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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2011

DAS HÖRBUCH
Wo im Ich
das Bett steht
Hans Henny Jahnns „Die Nacht
aus Blei“ als grandioses Hörspiel
Als Hans Henny Jahnn in den fünfziger Jahren dringend Hilfe benötigte, nahm sich Anna Seghers seiner an. Er hatte der jungen Schriftstellerin 1928 den Kleist-Preis zugesprochen, nun konnte sie sich revanchieren und vermittelte ihm den Auftrag, im Großen Rundfunksendesaal in Ost-Berlin die Orgel zu bauen. Damit verdiente er eine Weile sein Brot und schrieb in der verbleibenden Zeit an dem Roman „Jeden ereilt es“. Das Werk wurde nie vollendet, aber die Binnenerzählung veröffentlichte Jahnn 1956, drei Jahre vor seinem Tod, als eigenständige Novelle unter dem existenziell lastenden Titel „Die Nacht aus Blei“.
Der Zufall wollte, dass Alexander Schuhmacher zehn Schritte vom Großen Rundfunksendesaal entfernt, im Studio P4, sein Hörspiel nach Jahnns letztem Prosatext produzierte. Der erfahrene Regisseur nahm es als günstiges Vorzeichen, ließ sich von Jakob Diehl eine Musik komponieren, die nicht allein Atmosphäre erzeugt, sondern den Text trägt, und fand Schauspieler, die den Figuren kraft ihrer Stimme und ihres Vortragswitzes Leben einhauchen. So entgehen sie dem Schicksal, ein Dasein als bloß bedeutende Schatten fristen zu müssen.
Es bedarf einigen ästhetischen Aufwands, um Jahnns Erzählung plausibel erscheinen zu lassen. Dieser Autor ist nichts für Leser mit Pathosallergie. In „Die Nacht aus Blei“ entwarf er eine Landschaft, die schon in den fünfziger Jahren literarisch abgegrast wirken konnte: Der Jüngling Matthieu findet sich, abgesetzt von einem Engel, nachts in einer unbekannten Stadt wieder. Er spürt ein Verlangen nach Menschen, um auch mit dem eigenen Ich wieder in Kontakt zu kommen. Er absolviert klassische Stationen: Bordell, Spelunke, düstere Straße, unterirdische Wohnung. Man ahnt: der Einsamkeit wird nicht abgeholfen, Trieb und Tod verschlingen sich ineinander, das Schöne ist die Zwillingsschwester des Schrecklichen. In dieser Stadt bekommt niemand Boden unter die Füße.
Schönheit wie Sinnleere werden hier Klang, und die zufällig vorherbestimmten Begegnungen gewinnen überraschend dramatische Prägnanz. So wenn die Hure Elvira dem Wanderer bescheinigt, er habe sich eingerichtet in seinem Körper: „Ob Sie dabei viel Geschmack entwickelt haben, bezweifle ich. Wenn man Sie betrachtet, vermutet man jedenfalls sogleich, dass Sie nicht wissen, wo in Ihnen das Bett steht.“
Matthieu weiß in der Tat nicht, wie ihm eine geborgene, lustvolle Existenz gelingen könnte. Er trifft einen Doppelgänger, Anders, sein jüngeres Selbst. Er wird den Hungernden, Hilflosen, Verwundeten töten und selbst vom Todesengel geholt werden. Auch in dieser Begegnung hat Jahnn eine zentrale Kindheitserfahrung gestaltet. Seine Mutter schleppte ihn gern zu einem Grabstein, auf dem stand: „Hier ruht Hans Henny Jahnn“. „Sie liebte mich“, hat er einmal berichtet, „aber nur als Ersatzkind. Ich war abstoßend häßlich, jener war bildhübsch gewesen.“
Das ist ein Bild der Kränkung, die Leben heißt. Dass man seiner drastischen, klischeereichen Ausmalung gebannt lauschen würde, hätte man nicht für möglich gehalten, bevor es dieses klug gemachte Hörspiel gab.
JENS BISKY
HANS HENNY JAHNN: Die Nacht aus Blei. Hörspiel von Alexander Schuhmacher. Sprecher: Michael Rotschopf, Sandra Borgmann, Barnaby Metschurat u.a. Musik: Jakob Diehl. Hörbuch Hamburg, Hamburg 2011. 2 CDs, 112 Minuten, 16,99 Euro.
„Ich war abstoßend häßlich,
jener war bildhübsch gewesen“
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2011

Dämon an der Orgel

Die Zombies und Kannibalen des Horrorfilms sind harmlos gegen die Dämonen, die Hans Henny Jahnn 1956 in seiner "Nacht aus Blei" aus den Tiefen seines Unterbewusstseins, aus Mysterien und Mythen und wohl auch aus der Erfahrung der Stunde null heraufbeschwor. Mathieu, offensichtlich ein Selbstporträt des Autors, irrt allein durch eine menschenleere Geisterstadt. Dabei durchläuft er den ganzen Parcours schwarzer Romantik - dunkle Straßen, Bordell, Kaschemme, Kellergruft -, ehe er Anders, seinem jüngeren Alter Ego, begegnet und den Kreislauf von Liebe, Gewalt und Tod durchbricht. Auf Anders' Flehen stößt er dem Strichjungen die Faust in eine klaffende Fleischwunde im Unterleib und lässt sich vom Todesengel Gari wegtragen. Jahnns Novelle ist düster, abgrundtief pessimistisch, peinigend grausam: Der Hamburger Mystiker watet triebhaft-getrieben in Blut und wühlt in der offenen Wunde seiner Homosexualität. Alexander Schuhmacher sattelt seiner Bearbeitung noch ein paar Effekte drauf: atemloses Hecheln, gespenstisches Flüstern, Donner- und Paukenschläge des Neutöners Jakob Diehl. Das spätexpressionistisch-existentialistische Pathos und die surrealistischen Bilder von Jahnns höllischem Selbsterfahrungstrip haben bereits Fünfziger-Jahre-Patina angesetzt, aber die Sprecher sind von hier und heute. Michael Rotschopf übernimmt die Doppelrolle von Opfer und Mörder, Ulrich Noethen leiht dem Todesengel seine Stimme; Sandra Bargmann gibt die lasziv gurrende Hure, Barnaby Metschurat das knabenhaft bockige Eselchen. Wer das bleischwer sich dehnende Finale dieser Selbstzerfleischungsorgie übersteht, wird die Dämonen und Albträume des Orgelbauers nicht mehr vergessen. (Hans Henny Jahnn: "Die Nacht aus Blei". Hörspielbearbeitung von Alexander Schuhmacher. Hörbuch Hamburg 2011. 2 CDs, 112 Min., 16,99 [Euro].)

hal

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