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Wer waren die Musen? Wie viele? Woher stammten sie und welche Aufgabe wies man ihnen zu? Wie wurden sie zu den Schirmherrinnen der Künste? Und welcher Künste? Und was hat die Poesie damit zu tun? So wenig eine Paraphrase das Gedicht ersetzt, so wenig lässt sich der über tausend Jahre gewachsene Mythos der Musen als logisch aufgebaute Geschichte erzählen. Raoul Schrott hat die Fragmente gesammelt, die von den Musen berichten. Und er erzählt vom heute noch sichtbaren Ort, wo der Mythos festgemacht werden kann, dem Tal der Musen und der Hippokrene am Berg Helikon, dem Brunnen, wo laut Mythos die Poesie entstand. …mehr

Produktbeschreibung
Wer waren die Musen? Wie viele? Woher stammten sie und welche Aufgabe wies man ihnen zu? Wie wurden sie zu den Schirmherrinnen der Künste? Und welcher Künste? Und was hat die Poesie damit zu tun? So wenig eine Paraphrase das Gedicht ersetzt, so wenig lässt sich der über tausend Jahre gewachsene Mythos der Musen als logisch aufgebaute Geschichte erzählen. Raoul Schrott hat die Fragmente gesammelt, die von den Musen berichten. Und er erzählt vom heute noch sichtbaren Ort, wo der Mythos festgemacht werden kann, dem Tal der Musen und der Hippokrene am Berg Helikon, dem Brunnen, wo laut Mythos die Poesie entstand.
Autorenporträt
Raoul Schrott, Jg. 1964, studierte Literatur und Sprachwissenschaft in Innsbruck, Norwich, Paris und Berlin. Er lebt in Innsbruck und Seillans (Provence). Für sein Werk wurde er bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.1997

Leichten Fußes an die Quelle
Erinnerung, sprich: Raoul Schrott erkundet das Geheimnis am Beginn aller Poesie · Von Friedmar Apel

Die Notwendigkeit seines Buches "Fragmente einer Sprache der Liebe" hat Roland Barthes 1977 damit begründet, daß der Diskurs der Liebe von den Heutigen im Stich gelassen worden und "über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben" sei. So stellte sich sein Buch als die Bejahung dieses Diskurses gegen die eigene Zeit dar. Als ferne Erinnerung an ein selbstvergessenes, inspiriertes Subjekt, das jenseits allen Habenwollens im Gesang des Vergehens vor dem geliebten Objekt auf das Interesse einer Mitwelt zählen darf, fungierten darin wunderbare Zeilen der Sappho: "Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme / stirbt, eh sie laut ward, / ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal / läuft mir Fieber unter der Haut entlang, und / meine Augen weigern die Sicht, es über- / rauscht meine Ohren - mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben / alle Glieder, fahler als trockene Gräser / bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein / Aussehn . . ." Im Gedicht hebt sich mit dem Abstand von Subjekt und Objekt auch die Unterscheidung der Zeit auf: Erinnerung ist Gegenwart und Zukunft zugleich.

Raoul Schrott verzichtet in seinen "Fragmenten einer Sprache der Dichtung" auf die Etiketten der Notwendigkeit und Wichtigkeit. Gleichwohl wird deutlich, daß sein Musenanruf eine Erinnerung phatischer Dichtung vor dem Moment ihrer endgültigen Abreise in die Unzeitgemäßheit darstellt. Das Buch ist ein Versuch, "das Paradigma der Poesie aus dem Mythos herauszuarbeiten und die verschiedenen Strukturen, Typologien, Gattungen und Funktionen der Lyrik" am Beginn der europäischen Tradition sichtbar zu machen.

Dabei versteht sich Schrott nicht als Theoretiker im heutigen Sinne, sondern als Theor, als einer, dem aufgegeben ist, das Orakel zu befragen. So wahrt er die Einheit von Geheimnis, Wort und Sache, die seiner Definition nach der Mythos umfaßt. Mit leichter Hand wird daher der Leser in die Topographie der Musen geführt, nach Pierien und nach Böotien an den Helikon und den Roßbrunnen, die Quelle aller Dichtung, um die Hesiod zufolge die Musen tanzen mit leichtem Fuß: "und / in der Nacht gehen sie um und singen mit heller Stimme ihr Lied."

In kurzen, für sich lesbaren Kapiteln erzählt Schrott von der Entstehung und Wandlung der Musenvorstellung und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung der Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung. In der Entwicklung vom Sänger, wie ihn Homer schildert, "der mehr Priester und Magier" ist, über den von Demokrit erstmals so bezeichneten Poeten, der "im Enthusiasmus und durch heilige Inspiration schreibt", zum Lyriker im Sprachgebrauch der alexandrinischen Hermeneuten werden die Loslösung der Dichtung vom Orakel und die schließliche Zerstörung des ursprünglichen Mythos in der Schrift deutlich. Die Transformation des Mythos zur Mystik erst verwandelt die Musen zu Göttinnen der Dichtung. In der Betonung des Subjektiven gewinnt der Dichter Kontur. Jedoch stellt sich nun zunehmend die Frage der Rechtfertigung vor dem Allgemeinen, und damit schon, so Schrott, setzt "der Verfall der Gattung ein, die heute nur mehr eine Randerscheinung ist".

Im Mythos der Mnemosyne, des Gedächtnisses in seiner verinnerlichten Form, erkennt Schrott die existentielle Situation des antiken Menschen: "Das Leben erscheint erst dann bedeutend und sinnvoll, wenn es in die kollektive Erinnerung eingeht." Das ist auch da noch der Fall, wo, wie bei Sappho, Subjektivität schon deutlich hervortritt: "Mich haben die goldenen Musen wahrhaft glücklich gemacht, denn ich werde, wenn ich gestorben bin, nicht dem Vergessen anheimfallen." Nicht Unsterblichkeit also, aber Erinnerung begehrt das lyrische Subjekt. In der lyrischen Ursituation der Erinnerung löst sich der Abstand zwischen Subjekt und Objekt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Erinnerung bedeutet ebensowohl Vorhersagen und -sehen. Ohne den Beistand der Musen aber kann solches Schauen der Überlieferung als Transzendenz nicht gelingen, kein Subjekt verdankt alles sich selbst.

In Raoul Schrotts Gang zu den Musen ist der Mythos Gegenstand und Stilhaltung. Der Musil-Stipendiat des Jahres 1996 erhebt nicht den Anspruch, neu, tief oder zeitkritisch zu sein. In ruhiger, klarer Prosa wird die Möglichkeit der bildlichen Verwirklichung eines Selbstseins wieder erzählt. Im Bewußtsein seiner Unzeitgemäßheit versucht der Lyriker als Theor, die subjektive Dimension bejahend in die Überlieferung einzuschreiben, das Gedicht noch einmal als Ort lebendigen Wissens, als Ereignis der Musen kenntlich zu machen. Jede "Wissenschaft ist Sache der Erinnerung", sagt die Tochter der Mnemosyne, Polymnia, die als Muse auch den Liedern Einklang und Wohllaut verleiht. Sie vor allem muß Schrott zu diesem schönen Buch inspiriert haben.

Raoul Schrott: "Die Musen". Fragmente einer Sprache der Dichtung. Belleville Verlag Michael Farin, München 1997. 220 Seiten, geb., 38,- DM.

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