Nicoliens Mutter vergisst. Erst vertauscht sie die Tage, dann kann sie ihre Lieblingslieder nicht mehr mitsingen, zuletzt verirrt sie sich in der Wohnung. Über knapp drei Jahrzehnte wird ihre Demenz in vielerlei Alltags- und Ausflugsszenen mit den schleichenden Veränderungen beschrieben. Alsbald wähnt man sich im Wohnzimmer der Familie, mit Schnaps in der Hand und Kuchen auf dem Tisch, erfüllt von Zuneigung und Hilflosigkeit. Wie in einem Super-8-Film werden der Gedächtnisverlust und die Reaktionen der Angehörigen, die zwischen Verärgerung, Irritation, Trauer und Ungeduld schwanken, in einer Fülle von lebendigen Details nachgesponnen. In genau abgelauschten Dialogen und auf musikalische Weise, in Varianten, Schleifen, Pausen erzählt J. J. Voskuil die Geschichte einer Frau, die zunehmend unerreichbar wird. Eine zutiefst menschliche Chronik - von Gerd Busse einmal mehr herausragend übersetzt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider liest das Spin-off von J. J. Voskuils Romanzyklus "Das Büro" mit Beklemmung. Die Geschichte der Ehefrau des Romanhelden Maarten, genauer ihrer dementen Mutter, erzählt Voskuil laut Schneider als Abfolge der unausweichlichen Stadien der Erkrankung. Unheimlich wirkt das auf Schneider auch deshalb, weil der Autor nichts erklärt, sondern nur genau dokumentiert. Spannung entsteht dennoch, so Schneider, da der Leser auf die jeweils nächste Krankheitsstufe wartet. Ein Schrecken mit Ansage für den Rezensenten. Gerd Busses Übersetzung folgt der Lakonie des Originals, lobt Schneider.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2021Ein Universum verschwindet
J. J. Voskuils sachlicher Demenz-Roman „Die Mutter von Nicolien“
Zuerst gleicht das Unglück einem Scherz, einer Lücke im Vorstellungsvermögen oder einer lässlichen, kleinen Verwirrung. Wo die Sonne eigentlich bleibe, wenn sie untergehe, fragt die alte Dame. Mit der naturwissenschaftlichen Erklärung, mit der ihr Schwiegersohn aufwartet, ist sie keineswegs zufrieden. „Ich kann das alles nicht mehr so gut begreifen.“ Dann breitet sich das Unglück aus, langsam, aber unaufhaltsam. Immer größere Lücken reißt es ins Gedächtnis, bis vom Geist einer offenbar munteren und liebenswerten Frau nichts mehr übrigbleibt als eine fatale Hilfsbedürftigkeit und ein dumpfer, alles umfassender Kummer.
Über fast drei Jahrzehnte erstreckt sich die Chronik, die der niederländische Schriftsteller J. J. Voskuil dem geistigen Verfall einer alleinstehenden Frau widmet, von den späten Fünfzigern bis in die frühen Achtziger. Als sie endlich stirbt, ist die Sonne schon seit langer Zeit hinter dem Horizont verschwunden, die Kastanien werden grün, und die Tochter besucht mit dem Schwiegersohn ein Fischrestaurant.
J. J. Voskuils schmales Buch „Die Mutter von Nicolien“, im Original schon im Jahr 1999 erschienen, erzählt die Geschichte einer Demenz. So etwas tun gegenwärtig viele Romane, und noch mehr Bücher erzählen vom Sterben der Mutter, des Vaters oder eines anderen nahestehenden Menschen. Der moralischen Wucht dieser Bücher ist schwerlich zu entgehen: Stets ist da ein einzigartiger Mensch, mehr oder minder klug und freundlich, mehr oder minder vom Leben gezeichnet, doch in jedem Fall ein Universum für sich allein. Und dann geht dieses kleine All verloren, für sich selbst wie für den Rest der Welt, und den Zurückgelassenen bleibt der Schmerz über diesen Verlust.
Doch in den Schmerz mischt sich ein schlechtes Gewissen: Denn dieses kleine All hatte es auch gegeben, bevor es der Vergänglichkeit anheimfiel. Nur hatte man sich kaum darum bemüht, sodass die letzten Tage dieses Menschen im Zeichen eines sonderbaren Widerspruchs stehen: Im selben Maße, wie eine Individualität in die abstrakte Allgemeinheit des Todes eingeht, scheint sie an Würde zu gewinnen. Die Rücksichtnahme, die Pietät und die Zartheit, all die feinen Gefühle, die man einem Menschen vielleicht im Leben hätte zuwenden sollen: Erst im Angesicht des Todes werden sie freigelassen, so spät, dass man sich fragt, wem diese Gefühle eigentlich gelten sollen, dem Sterbenden oder den Hinterbliebenen?
Wer das große Werk J. J. Voskuils (1926 bis 2008) kennt, den siebenteiligen, zwischen den Jahren 1996 und 2000 erschienenen Roman „Das Büro“, die lückenlose Berufsbiografie eines wissenschaftlichen Angestellten in einem Institut für Volkskunde in Amsterdam, kennt auch das Personal dieses Sterbebuchs. Da ist Maarten, der zu Beginn der Chronik seine Stelle antritt und sich zunächst mit den Wichteln beschäftigen soll, die sich in der niederländischen Volksmythologie herumtreiben. Da ist seine strenge Frau Nicolien, die nichts von seinem Beruf hält und ihm dennoch liebend zugetan ist, und da ist die Mutter, eine schlichte Hausfrau, deren Leben zunächst fest in den Routinen des Alltags gegründet zu sein scheint, unter besonderer Berücksichtigung des Eierlikörs und des Ingwertörtchens, bis es sich dann auflöst, von innen her und Stück für Stück.
An dieser Auslöschung ist nichts Dramatisches, und die Übergänge von den scheinbar banalen, oft wiederholten Sätzen, die einem ganz und gar unauffälligen Leben seine Struktur geben, bis zu den plötzlichen Ausfällen des Gedächtnisses sind kurz: Der Niedergang vollzieht sich im Kleinen, er höhlt die Gewohnheiten aus, weswegen sich erst im Nachhinein erweist, wie fatal es tatsächlich war, als die Mutter zum ersten Mal die Wochentage verwechselte.
Zu den häufig verwendeten, meist zustimmend gemeinten, im Grunde aber fragwürdigen Urteilen, die man über ein literarisches Werk fällen kann, gehört der Satz, es gehe in der Wirklichkeit genau so zu, wie es im Buch geschildert werde. Denn wenn es sich tatsächlich so verhielte: Welcher Gewinn wäre dann aus der Lektüre zu ziehen? Und was fügte die literarische Verdopplung einer Wirklichkeit hinzu, die offenbar auch ohne Unterstützung durch die Dichtkunst nicht nur verständlich, sondern auch nachvollziehbar wäre? Dennoch lebt der landläufige Realismus von solchen Verdopplungen, vor allem dann, wenn diese als Bestätigung begriffen werden: Ja, sagt sich der Leser, „genauso war es bei meiner Mutter auch“. Eine solche Verdopplung ist ohne Sentimentalität nicht zu haben: Zwischen dem Buch und seinem Leser wird ein Gefühlsraum aufgespannt, in dem man sich niederlassen kann wie in einer Therapiegruppe, in der jeder Teilnehmer jedem anderen zunächst einmal versichert, sich mit seinen Anliegen am richtigen Ort und unter verständnisvollen Menschen zu befinden.
Der Roman „Die Mutter von Nicolien“ besteht aus kurzen, knappen Szenen, in denen es jeweils um ein Ereignis aus der Krankheitsgeschichte geht. Sie wird von einem auktorialen Erzähler getragen, besteht aber zum größten Teil aus Rede und Gegenrede. Meistens enden diese Szenen mit einer Art Pointe, in der das Geschehene noch einmal in einem Bild zusammengefasst ist. Eine solche Szene handelt davon, dass Tochter und Schwiegersohn die Mutter besuchen. Eine Bekannte ruft an, und plötzlich weiß die Mutter nicht mehr, ob sie sich in der eigenen Wohnung oder in der ihrer Tochter befindet. Nach kurzer Rücksprache teilt die Mutter der Anruferin mit: „Meine Tochter sagt, dass ich hier bin.“
Auf der Heimfahrt im Bus lacht der Schwiegersohn über die Absurdität dieses Satzes, zum Ärger seiner Frau, die das Geschehene nur traurig findet. Daraufhin wendet er sich ab und schaut durch das Fenster in die Nacht: „Neben ihm schaukelte sein Gesicht mit den Bewegungen des Busses mit.“ Der Satz ist programmatisch für eine Erzählhaltung: Bei J. J. Voskuil gibt es keinen gemeinsamen Gefühlsraum, weder zwischen dem Autor und seiner Geschichte noch zwischen dem Leser und dem Erzähler. Man schaukelt lediglich mit, wie durch eine Glasscheibe vom Gegenüber getrennt, was auch gilt, wenn man sich selbst das Gegenüber ist.
Als sich das niederländische Publikum Ende der Neunziger für den totalen Büro-Roman begeisterte und sich eine halbe Million Exemplare der sieben Bände dieses Opus verkauften, kursierten vor allem im Ausland Vermutungen, dieser Enthusiasmus gehe auf ein nicht nur obsessives, sondern auch spezifisch niederländisches Verhältnis zur Bürokratie zurück. Nun ist aber das Buch „Die Mutter von Nicolien“, ein später Abkömmling des Riesenprojekts, im selben Ton und mit derselben Erzählhaltung geschrieben, und das Büro kommt darin allenfalls am Rande vor.
Vielleicht verhält es sich mit der Sachlichkeit anders, als man erwartet, zumindest im Fall von realistischen Romanen: Vielleicht ist Sachlichkeit gar nicht die Abwehr von Schmerz und Verzweiflung. Vielleicht werden solche Gefühle überhaupt erst erkennbar, wenn es Routinen und Rituale gibt, in denen sie aufgehoben werden können. Und vielleicht ist das ostentative, vereinnahmende Mitleiden das Gegenteil einer Innerlichkeit, in der sich Trauer überhaupt erst entfalten kann. In den Niederlanden gab es, wie es scheint, vor ein paar Jahren nicht nur einen klugen Schriftsteller, sondern auch überraschend viele kluge Leser.
THOMAS STEINFELD
Im Gefühlsraum eines solchen
Buches lässt man sich nieder wie
in einer Therapiegruppe
Vielleicht ist ostentatives Mitleid
das Gegenteil einer Innerlichkeit,
in der sich Trauer entfalten kann
J. J. Voskuil:
Die Mutter von Nicolien. Roman. Aus dem
Niederländischen von
Gerd Busse.
Wagenbach, Berlin 2021.
256 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
J. J. Voskuils sachlicher Demenz-Roman „Die Mutter von Nicolien“
Zuerst gleicht das Unglück einem Scherz, einer Lücke im Vorstellungsvermögen oder einer lässlichen, kleinen Verwirrung. Wo die Sonne eigentlich bleibe, wenn sie untergehe, fragt die alte Dame. Mit der naturwissenschaftlichen Erklärung, mit der ihr Schwiegersohn aufwartet, ist sie keineswegs zufrieden. „Ich kann das alles nicht mehr so gut begreifen.“ Dann breitet sich das Unglück aus, langsam, aber unaufhaltsam. Immer größere Lücken reißt es ins Gedächtnis, bis vom Geist einer offenbar munteren und liebenswerten Frau nichts mehr übrigbleibt als eine fatale Hilfsbedürftigkeit und ein dumpfer, alles umfassender Kummer.
Über fast drei Jahrzehnte erstreckt sich die Chronik, die der niederländische Schriftsteller J. J. Voskuil dem geistigen Verfall einer alleinstehenden Frau widmet, von den späten Fünfzigern bis in die frühen Achtziger. Als sie endlich stirbt, ist die Sonne schon seit langer Zeit hinter dem Horizont verschwunden, die Kastanien werden grün, und die Tochter besucht mit dem Schwiegersohn ein Fischrestaurant.
J. J. Voskuils schmales Buch „Die Mutter von Nicolien“, im Original schon im Jahr 1999 erschienen, erzählt die Geschichte einer Demenz. So etwas tun gegenwärtig viele Romane, und noch mehr Bücher erzählen vom Sterben der Mutter, des Vaters oder eines anderen nahestehenden Menschen. Der moralischen Wucht dieser Bücher ist schwerlich zu entgehen: Stets ist da ein einzigartiger Mensch, mehr oder minder klug und freundlich, mehr oder minder vom Leben gezeichnet, doch in jedem Fall ein Universum für sich allein. Und dann geht dieses kleine All verloren, für sich selbst wie für den Rest der Welt, und den Zurückgelassenen bleibt der Schmerz über diesen Verlust.
Doch in den Schmerz mischt sich ein schlechtes Gewissen: Denn dieses kleine All hatte es auch gegeben, bevor es der Vergänglichkeit anheimfiel. Nur hatte man sich kaum darum bemüht, sodass die letzten Tage dieses Menschen im Zeichen eines sonderbaren Widerspruchs stehen: Im selben Maße, wie eine Individualität in die abstrakte Allgemeinheit des Todes eingeht, scheint sie an Würde zu gewinnen. Die Rücksichtnahme, die Pietät und die Zartheit, all die feinen Gefühle, die man einem Menschen vielleicht im Leben hätte zuwenden sollen: Erst im Angesicht des Todes werden sie freigelassen, so spät, dass man sich fragt, wem diese Gefühle eigentlich gelten sollen, dem Sterbenden oder den Hinterbliebenen?
Wer das große Werk J. J. Voskuils (1926 bis 2008) kennt, den siebenteiligen, zwischen den Jahren 1996 und 2000 erschienenen Roman „Das Büro“, die lückenlose Berufsbiografie eines wissenschaftlichen Angestellten in einem Institut für Volkskunde in Amsterdam, kennt auch das Personal dieses Sterbebuchs. Da ist Maarten, der zu Beginn der Chronik seine Stelle antritt und sich zunächst mit den Wichteln beschäftigen soll, die sich in der niederländischen Volksmythologie herumtreiben. Da ist seine strenge Frau Nicolien, die nichts von seinem Beruf hält und ihm dennoch liebend zugetan ist, und da ist die Mutter, eine schlichte Hausfrau, deren Leben zunächst fest in den Routinen des Alltags gegründet zu sein scheint, unter besonderer Berücksichtigung des Eierlikörs und des Ingwertörtchens, bis es sich dann auflöst, von innen her und Stück für Stück.
An dieser Auslöschung ist nichts Dramatisches, und die Übergänge von den scheinbar banalen, oft wiederholten Sätzen, die einem ganz und gar unauffälligen Leben seine Struktur geben, bis zu den plötzlichen Ausfällen des Gedächtnisses sind kurz: Der Niedergang vollzieht sich im Kleinen, er höhlt die Gewohnheiten aus, weswegen sich erst im Nachhinein erweist, wie fatal es tatsächlich war, als die Mutter zum ersten Mal die Wochentage verwechselte.
Zu den häufig verwendeten, meist zustimmend gemeinten, im Grunde aber fragwürdigen Urteilen, die man über ein literarisches Werk fällen kann, gehört der Satz, es gehe in der Wirklichkeit genau so zu, wie es im Buch geschildert werde. Denn wenn es sich tatsächlich so verhielte: Welcher Gewinn wäre dann aus der Lektüre zu ziehen? Und was fügte die literarische Verdopplung einer Wirklichkeit hinzu, die offenbar auch ohne Unterstützung durch die Dichtkunst nicht nur verständlich, sondern auch nachvollziehbar wäre? Dennoch lebt der landläufige Realismus von solchen Verdopplungen, vor allem dann, wenn diese als Bestätigung begriffen werden: Ja, sagt sich der Leser, „genauso war es bei meiner Mutter auch“. Eine solche Verdopplung ist ohne Sentimentalität nicht zu haben: Zwischen dem Buch und seinem Leser wird ein Gefühlsraum aufgespannt, in dem man sich niederlassen kann wie in einer Therapiegruppe, in der jeder Teilnehmer jedem anderen zunächst einmal versichert, sich mit seinen Anliegen am richtigen Ort und unter verständnisvollen Menschen zu befinden.
Der Roman „Die Mutter von Nicolien“ besteht aus kurzen, knappen Szenen, in denen es jeweils um ein Ereignis aus der Krankheitsgeschichte geht. Sie wird von einem auktorialen Erzähler getragen, besteht aber zum größten Teil aus Rede und Gegenrede. Meistens enden diese Szenen mit einer Art Pointe, in der das Geschehene noch einmal in einem Bild zusammengefasst ist. Eine solche Szene handelt davon, dass Tochter und Schwiegersohn die Mutter besuchen. Eine Bekannte ruft an, und plötzlich weiß die Mutter nicht mehr, ob sie sich in der eigenen Wohnung oder in der ihrer Tochter befindet. Nach kurzer Rücksprache teilt die Mutter der Anruferin mit: „Meine Tochter sagt, dass ich hier bin.“
Auf der Heimfahrt im Bus lacht der Schwiegersohn über die Absurdität dieses Satzes, zum Ärger seiner Frau, die das Geschehene nur traurig findet. Daraufhin wendet er sich ab und schaut durch das Fenster in die Nacht: „Neben ihm schaukelte sein Gesicht mit den Bewegungen des Busses mit.“ Der Satz ist programmatisch für eine Erzählhaltung: Bei J. J. Voskuil gibt es keinen gemeinsamen Gefühlsraum, weder zwischen dem Autor und seiner Geschichte noch zwischen dem Leser und dem Erzähler. Man schaukelt lediglich mit, wie durch eine Glasscheibe vom Gegenüber getrennt, was auch gilt, wenn man sich selbst das Gegenüber ist.
Als sich das niederländische Publikum Ende der Neunziger für den totalen Büro-Roman begeisterte und sich eine halbe Million Exemplare der sieben Bände dieses Opus verkauften, kursierten vor allem im Ausland Vermutungen, dieser Enthusiasmus gehe auf ein nicht nur obsessives, sondern auch spezifisch niederländisches Verhältnis zur Bürokratie zurück. Nun ist aber das Buch „Die Mutter von Nicolien“, ein später Abkömmling des Riesenprojekts, im selben Ton und mit derselben Erzählhaltung geschrieben, und das Büro kommt darin allenfalls am Rande vor.
Vielleicht verhält es sich mit der Sachlichkeit anders, als man erwartet, zumindest im Fall von realistischen Romanen: Vielleicht ist Sachlichkeit gar nicht die Abwehr von Schmerz und Verzweiflung. Vielleicht werden solche Gefühle überhaupt erst erkennbar, wenn es Routinen und Rituale gibt, in denen sie aufgehoben werden können. Und vielleicht ist das ostentative, vereinnahmende Mitleiden das Gegenteil einer Innerlichkeit, in der sich Trauer überhaupt erst entfalten kann. In den Niederlanden gab es, wie es scheint, vor ein paar Jahren nicht nur einen klugen Schriftsteller, sondern auch überraschend viele kluge Leser.
THOMAS STEINFELD
Im Gefühlsraum eines solchen
Buches lässt man sich nieder wie
in einer Therapiegruppe
Vielleicht ist ostentatives Mitleid
das Gegenteil einer Innerlichkeit,
in der sich Trauer entfalten kann
J. J. Voskuil:
Die Mutter von Nicolien. Roman. Aus dem
Niederländischen von
Gerd Busse.
Wagenbach, Berlin 2021.
256 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2022Die schrumpfende Welt im Kopf
Neben seinem Büro-Zyklus hat er noch mehr zu bieten: J. J. Voskuils "Die Mutter von Nicolien"
Es war eine der merkwürdigsten literarischen Sensationen, seit es Bestsellerlisten gibt. In den Niederlanden waren die Leser vor zwanzig Jahren den sieben Bänden von J. J. Voskuils Romanzyklus "Das Büro" so verfallen wie der Rest der Welt der Magie Harry Potters. Dabei wird die Handlung bei Voskuil nicht durch Zauberkräfte angetrieben, sondern entschleunigt durch den auf fünftausend Seiten protokollierten Alltag im Amsterdamer Büro eines ethnologischen Instituts. Wichtel gibt es dort allerdings auch, aber nur als Gegenstand eines langwierigen Forschungsprojekts über niederländische Volksmythologien.
Ein Spin-off des "Büros" ist der erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienene Roman "Die Mutter von Nicolien". Bei Nicolien handelt es sich um die Ehefrau der "Büro"-Hauptfigur Maarten. Wieder hadert sie mit der erschöpfenden Arbeit ihres Mannes, deren Sinn sie offenbar nicht erkennen kann. Ungern sieht sie Karteikarten und Fachbücher in seiner Hand. Und kann es nicht leiden, wenn er Rezensionen schreibt: "Eine Besprechung? Für das Büro? In deiner Freizeit! Ich höre ja wohl nicht recht!"
Der Fokus dieses eigenständigen Bandes richtet sich allerdings auf Maartens Schwiegermutter, eine freundliche, unauffällige Frau mit einem Heißhunger auf Kuchen, den sie am liebsten gemeinsam mit Tochter und Schwiegersohn spachtelt. Und wenn dazu noch ein Gläschen Eierlikör gereicht wird, ist schon ein Höhepunkt der Handlung erreicht. Wäre da nicht noch etwas anderes, Unheimliches, das sich allmählich in den unspektakulären Alltag einschleicht. Etwa wenn die Mutter lange in ihrer Handtasche herumwühlt, um endlich ratlos zu fragen: "Was suche ich bloß?"
Demenz ist in den letzten Jahren zu einem großen Thema der Literatur geworden. Autoren berichten in autobiographischen Texten vom Niedergang ihrer Väter oder Mütter. Arno Geigers Buch "Der alte König in seinem Exil" hat viele Leser angerührt. Und Burkhard Spinnen hat mit "Die letzte Fassade" ein sehr ehrliches Buch über die Demenz seiner Mutter geschrieben, das ganz ohne Poetisierung oder literarische Überhöhung der Krankheit auskommt und auch die Überforderung der Angehörigen thematisiert. Um nur zwei gegensätzliche deutschsprachige Werke zu nennen.
Voskuils Roman ist gerade deshalb interessant, weil er auf alles Erklärende verzichtet und mit protokollierender Genauigkeit den Verlauf der Krankheit beschreibt. Statt Kapitelüberschriften gibt es schlichte Datumsanzeigen, die von 1957 bis zur Beerdigung der Schwiegermutter im Jahr 1985 reichen. Offenbar hat Voskuil ein Demenz-Tagebuch geführt, das die Grundlage dieser literarischen Langzeitstudie bildet. Die Krankheit ist unheilbar, ihr Verlauf vorhersehbar. Aber auch wenn das Erzählen deshalb eigentlich völlig überraschungsfrei ist - es gibt eine Spannung der anderen Art. Wie bei der Eskalation eines Dramas wartet man auf das gesetzmäßige Erscheinen der Symptome der jeweils nächsten Krankheitsstufe.
Die Mutter von Nicolien findet Dinge nicht mehr, verläuft sich, verwechselt die Seife mit einem Stück Käse oder Maartens Schuh mit einem Hündchen. Schließlich erkennt sie ihre Tochter nicht mehr. Zunächst und vor allem aber hinterlässt die Krankheit ihre Spuren im Gespräch und zwingt diesem zunehmend die Struktur der Wiederholung auf. Immer wieder wird die gleiche Frage gestellt, immer wieder wird sie von den Angehörigen (meist freundlich, mal ein bisschen genervt) beantwortet. Das Sprechen bekommt etwas von einem befremdlichen Ritual. Von solchen Dialogen als Spiegel der schrumpfenden Welt im Kopf ist Voskuils Roman über weite Strecken geprägt. Noch mehr als in David Wagners Vater-Roman "Der vergessliche Riese" bestimmt hier die Krankheit die Erzählform. Gerd Busses Übersetzung gibt Voskuils lakonische Präzision sehr gut wieder; allerdings klingt es irritierend, wenn die Tochter die eigene Mutter siezt. Es ist eine niederländische Respektsform, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt, und vielleicht sollte eine Übersetzung deshalb auf solch fehlgehende Wörtlichkeit verzichten.
Immer wieder kommen die Dialoge mit der Mutter an jenen Punkt, an dem sich die unheimlichste Frage in Zusammenhang mit der Demenz stellt: Da die Krankheit den Wahrnehmungsapparat selbst betrifft, ist unklar, in welchem Maß die Betroffenen ihr eigenes Elend mitbekommen. Würden sie bemerken, dass sie ständig Fragen wiederholen, würden sie es nicht tun. Aber warum versuchen sie, wie es die Mutter von Nicolien regelmäßig tut, die Aussetzer in Gedächtnis und Sprache zu bagatellisieren und zu überspielen, oft sogar mit erstaunlicher Schlagfertigkeit? Sie verhalten sich so, als hätten sie einen furchtbaren Verdacht. Sehr kennzeichnend auch, dass die Mutter bei anderer Gelegenheit, wenn sie sich einmal gut an etwas erinnert, sofort erfreut in die Offensive geht: "Du hast wohl gedacht, dass ich es vergessen hätte, aber ich bin ja noch nicht völlig senil."
Am Ende der traurigen Verfallskurve ist der Körper (wie eingeschränkt und versehrt auch immer) noch da, aber das Ich in ihm ist verwelkt. Nach dem unvermeidbaren Umzug der Mutter ins Pflegeheim halten Tochter und Schwiegersohn ihre Hand und hoffen, dass da noch ein Seelenrest ist, der es spürt. Die traurige Wahrheit aber teilt der Roman mit der größten Lakonie mit - in Form der Daten. Die Mutter oder das, was von ihr übrig ist, wird in den letzten Jahren immer seltener und schließlich nur noch am Geburtstag besucht. Am Ende dieses Romans, als Gespräche nicht mehr möglich sind, schildert Voskuil Maartens Eindrücke im Pflegeheim. Die Alten sitzen, jeder eine versunkene Welt für sich, vornübergesackt in ihren Rollstühlen, versuchen ein Glas zu heben, werden mit verschmierten Gesichtern gefüttert und stoßen unverständliche Laute aus. Maarten fühlt sich immer beklommener: "So stellte er sich das Jenseits vor."
"Es hätte etwas Anrührendes gehabt, wenn es nicht so traurig gewesen wäre" - diese Formulierung lässt sich auf viele Szenen des Romans beziehen, etwa wenn die Mutter zum letzten Mal ihr Haus verlässt. "Pflegeheim Sammersbrug", sagt Maarten leise zum Taxifahrer. Und die Mutter scheint zu spüren, dass es kein Zurück gibt: "Tschüss Häuschen, sagte sie leise." WOLFGANG SCHNEIDER
J. J. Voskuil: "Die Mutter von Nicolien". Roman.
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. Wagenbach Verlag,
Berlin 2021. 256 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neben seinem Büro-Zyklus hat er noch mehr zu bieten: J. J. Voskuils "Die Mutter von Nicolien"
Es war eine der merkwürdigsten literarischen Sensationen, seit es Bestsellerlisten gibt. In den Niederlanden waren die Leser vor zwanzig Jahren den sieben Bänden von J. J. Voskuils Romanzyklus "Das Büro" so verfallen wie der Rest der Welt der Magie Harry Potters. Dabei wird die Handlung bei Voskuil nicht durch Zauberkräfte angetrieben, sondern entschleunigt durch den auf fünftausend Seiten protokollierten Alltag im Amsterdamer Büro eines ethnologischen Instituts. Wichtel gibt es dort allerdings auch, aber nur als Gegenstand eines langwierigen Forschungsprojekts über niederländische Volksmythologien.
Ein Spin-off des "Büros" ist der erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienene Roman "Die Mutter von Nicolien". Bei Nicolien handelt es sich um die Ehefrau der "Büro"-Hauptfigur Maarten. Wieder hadert sie mit der erschöpfenden Arbeit ihres Mannes, deren Sinn sie offenbar nicht erkennen kann. Ungern sieht sie Karteikarten und Fachbücher in seiner Hand. Und kann es nicht leiden, wenn er Rezensionen schreibt: "Eine Besprechung? Für das Büro? In deiner Freizeit! Ich höre ja wohl nicht recht!"
Der Fokus dieses eigenständigen Bandes richtet sich allerdings auf Maartens Schwiegermutter, eine freundliche, unauffällige Frau mit einem Heißhunger auf Kuchen, den sie am liebsten gemeinsam mit Tochter und Schwiegersohn spachtelt. Und wenn dazu noch ein Gläschen Eierlikör gereicht wird, ist schon ein Höhepunkt der Handlung erreicht. Wäre da nicht noch etwas anderes, Unheimliches, das sich allmählich in den unspektakulären Alltag einschleicht. Etwa wenn die Mutter lange in ihrer Handtasche herumwühlt, um endlich ratlos zu fragen: "Was suche ich bloß?"
Demenz ist in den letzten Jahren zu einem großen Thema der Literatur geworden. Autoren berichten in autobiographischen Texten vom Niedergang ihrer Väter oder Mütter. Arno Geigers Buch "Der alte König in seinem Exil" hat viele Leser angerührt. Und Burkhard Spinnen hat mit "Die letzte Fassade" ein sehr ehrliches Buch über die Demenz seiner Mutter geschrieben, das ganz ohne Poetisierung oder literarische Überhöhung der Krankheit auskommt und auch die Überforderung der Angehörigen thematisiert. Um nur zwei gegensätzliche deutschsprachige Werke zu nennen.
Voskuils Roman ist gerade deshalb interessant, weil er auf alles Erklärende verzichtet und mit protokollierender Genauigkeit den Verlauf der Krankheit beschreibt. Statt Kapitelüberschriften gibt es schlichte Datumsanzeigen, die von 1957 bis zur Beerdigung der Schwiegermutter im Jahr 1985 reichen. Offenbar hat Voskuil ein Demenz-Tagebuch geführt, das die Grundlage dieser literarischen Langzeitstudie bildet. Die Krankheit ist unheilbar, ihr Verlauf vorhersehbar. Aber auch wenn das Erzählen deshalb eigentlich völlig überraschungsfrei ist - es gibt eine Spannung der anderen Art. Wie bei der Eskalation eines Dramas wartet man auf das gesetzmäßige Erscheinen der Symptome der jeweils nächsten Krankheitsstufe.
Die Mutter von Nicolien findet Dinge nicht mehr, verläuft sich, verwechselt die Seife mit einem Stück Käse oder Maartens Schuh mit einem Hündchen. Schließlich erkennt sie ihre Tochter nicht mehr. Zunächst und vor allem aber hinterlässt die Krankheit ihre Spuren im Gespräch und zwingt diesem zunehmend die Struktur der Wiederholung auf. Immer wieder wird die gleiche Frage gestellt, immer wieder wird sie von den Angehörigen (meist freundlich, mal ein bisschen genervt) beantwortet. Das Sprechen bekommt etwas von einem befremdlichen Ritual. Von solchen Dialogen als Spiegel der schrumpfenden Welt im Kopf ist Voskuils Roman über weite Strecken geprägt. Noch mehr als in David Wagners Vater-Roman "Der vergessliche Riese" bestimmt hier die Krankheit die Erzählform. Gerd Busses Übersetzung gibt Voskuils lakonische Präzision sehr gut wieder; allerdings klingt es irritierend, wenn die Tochter die eigene Mutter siezt. Es ist eine niederländische Respektsform, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt, und vielleicht sollte eine Übersetzung deshalb auf solch fehlgehende Wörtlichkeit verzichten.
Immer wieder kommen die Dialoge mit der Mutter an jenen Punkt, an dem sich die unheimlichste Frage in Zusammenhang mit der Demenz stellt: Da die Krankheit den Wahrnehmungsapparat selbst betrifft, ist unklar, in welchem Maß die Betroffenen ihr eigenes Elend mitbekommen. Würden sie bemerken, dass sie ständig Fragen wiederholen, würden sie es nicht tun. Aber warum versuchen sie, wie es die Mutter von Nicolien regelmäßig tut, die Aussetzer in Gedächtnis und Sprache zu bagatellisieren und zu überspielen, oft sogar mit erstaunlicher Schlagfertigkeit? Sie verhalten sich so, als hätten sie einen furchtbaren Verdacht. Sehr kennzeichnend auch, dass die Mutter bei anderer Gelegenheit, wenn sie sich einmal gut an etwas erinnert, sofort erfreut in die Offensive geht: "Du hast wohl gedacht, dass ich es vergessen hätte, aber ich bin ja noch nicht völlig senil."
Am Ende der traurigen Verfallskurve ist der Körper (wie eingeschränkt und versehrt auch immer) noch da, aber das Ich in ihm ist verwelkt. Nach dem unvermeidbaren Umzug der Mutter ins Pflegeheim halten Tochter und Schwiegersohn ihre Hand und hoffen, dass da noch ein Seelenrest ist, der es spürt. Die traurige Wahrheit aber teilt der Roman mit der größten Lakonie mit - in Form der Daten. Die Mutter oder das, was von ihr übrig ist, wird in den letzten Jahren immer seltener und schließlich nur noch am Geburtstag besucht. Am Ende dieses Romans, als Gespräche nicht mehr möglich sind, schildert Voskuil Maartens Eindrücke im Pflegeheim. Die Alten sitzen, jeder eine versunkene Welt für sich, vornübergesackt in ihren Rollstühlen, versuchen ein Glas zu heben, werden mit verschmierten Gesichtern gefüttert und stoßen unverständliche Laute aus. Maarten fühlt sich immer beklommener: "So stellte er sich das Jenseits vor."
"Es hätte etwas Anrührendes gehabt, wenn es nicht so traurig gewesen wäre" - diese Formulierung lässt sich auf viele Szenen des Romans beziehen, etwa wenn die Mutter zum letzten Mal ihr Haus verlässt. "Pflegeheim Sammersbrug", sagt Maarten leise zum Taxifahrer. Und die Mutter scheint zu spüren, dass es kein Zurück gibt: "Tschüss Häuschen, sagte sie leise." WOLFGANG SCHNEIDER
J. J. Voskuil: "Die Mutter von Nicolien". Roman.
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. Wagenbach Verlag,
Berlin 2021. 256 S., geb., 23,- Euro.
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