Produktdetails
- Verlag: Patmos
- ISBN-13: 9783794180813
- ISBN-10: 379418081X
- Artikelnr.: 23820574
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Ist sie am Ende gar unsterblich?
Das schönste Mädchen von Friedrichshain: Iva Procházková schickt fünf Menschen in die Pubertät.
Von Simone Giesen
Der Titel ist so provokant wie irreführend: Denn "Die Nackten" meint allein die seelische Blöße, wie sie in der Pubertät besonders intensiv erlebt wird und die hier alle Blicke auf sich zieht, da sie in schillerndem literarischem Gewand flaniert. "In der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich", so erklärt es Sylvas Vater. Seiner hochbegabten Tochter kann das Erleben, können die Berührungen gar nicht intensiv genug sein. Statt sich in der Schule zu langweilen, schwimmt sie in Flüssen. Sylva ist eine von fünf Jugendlichen, deren Geschichten die tschechische Autorin Iva Procházková zu einem lebendigen Episodenroman verwoben hat.
Filip ist in Sylva verliebt, was ihm erst klar wird, als sie weggezogen ist. In Gedanken entwirft er Briefe an sie - Monologe eines Verkopften, der lange Zeit ausgerechnet deshalb nicht zu sich selbst findet, weil er sich nicht von sich abwenden kann. Niklas wiederum war früher eng mit Sylva befreundet und will davon überhaupt nichts mehr wissen. Auch seiner Leidenschaft, dem Filmen, hat er abgeschworen. Für Niklas existiert neben diversen Drogen nur noch seine Freundin Evita. Die hat sich ihrerseits von ihm abgesetzt und nimmt wahllos, was immer sie auftreiben kann. Evita sucht etwas, von dem sie nicht einmal weiß, was es ist. Robin steht in permanenter Auseinandersetzung mit seinem Vater, der einen ungeheuren moralischen Druck ausübt; selbst in seiner Abwesenheit kann sich der Junge nicht frei bewegen. In Berlin lernt Robin Sylva kennen - der Kreis schließt sich.
Literarische Short Cuts sind es, die Iva Procházková hier präsentiert. Szenen, in Berlin und Umgebung sowie in Tschechien angesiedelt, die sich nur marginal überlappen, immer aber aufeinander verweisen, was für die Lektüre von besonderem Reiz ist. Die Autorin begleitet ihre Figuren mit einer hochempfindlichen Kamera, um überall dort innezuhalten und aufzuzeichnen, wo etwas unter die Haut geht. Sei es die Sinnlichkeit, mit der Sylva die Natur wahrnimmt, die sengende Hitze, die über allem liegt, Niklas, der nervös Evitas Herzschlag unter ihren Rippen nachspürt, oder seien es die Gesichte von Evitas Trips - Sehnsuchtsträume, geschart um das Motiv der Unerreichbarkeit, die das Leben des Mädchens prägt.
Den Episoden vorangestellt sind reine Dialoge. Gelöst von der Handlung, leuchten diese Passagen die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte zusätzlich aus, da dort direkte, kommentarlose Auseinandersetzungen stattfinden. Ein dramaturgischer Glücksgriff.
Iva Procházková gehört seit etlichen Jahren zu den Fixsternen der Jugendliteratur. Sie erhielt unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis und wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert. Ihr feines Gespür für die Wehen und Befindlichkeiten der Adoleszenz, für den mentalen Tanz um das eigene Ich und ihre schriftstellerische Verve vereint sie zu Porträts, deren poetische Kraft auch in Miniaturen zu finden ist: "Ich habe das schönste Mädchen in Friedrichshain, vielleicht in ganz Berlin. Ich verdächtige sie, unsterblich zu sein." Zwei kurze Sätze, die Niklas' ganze Leidenschaft bergen.
Dabei gleitet Procházková nur ganz selten ins Plakative ab. Wenn etwa im Rückblick das kleine Mädchen Evita seiner Mutter von der Angst vor der Dunkelheit erzählt und die Mutter schlicht das Licht anschaltet, während Evita von dem Dunkel in ihr drin spricht. Oder wenn das Erzählen zu viel Distanz zu den Figuren verlangt und analytisch wird - dann entstehen unnötige, wenngleich vorübergehende Entzauberungen. Und die eine oder andere existentialistisch-philosophische Fragestellung droht den Roman zu überfrachten. Doch all das wiegt wenig.
Sylva, Filip, Niklas, Evita und Robin gehen verändert aus den Geschehnissen hervor, insofern wird hier ansatzweise die Tradition der Initiationserzählung aufgegriffen. Dennoch: Es sind runde Geschichten genauso wenig, wie sie rund erzählt wären. Auch deshalb ist dieser beeindruckende Versuch über die Pubertät gelungen.
Iva Procházková: "Die Nackten". Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2008. 264 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das schönste Mädchen von Friedrichshain: Iva Procházková schickt fünf Menschen in die Pubertät.
Von Simone Giesen
Der Titel ist so provokant wie irreführend: Denn "Die Nackten" meint allein die seelische Blöße, wie sie in der Pubertät besonders intensiv erlebt wird und die hier alle Blicke auf sich zieht, da sie in schillerndem literarischem Gewand flaniert. "In der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich", so erklärt es Sylvas Vater. Seiner hochbegabten Tochter kann das Erleben, können die Berührungen gar nicht intensiv genug sein. Statt sich in der Schule zu langweilen, schwimmt sie in Flüssen. Sylva ist eine von fünf Jugendlichen, deren Geschichten die tschechische Autorin Iva Procházková zu einem lebendigen Episodenroman verwoben hat.
Filip ist in Sylva verliebt, was ihm erst klar wird, als sie weggezogen ist. In Gedanken entwirft er Briefe an sie - Monologe eines Verkopften, der lange Zeit ausgerechnet deshalb nicht zu sich selbst findet, weil er sich nicht von sich abwenden kann. Niklas wiederum war früher eng mit Sylva befreundet und will davon überhaupt nichts mehr wissen. Auch seiner Leidenschaft, dem Filmen, hat er abgeschworen. Für Niklas existiert neben diversen Drogen nur noch seine Freundin Evita. Die hat sich ihrerseits von ihm abgesetzt und nimmt wahllos, was immer sie auftreiben kann. Evita sucht etwas, von dem sie nicht einmal weiß, was es ist. Robin steht in permanenter Auseinandersetzung mit seinem Vater, der einen ungeheuren moralischen Druck ausübt; selbst in seiner Abwesenheit kann sich der Junge nicht frei bewegen. In Berlin lernt Robin Sylva kennen - der Kreis schließt sich.
Literarische Short Cuts sind es, die Iva Procházková hier präsentiert. Szenen, in Berlin und Umgebung sowie in Tschechien angesiedelt, die sich nur marginal überlappen, immer aber aufeinander verweisen, was für die Lektüre von besonderem Reiz ist. Die Autorin begleitet ihre Figuren mit einer hochempfindlichen Kamera, um überall dort innezuhalten und aufzuzeichnen, wo etwas unter die Haut geht. Sei es die Sinnlichkeit, mit der Sylva die Natur wahrnimmt, die sengende Hitze, die über allem liegt, Niklas, der nervös Evitas Herzschlag unter ihren Rippen nachspürt, oder seien es die Gesichte von Evitas Trips - Sehnsuchtsträume, geschart um das Motiv der Unerreichbarkeit, die das Leben des Mädchens prägt.
Den Episoden vorangestellt sind reine Dialoge. Gelöst von der Handlung, leuchten diese Passagen die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte zusätzlich aus, da dort direkte, kommentarlose Auseinandersetzungen stattfinden. Ein dramaturgischer Glücksgriff.
Iva Procházková gehört seit etlichen Jahren zu den Fixsternen der Jugendliteratur. Sie erhielt unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis und wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert. Ihr feines Gespür für die Wehen und Befindlichkeiten der Adoleszenz, für den mentalen Tanz um das eigene Ich und ihre schriftstellerische Verve vereint sie zu Porträts, deren poetische Kraft auch in Miniaturen zu finden ist: "Ich habe das schönste Mädchen in Friedrichshain, vielleicht in ganz Berlin. Ich verdächtige sie, unsterblich zu sein." Zwei kurze Sätze, die Niklas' ganze Leidenschaft bergen.
Dabei gleitet Procházková nur ganz selten ins Plakative ab. Wenn etwa im Rückblick das kleine Mädchen Evita seiner Mutter von der Angst vor der Dunkelheit erzählt und die Mutter schlicht das Licht anschaltet, während Evita von dem Dunkel in ihr drin spricht. Oder wenn das Erzählen zu viel Distanz zu den Figuren verlangt und analytisch wird - dann entstehen unnötige, wenngleich vorübergehende Entzauberungen. Und die eine oder andere existentialistisch-philosophische Fragestellung droht den Roman zu überfrachten. Doch all das wiegt wenig.
Sylva, Filip, Niklas, Evita und Robin gehen verändert aus den Geschehnissen hervor, insofern wird hier ansatzweise die Tradition der Initiationserzählung aufgegriffen. Dennoch: Es sind runde Geschichten genauso wenig, wie sie rund erzählt wären. Auch deshalb ist dieser beeindruckende Versuch über die Pubertät gelungen.
Iva Procházková: "Die Nackten". Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2008. 264 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die SZ lässt das Buch von der 16-jährigen Schülerin Johanna Polley besprechen, die sich intensiv mit den – etwa gleichaltrigen – fünf Hauptfiguren des Buchs auseinandergesetzt hat. Die fünf Jugendlichen sind "so verschieden wie nur möglich", stellt sie fest, aber sie scheinen irgendwie um die Zentalfigur Sylva zu kreisen. Viele Themen werden laut Polley im Buch angesprochen, auch Drogen und Liebe, und Sylva scheint diese Themen besonders zu reflektieren. Einerseits bekennt die Rezensentin, dass Sylva ihr dabei ein wenig auf die Nerven geht, andererseits aber ertappt sie sich dabei, wie sie innerlich beginnt, mit Sylva zu diskutieren. Und das spricht ja wohl für das Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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