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Was bedeutet dem Menschen die Nacht? Aller Forschung zum Trotz bleibt sie unheimlich, ein Ort der Ängste, des Schreckens und der Not, aber auch ein Reich der Imagination, der Träume, Sehnsüchte und Begierden. In seinem hoch gelobten, klugen und faszinierenden Buch zeigt uns Alvarez die Welt, in der wir leben, wenn die Sonne untergegangen ist.

Produktbeschreibung
Was bedeutet dem Menschen die Nacht? Aller Forschung zum Trotz bleibt sie unheimlich, ein Ort der Ängste, des Schreckens und der Not, aber auch ein Reich der Imagination, der Träume, Sehnsüchte und Begierden. In seinem hoch gelobten, klugen und faszinierenden Buch zeigt uns Alvarez die Welt, in der wir leben, wenn die Sonne untergegangen ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1998

Ungeheuervolle Nacht
A. Alvarez zügelte seine Angst und ging auf Streife in die Schattenwelt

"Der Siegeszug der künstlichen Beleuchtung ist eines der wenigen Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts, die nicht fehlgeschlagen sind." Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Tag und Nacht zwei deutlich voneinander getrennte Welten, deren Vermischung Privileg der Adeligen und der reichen Bürger war. Noch die 1807 in London erstmals installierte Straßenbeleuchtung durch Gaslaternen änderte daran nichts. Erst mit der Erfindung der Glühbirne durch Swan und Edison wurde die jahrtausendealte Lichtquelle Feuer abgelöst, so daß auch dem schwarzen Kontinent der Nacht die restlose Kolonialisierung bevorstand. Der Londoner Lyriker und Essayist A. Alvarez hat sich die herkulische Arbeit einer Kulturgeschichte der Nacht vorgenommen. Seine Grundthese ist, daß durch ihre grelle Ausleuchtung die menschheitsalten Geheimnisse der Nacht nicht gelöst, sondern nur unsichtbar geworden seien. Wer ins Lagerfeuer starrt, dem erscheint die Umgebung nur noch finsterer. Auch in den Neonwelten unserer Städte hat sich nicht einfach der Tag ausgedehnt, sondern eine eigene Zivilisation der Nacht herausgebildet.

Die Konturlosigkeit seines Themas überlistet der 1929 in London geborene Alvarez durch die Rückbindung der Fragestellung an eigene Kindheits- und Jugenderinnerungen. Der jüngste Sproß einer jüdischen Familie des gehobenen Mittelstands hatte panische Angst vor den dunklen Winkeln des elterlichen Hauses. Die ausführliche Schilderung der schwierigen Familienkonstellation legt psychoanalytische Deutungsmuster nahe. Alvarez will die Finsternis allerdings anthropologisch verstehen, als Projektionsfläche von Ängsten, in denen die urzeitliche Wehrlosigkeit des schlafenden Menschen gegenüber wilden Tieren fortwirkt. Aus der Erinnerung an die einstige Todesgefahr entstand die Moral, der die Nacht als Stunde lichtscheuen Gesindels erscheint: Nur wer schläft, sündigt nicht, da der Fürst der Finsternis die Schattenwelt regiert.

"Das Haus war von den Unglückslauten der Erwachsenen erfüllt. Ich kroch heimlich aus dem Bett und lauschte ihrer Verzweiflung, die verworren durch das Treppenhaus empordrang. Immer bei Nacht. Die Nacht, folgerte ich, war also die Zeit, in der die Erwachsenen ihren wahren Charakter zeigten." Dieser nächtlichen Wahrheit ist Alvarez auf der Spur, die wie die Träume und die Sterne tagsüber von der blendenden Klarheit des Bewußtseins überstrahlt wird. So erzählt er nebenbei die Geschichte der Traumdeutung von Artemidoros bis zur Freudschen Psychoanalyse, der inneren Entsprechung der künstlichen Beleuchtung. Aus Befunden der Schlafforschung, wonach die nächtliche Aktivität des Gehirns vor allem während der Traumphasen des Rapid Eye Movement (REM) kaum gegenüber dem Wachzustand abnimmt, entwickelt Alvarez eine Kritik der Freudschen Verhältnisbestimmung von Schlaf und Traum. Freud betrachtete den Traum analog zur Neurose als eine Kompromißbildung zwischen der Manifestation eines unbewußten Wunsches und seiner gleichzeitigen Abwehr. Der durch den inneren Zensor gefilterte Traum wird zum "Wächter des Schlafes", der ob der Heftigkeit der erotischen Impulse gefährdet wäre. Tatsächlich ist Träumen aber ein elementarer biologischer Prozeß, "eine natürliche und notwendige Körperfunktion", so daß für Alvarez umgekehrt gilt: "Der Schlaf ist der Wächter der Träume."

Jedoch wehrt sich Alvarez auch gegen die reduktionistischen Thesen der modernen Neurophysiologie. Träume sind ebenso wie andere Bewußtseinsphänomene nicht durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse restlos erklärbar. Sie sind auch keine zufälligen Testläufe eines zur Untätigkeit verurteilten Hirns, vergleichbar einem Motor bei getretener Kupplung. Alvarez bietet berühmte historische Beispiele auf, die wie die träumerische Entdeckung der Struktur des Benzolringes durch Kekulé zeigen, daß Träumen nur eine Fortsetzung des Denkens mit anderen Mitteln ist. Es sei "eine demokratische, für alle frei verfügbare Version des unterschwelligen, instinktiven, präverbalen Denkens, das man bei kreativen Menschen ,Inspiration' nennt".

Bei einem Homme de lettre wie Alvarez ist ein Exkurs über den Zusammenhang von Traum und Dichtung an dieser Stelle obligatorisch. Seine Blicke auf Coleridge, Nerval, Stevenson und die Surrealisten hätten gern ausführlicher sein dürfen. Allerdings entschädigt, daß Alvarez auch die anderen Kapitel mit Früchten seiner immensen Belesenheit reich verziert. Zugleich aber legt sich der Autor selbst an die Elektroden eines Schlaflabors, begleitet New Yorker und Londoner Polizeistreifen bei ihrem deprimierenden nächtlichen Geschäft und bietet so eine fein abgewogene Mischung aus Erlesenem und Erlebten.

Neonheller Abstraktion wie zwielichtigem Wortgeklingel gleichermaßen abhold, ist der unaufgeregte und poetische Stil dem Gegenstand vollkommen angemessen. Das Buch macht nicht zuletzt deshalb Lust auf Schlaf, weil es selbst alles andere als ermüdend ist: "Höchstselbst zu Bett zu gehen und sich diagonal darin ausbreiten - die pure Sinnlichkeit des Schläfrigwerdens ist ein Geheimnis, das die Alten den Jungen vorenthalten. Die gehetzten Menschen im mittleren Lebensalter sind in derselben Weise in den Schlaf verliebt wie die Jungen in die Liebe; Enthaltsamkeit ist die Qual der Jugend, Schlaflosigkeit die des Alters." In diesem Sinne dem Leser eine gute Nacht. RICHARD KÄMMERLINGS

A. Alvarez: "Die Nacht". Von Dunkelheit, Träumen und Nachtschwärmern. Aus dem Englischen von Olga Rinne-Goedke. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1997. 352 S., geb., 39,80 DM.

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