher einschalten, wenn Norman Mailer wieder mal eine teure Schlampe geheiratet hat. Niederländische Schriftstellerei, das ist selbstgewählte Kargheit, die bis ins Liebesleben hineinreicht. Kein bisschen Glamour.”
Es erübrigt sich wohl, darauf hinzuweisen, dass „Die Movo-Tapes” – wie schon das vorangegangene „Öhfre” dieses Kraft- und Saftgenies – eine einzige Attacke auf diese „selbstgewählte Kargheit” darstellt. Ein Atlas der Gegenwartsliteratur müht sich hier einer nicht mit der pusseligen Beschreibung diverser sozialer Subsysteme, sozusagen den „Unterwelten” ab, sondern will noch mal die ganze Erdkugel stemmen.
Eine übermenschliche Anstrengung, gewiss, und deswegen ist der auf seinen stundenlangen Autofahrten im schnittigen Sportwagen (2933 ccm, 250 PS) eine Unzahl von Tonbandkassetten – genau: die so genannten „Movo-Tapes” – besprechende Tibbolt ja auch bemüht, sich endlich in Movo zu verwandeln, ein nietzscheanisches Projekt von hoher Ambition und unsicherem Fundament, geht es doch um nichts Geringeres als darum, der Endlichkeit allen Seins ein Schnippchen zu schlagen und den eigenen Tod einem anderen aufzuhalsen: „Eine Karriere als anderer” lautet der Untertitel des Romans.
Ging es schon in der „Zahnlosen Zeit” darum, in die Untiefen der eigenen Erinnerungen abzutauchen und auf diese Weise „ein Leben in die Breite” zu führen, so arbeitet sich auch der jüngste, wieder von van der Heijdens kongenialer Langzeitübersetzerin Helga van Beuningen in ein bilderpralles Deutsch übertragene Roman an einer, aller Linearität abholden Verräumlichung von Zeit ab: „Ist es so jämmerlich einfach? Innerhalb eines solchen Jahres, das in einen Büroterminkalender oder in einen Abreißkalender passt, liegen ganze Systeme von Gängen: parallele Entwicklungen. . . schnell verstreichende Wochen, träge Monate, Tage mit dem Aufbau eines ganzen Semesters . . . Ein Jahr ist nichts Geradliniges, es ist ein Labyrinth, und das müssen wir uns schamlos zunutze machen. Was für zwölf Monate gilt, trifft auch auf ein ganzes Menschenleben zu. Ein Irrgarten kann, sofern gut gepflegt, den Anschein von Ewigkeiten erlangen.”
Diese Reise ist naturgemäß nicht immer gleichermaßen kurzweilig. Je nachdem, ob er eher am metaphysischen Schwadronieren, das Tibbolt in diesen Selbstgesprächen über die Bande betreibt, oder eher an den oft schmerzhaft detailgenauen, immer aber auch assoziations- und bildersatten Beschreibungen der niederen Physis Gefallen findet, wird sich der Leser auch durch recht zähes Gelände schlagen müssen.
Ein ganzes Kapitel ist tatsächlich dem Sinn des Lebens, ein anderes und keineswegs kürzeres den Verdauungsprodukten eines gewissen Cankrien gewidmet, und beides kann man mit guten Gründen „geschmacklos” finden, wäre diese Wort in diesem Zusammenhang nicht einigermaßen widersinnig. „Geschmacklos” im Sinne von „frei von Geschmack” ist van der Heijdens Prosa nie. Sie riecht sogar – metaphorisch gesprochen. Aber viel mehr als Metaphern stehen uns, steht vor allem der Literatur vielleicht auch gar nicht zur Verfügung: „Um den eigentlichen Sinn des Daseins freizulegen, müssten wir diese Metaphern aufbrechen. Vergebliche Liebesmüh. Sie sind dick und vielschichtig wie die Erdkruste selbst.”
A. F. Th. van der Heijden
Die Movo-Tapes
Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 762 Seiten, 26,80 Euro.
„Niederländische Schriftstellerei ist selbstgewählte Kargheit, bis ins Liebesleben hinein”
„Ein Irrgarten kann, sofern gut gepflegt, den Anschein von Ewigkeiten erlangen”
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht sehr überzeugt hat Rüdiger Nüchtern A.F.Th. van der Heijdens Roman "Die Movo Tapes". Nach dessen über dreitausendfünfhundert Seiten langen Zyklus "Die zahnlose Zeit" folge nun, so der Rezensent, mit der auf acht Bände angelegten Ödipus-Adaption "Homo Duplex" ein weiteres "Prosa-Labyrinth" von monströsen Ausmaßen, eingeleitet durch "Die Movo-Tapes". Der Titel bezieht sich auf die Tonbandkassetten, die die Hauptfigur Tibbolt Satinkt, mutmaßlicher Sohn zweier Porno-Darsteller, auf Spritztouren in seinem Sportwagen bespricht. Laut dem Rezensenten strebt Satinkt danach, sich in "Movo" zu verwandeln (was das genau ist, erklärt der Rezensent leider nicht), um der Endlichkeit ein Schnippchen schlagen. Die fiktive Story ist mit zeitgeschichtlichen Momenten wie der Mondlandung verwoben. Anscheinend, so vermutet er, wolle der Autor mit diesem symbol- und bilderschwangeren Roman gegen die literarische "Kargheit" der niederländischen Literatur protestieren. Herausgekommen sei aber leider eine Fahrt durch ziemlich "zähes Gelände".

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»Der genialische Hochstapler ist tatsächlich ein Meistererzähler.« Richard Kämmerlings Frankfurter Allgemeine Zeitung