Am Stadtrand von Shyness, wo ewige Dunkelheit herrscht und die Grenzen vor merkwürdiger Energie knistern, trifft Wolfboy im Diabetic Hotel ein seltsames Mädchen. Sein Name ist Wildgirl und es erklärt Wolfboy zum Fremdenführer für eine Nacht. Auf ihrer Tour durch Shyness kommen sie den Gangs der zuckerabhängigen Kids in die Quere. Ein waghalsiges Abenteuer beginnt, in dem Wolfboy und Wildgirl nicht nur verrückten Affen, ewigen Träumern, Döner verkaufenden Wahrsagerinnen und teuflischen Psychiatern begegnen, sondern auch der ganz, ganz großen Liebe - denn eine Nacht ist lang genug, um zwei Leben für immer zu verändern.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Eindruck der ersten Seiten, dass es sich bei Leanne Halls neuem Roman "Die Nacht von Shyness" um einen gewöhnlichen Teenager-Klamauk handele, hat sich schnell verflüchtigt, beteuert Rezensentin Alina Bronsky, die dringend zum Weiterlesen rät. Denn schon bald hat sich die Kritikerin von diesem "dystopischen" und finsteren Liebesroman für junge Leute in den Bann ziehen lassen. Sie begleitet hier Halls aufmüpfige Heldin "Wildgirl" und ihren neuen, melancholischen Freund "Wolfboy" bei ihren Streifzügen durch die düstere und nie enden wollende Nacht im apokalyptischen Shyness, und begegnet dabei zahlreichen "surrealistischen" Gestalten wie etwa zuckersüchtigen Straßenkindern, die in Begleitung von kleinen Äffchen Passanten auf der Suche nach Süßigkeiten ausrauben. Mit großer Bewunderung liest die Kritikerin, wie es Hall gelingt, mit nur sparsamen Andeutungen die Spannung dieser ebenso rätselhaften wie albtraumhaften Geschichte ins Unermessliche zu treiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2012Wer die Apokalypse verpasst hat, kann nur noch darüber spotten
In Sicherheit gewiegt, in den Albtraum gestürzt: Leanne Halls Roman "Die Nacht von Shyness" führt den Leser an der Hand zweier Teenager durch eine finstere Welt, in der die Naturgesetze nur eingeschränkt gelten.
Am Anfang versucht ein betrunkenes Mädchen, sich mit dem Führerschein ihrer Mutter am Türsteher vorbei in einen Club zu mogeln. Ihr zu enges T-Shirt gilt dabei als Hauptargument. Wenig später sieht sie ihn - "Die lächerliche John-Travolta-Tolle dürfte man ihm eigentlich nicht durchgehen lassen, aber irgendwie passt sie zu ihm." An dieser Stelle möchte man, in Vorahnung weiterer 200 Seiten Teenager-Balz, das Buch wieder zuschlagen. Doch es ist besser, noch eine Weile dranzubleiben. "Die Nacht von Shyness" von Leanne Hall kommt als dystopischer Liebesroman für junge Leser am Anfang eher harmlos daher. Doch schon bald wird klar: Wer sich auf den abgründigen Trip einlässt, kann auch nach der letzten Seite nicht ganz sicher sein, dass es wirklich vorbei ist.
Die aufmüpfige Heldin nennt sich Wildgirl, der hübsche Tollenträger Wolfboy. Natürlich sind es Spitznamen, und überdeutlich sprechende dazu. Wildgirl ist ein impulsives und altkluges Kind des Prekariats, beim melancholischen Wolfboy schimmert gehobene Herkunft durch Worte und Taten. Aber das ist nicht sehr wichtig, denn das ungleiche Noch-nicht-Paar sitzt im gleichen Boot. Mitten in ihrer Welt hat sich die Düsternis breitgemacht: In einem der Stadtviertel, das Shyness heißt, geht die Sonne nicht mehr auf. Seit drei Jahren ist es bereits so, und keiner kennt den Grund. Aus Shyness stammt der Junge; seine Eltern sind längst weg, doch er hält die Stellung.
Die ewige Nacht hat sich ins Herz der Stadt geschlichen, nicht jeder hat es gleich mitgekriegt. Herrlich ist die Stelle, als Wildgirl und Wolfboy über die Verschwörungstheorien lächeln, die den beiläufigen Weltuntergang zu erklären versuchen. Wenn man die Apokalypse fast verpasst hat, bleibt nicht viel übrig, als darüber zu spotten. Und so sind ein Mädchen und ein Junge, die sich gerade kennengelernt haben, durch die Nacht unterwegs.
Grund genug für den Verlag, den Roman als "Before Sunrise für Teens" zu bewerben. Die Pointe ist, dass die Nacht in Shyness niemals endet. Als "Touristin auf der dunklen Seite" macht sich Wolfboy, der Fremdenführer der Schattenseite, über seine neue Begleiterin lustig. Und mit dem Schritt über die Grey Street, die Grenze zwischen den Welten, wird "Die Nacht von Shyness" zu einem herausragenden Buch, das den Leser erst mit plakativen Banalitäten in Sicherheit wiegt, um ihn dann an Wildgirls Seite in einen Albtraum zu stürzen. Vorher drückt ihr der Zufall eine namenlose goldene Kreditkarte in die Hand, die jemand auf einer Toilette vergessen hat. Doch der Leser ahnt schon, dass es gerade in Shyness nichts geschenkt gibt.
Und plötzlich beginnt man, die präzisen Sätze und die schwebenden Andeutungen dieses Buches zu lieben. Freunde rasch lösbarer Rätsel könnte es wahnsinnig machen, dass die Helden so sparsam mit dem Preisgeben ihrer Geheimnisse sind. Wildgirl kennt ihren Vater nicht und will nach dem Mobbing an ihrer Schule nichts als weg. Wolfboy hat einen Bruder, der sich umgebracht hat und dem er zum Verwechseln ähnlich sieht. "Ich will sie nicht mit meiner Geschichte langweilen", denkt er an einer Stelle, und diese dankenswerte Absicht scheint zum Konzept zu gehören. Hauptsache, er hat überhaupt eine Geschichte. Wolfboy kann wie ein Wolf heulen, zudem wird übermäßiger Haarwuchs angedeutet. Mehr erfährt man nicht, und merkwürdigerweise ist das perfekt so.
Und irgendwann ist die Gänsehaut da. Der surreale Grusel hat sich ähnlich herangeschlichen wie die Nacht in Shyness. Wildgirl, das Mädchen der Gegenwart und Popkultur, lernt nicht ganz freiwillig das surreale Personal der Dunkelheit kennen: zuckersüchtige Straßenkinder, die in Begleitung kleiner Äffchen Passanten auf der Suche wegen Süßigkeiten ausrauben; Träumer mit dem typischen schwankenden Gang, die den Schlaf künstlich mit Tabletten verlängern. "Sie sind überzeugt, dass die Träume die eigentliche Realität sind", erklärt Wolfboy, der seine Begleiterin an Orte führt, die Orphanville und Little Death heißen. Wer im Dunkeln gut gedeiht, wird als Pilz bezeichnet; ein unheimlicher Arzt namens Doktor Gregory ist dabei ein besonders giftiger. "Manche Veränderungen kommen schleichend, andere so plötzlich, dass es dich zerreißt und du nicht mehr weißt, wer du bist." Shyness, so scheint es bald, ist vor allem die Welt der verlassenen Kinder.
Und das vermeintliche Liebespaar? Am Ende der Nacht kennen die beiden ihre richtigen Namen, bleiben aber in liebgewonnener Diskretion den Spitznamen treu. Sie haben eher einen Albtraum als ein Abenteuer überlebt und sich in geradezu Twilight-artiger Keuschheit höchstens ein paar Mal an den Händen gehalten. In einem Interview nach Erscheinen des Buches hat die Autorin erzählt, dass sie an der Fortsetzung arbeite. Keine Ahnung, ob das eine gute Nachricht ist.
ALINA BRONSKY
Leanne Hall: "Die Nacht von Shyness"
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister. Aufbau-Verlag, Berlin 2012. 289 S., geb., 16,99 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Sicherheit gewiegt, in den Albtraum gestürzt: Leanne Halls Roman "Die Nacht von Shyness" führt den Leser an der Hand zweier Teenager durch eine finstere Welt, in der die Naturgesetze nur eingeschränkt gelten.
Am Anfang versucht ein betrunkenes Mädchen, sich mit dem Führerschein ihrer Mutter am Türsteher vorbei in einen Club zu mogeln. Ihr zu enges T-Shirt gilt dabei als Hauptargument. Wenig später sieht sie ihn - "Die lächerliche John-Travolta-Tolle dürfte man ihm eigentlich nicht durchgehen lassen, aber irgendwie passt sie zu ihm." An dieser Stelle möchte man, in Vorahnung weiterer 200 Seiten Teenager-Balz, das Buch wieder zuschlagen. Doch es ist besser, noch eine Weile dranzubleiben. "Die Nacht von Shyness" von Leanne Hall kommt als dystopischer Liebesroman für junge Leser am Anfang eher harmlos daher. Doch schon bald wird klar: Wer sich auf den abgründigen Trip einlässt, kann auch nach der letzten Seite nicht ganz sicher sein, dass es wirklich vorbei ist.
Die aufmüpfige Heldin nennt sich Wildgirl, der hübsche Tollenträger Wolfboy. Natürlich sind es Spitznamen, und überdeutlich sprechende dazu. Wildgirl ist ein impulsives und altkluges Kind des Prekariats, beim melancholischen Wolfboy schimmert gehobene Herkunft durch Worte und Taten. Aber das ist nicht sehr wichtig, denn das ungleiche Noch-nicht-Paar sitzt im gleichen Boot. Mitten in ihrer Welt hat sich die Düsternis breitgemacht: In einem der Stadtviertel, das Shyness heißt, geht die Sonne nicht mehr auf. Seit drei Jahren ist es bereits so, und keiner kennt den Grund. Aus Shyness stammt der Junge; seine Eltern sind längst weg, doch er hält die Stellung.
Die ewige Nacht hat sich ins Herz der Stadt geschlichen, nicht jeder hat es gleich mitgekriegt. Herrlich ist die Stelle, als Wildgirl und Wolfboy über die Verschwörungstheorien lächeln, die den beiläufigen Weltuntergang zu erklären versuchen. Wenn man die Apokalypse fast verpasst hat, bleibt nicht viel übrig, als darüber zu spotten. Und so sind ein Mädchen und ein Junge, die sich gerade kennengelernt haben, durch die Nacht unterwegs.
Grund genug für den Verlag, den Roman als "Before Sunrise für Teens" zu bewerben. Die Pointe ist, dass die Nacht in Shyness niemals endet. Als "Touristin auf der dunklen Seite" macht sich Wolfboy, der Fremdenführer der Schattenseite, über seine neue Begleiterin lustig. Und mit dem Schritt über die Grey Street, die Grenze zwischen den Welten, wird "Die Nacht von Shyness" zu einem herausragenden Buch, das den Leser erst mit plakativen Banalitäten in Sicherheit wiegt, um ihn dann an Wildgirls Seite in einen Albtraum zu stürzen. Vorher drückt ihr der Zufall eine namenlose goldene Kreditkarte in die Hand, die jemand auf einer Toilette vergessen hat. Doch der Leser ahnt schon, dass es gerade in Shyness nichts geschenkt gibt.
Und plötzlich beginnt man, die präzisen Sätze und die schwebenden Andeutungen dieses Buches zu lieben. Freunde rasch lösbarer Rätsel könnte es wahnsinnig machen, dass die Helden so sparsam mit dem Preisgeben ihrer Geheimnisse sind. Wildgirl kennt ihren Vater nicht und will nach dem Mobbing an ihrer Schule nichts als weg. Wolfboy hat einen Bruder, der sich umgebracht hat und dem er zum Verwechseln ähnlich sieht. "Ich will sie nicht mit meiner Geschichte langweilen", denkt er an einer Stelle, und diese dankenswerte Absicht scheint zum Konzept zu gehören. Hauptsache, er hat überhaupt eine Geschichte. Wolfboy kann wie ein Wolf heulen, zudem wird übermäßiger Haarwuchs angedeutet. Mehr erfährt man nicht, und merkwürdigerweise ist das perfekt so.
Und irgendwann ist die Gänsehaut da. Der surreale Grusel hat sich ähnlich herangeschlichen wie die Nacht in Shyness. Wildgirl, das Mädchen der Gegenwart und Popkultur, lernt nicht ganz freiwillig das surreale Personal der Dunkelheit kennen: zuckersüchtige Straßenkinder, die in Begleitung kleiner Äffchen Passanten auf der Suche wegen Süßigkeiten ausrauben; Träumer mit dem typischen schwankenden Gang, die den Schlaf künstlich mit Tabletten verlängern. "Sie sind überzeugt, dass die Träume die eigentliche Realität sind", erklärt Wolfboy, der seine Begleiterin an Orte führt, die Orphanville und Little Death heißen. Wer im Dunkeln gut gedeiht, wird als Pilz bezeichnet; ein unheimlicher Arzt namens Doktor Gregory ist dabei ein besonders giftiger. "Manche Veränderungen kommen schleichend, andere so plötzlich, dass es dich zerreißt und du nicht mehr weißt, wer du bist." Shyness, so scheint es bald, ist vor allem die Welt der verlassenen Kinder.
Und das vermeintliche Liebespaar? Am Ende der Nacht kennen die beiden ihre richtigen Namen, bleiben aber in liebgewonnener Diskretion den Spitznamen treu. Sie haben eher einen Albtraum als ein Abenteuer überlebt und sich in geradezu Twilight-artiger Keuschheit höchstens ein paar Mal an den Händen gehalten. In einem Interview nach Erscheinen des Buches hat die Autorin erzählt, dass sie an der Fortsetzung arbeite. Keine Ahnung, ob das eine gute Nachricht ist.
ALINA BRONSKY
Leanne Hall: "Die Nacht von Shyness"
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister. Aufbau-Verlag, Berlin 2012. 289 S., geb., 16,99 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main