Produktdetails
  • Verlag: Patmos
  • ISBN-13: 9783794180813
  • ISBN-10: 379418081X
  • Artikelnr.: 23820574
Autorenporträt
Iva Procházková, geboren 1953 in Tschechien, kam 1986 für 10 Jahre nach Deutschland. Seit vielen Jahren schreibt sie für Kinder und Jugendliche, wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und 1997 für die Hans-Christian-Andersen- Medaille nominiert. Für "Wir treffen uns, wenn alle weg sind" erhielt sie den Friedrich-Gerstäcker-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008

Ist sie am Ende gar unsterblich?

Das schönste Mädchen von Friedrichshain: Iva Procházková schickt fünf Menschen in die Pubertät.

Von Simone Giesen

Der Titel ist so provokant wie irreführend: Denn "Die Nackten" meint allein die seelische Blöße, wie sie in der Pubertät besonders intensiv erlebt wird und die hier alle Blicke auf sich zieht, da sie in schillerndem literarischem Gewand flaniert. "In der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich", so erklärt es Sylvas Vater. Seiner hochbegabten Tochter kann das Erleben, können die Berührungen gar nicht intensiv genug sein. Statt sich in der Schule zu langweilen, schwimmt sie in Flüssen. Sylva ist eine von fünf Jugendlichen, deren Geschichten die tschechische Autorin Iva Procházková zu einem lebendigen Episodenroman verwoben hat.

Filip ist in Sylva verliebt, was ihm erst klar wird, als sie weggezogen ist. In Gedanken entwirft er Briefe an sie - Monologe eines Verkopften, der lange Zeit ausgerechnet deshalb nicht zu sich selbst findet, weil er sich nicht von sich abwenden kann. Niklas wiederum war früher eng mit Sylva befreundet und will davon überhaupt nichts mehr wissen. Auch seiner Leidenschaft, dem Filmen, hat er abgeschworen. Für Niklas existiert neben diversen Drogen nur noch seine Freundin Evita. Die hat sich ihrerseits von ihm abgesetzt und nimmt wahllos, was immer sie auftreiben kann. Evita sucht etwas, von dem sie nicht einmal weiß, was es ist. Robin steht in permanenter Auseinandersetzung mit seinem Vater, der einen ungeheuren moralischen Druck ausübt; selbst in seiner Abwesenheit kann sich der Junge nicht frei bewegen. In Berlin lernt Robin Sylva kennen - der Kreis schließt sich.

Literarische Short Cuts sind es, die Iva Procházková hier präsentiert. Szenen, in Berlin und Umgebung sowie in Tschechien angesiedelt, die sich nur marginal überlappen, immer aber aufeinander verweisen, was für die Lektüre von besonderem Reiz ist. Die Autorin begleitet ihre Figuren mit einer hochempfindlichen Kamera, um überall dort innezuhalten und aufzuzeichnen, wo etwas unter die Haut geht. Sei es die Sinnlichkeit, mit der Sylva die Natur wahrnimmt, die sengende Hitze, die über allem liegt, Niklas, der nervös Evitas Herzschlag unter ihren Rippen nachspürt, oder seien es die Gesichte von Evitas Trips - Sehnsuchtsträume, geschart um das Motiv der Unerreichbarkeit, die das Leben des Mädchens prägt.

Den Episoden vorangestellt sind reine Dialoge. Gelöst von der Handlung, leuchten diese Passagen die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte zusätzlich aus, da dort direkte, kommentarlose Auseinandersetzungen stattfinden. Ein dramaturgischer Glücksgriff.

Iva Procházková gehört seit etlichen Jahren zu den Fixsternen der Jugendliteratur. Sie erhielt unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis und wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert. Ihr feines Gespür für die Wehen und Befindlichkeiten der Adoleszenz, für den mentalen Tanz um das eigene Ich und ihre schriftstellerische Verve vereint sie zu Porträts, deren poetische Kraft auch in Miniaturen zu finden ist: "Ich habe das schönste Mädchen in Friedrichshain, vielleicht in ganz Berlin. Ich verdächtige sie, unsterblich zu sein." Zwei kurze Sätze, die Niklas' ganze Leidenschaft bergen.

Dabei gleitet Procházková nur ganz selten ins Plakative ab. Wenn etwa im Rückblick das kleine Mädchen Evita seiner Mutter von der Angst vor der Dunkelheit erzählt und die Mutter schlicht das Licht anschaltet, während Evita von dem Dunkel in ihr drin spricht. Oder wenn das Erzählen zu viel Distanz zu den Figuren verlangt und analytisch wird - dann entstehen unnötige, wenngleich vorübergehende Entzauberungen. Und die eine oder andere existentialistisch-philosophische Fragestellung droht den Roman zu überfrachten. Doch all das wiegt wenig.

Sylva, Filip, Niklas, Evita und Robin gehen verändert aus den Geschehnissen hervor, insofern wird hier ansatzweise die Tradition der Initiationserzählung aufgegriffen. Dennoch: Es sind runde Geschichten genauso wenig, wie sie rund erzählt wären. Auch deshalb ist dieser beeindruckende Versuch über die Pubertät gelungen.

Iva Procházková: "Die Nackten". Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2008. 264 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 14 J.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2009

Der literarische Marktplatz
Iva Procházkovás Roman über Jugendliche in Berlin
Iva Procházková erzählt in ihrem Buch Die Nackten von fünf Leben in Berlin. Die Jugendlichen dahinter sind so verschieden wie nur möglich. Doch sie alle sind nicht das, was man als „normal” bezeichnen könnte, wenn es denn eine Definition für dieses umstrittene Wort gibt. Robin ist ein pessimistischer, jedoch liebenswürdiger Typ, dessen momentan einziges Lebensziel ist, Anerkennung von seinem Vater zu bekommen. Dieser schroffe, unzufriedene Herr jedoch hat mit sich selbst, seiner kranken Frau und seiner dauerhaften Angst um sie, einen so großen inneren Konflikt, dass er für all seine Gedanken ein Ventil braucht. Und dieses Ventil ist sein Sohn, der sehr darunter leidet, Robin hat eine besondere Eigenschaft, einen ausgeprägten Geruchssinn, er liebt den Geruch von Schweiß. Dann gibt es da noch Sylva, sie ist ein sehr naturverbundener Mensch und pendelt zwischen Mutter und Vater hin und her, da die Eltern getrennt leben. Sie ist hochbegabt und meint deswegen, nicht zur Schule gehen zu müssen. Ihr Vater billigt das und schreibt ihr Entschuldigungen für ihre Fehltage. Ihr größtes Hobby ist Schwimmen und sie tut es in jedem nur erdenklichen Fluss wie zum Beispiel in der Spree. Mich hat zwar schon der Gedanke daran geekelt, da die Spree nicht einer der saubersten Flüsse ist, doch Sylva kann dabei am besten alles um sich herum vergessen. Sie denkt viel über ihr Leben nach und versucht, ihre teils philosophischen Gedanken zu ordnen. Es tauchen noch zwei Figuren namens Evita und Niklas auf. Evita ist zum Sklaven der Drogen geworden, und Niklas ist auf dem besten Wege dorthin, denn er vergöttert sie. Gescheitert und mit einer Vergangenheit belastet, in der zuerst der Vater verschwand und dann die Mutter starb, riss Evita von einem kleinen Kaff nach Berlin aus, wo ihre Drogenkarriere und ihre merkwürdige Beziehung zu Niklas, in der sie dominiert, begann. Niklas ist ein Kindergartenfreund von Sylva, doch sie haben den Kontakt verloren, was sie schade findet und was ihn nicht stört. Jeder Charakter hat in irgendeiner Weise Verbindung zu Sylva, sie ist also der Knotenpunkt, die eigentliche Hauptperson der Geschichten. Und last but not least gibt es auch noch Filip. Er ist ein (Verzeihung!) Freak und hat zwar hochintelligente Gedanken, jedoch auch eine sehr unbeholfene Art, sich ohne Fremdwörter oder philosophische Theorien auszudrücken. Er wohnt im Nachbarhaus von Sylvas Vater, dieser ist jedoch umgezogen. Filip vermisste Sylva sehr, bis er seine Freundin auf einer Demonstration kennenlernte.
Im Großen und Ganzen haben mir alle Charaktere aus Die Nackten gefallen, und es gab beim Lesen meistens eine Eigenschaft pro Charakter, mit der ich mich identifizieren konnte, aber das kam bestimmt auch daher, dass mit fünf vollkommen unterschiedlichen Menschen natürlich auch ein weites Spektrum an Angewohnheiten, Hobbys und Gedanken abgedeckt ist. Nur eine Person hat mich überhaupt nicht angesprochen, beinahe gelangweilt: die Hauptperson Sylva. Ihre Gedanken und Meinungen zu den vielen Themen, die in dem Jugendbuch angesprochen werden (Liebe, Drogen, Geld, Umwelt, Schule etc.) konnte ich nicht teilen und ertappte mich sogar einmal dabei, wie ich anfing, während des Lesens mit ihr über Schulpflicht zu diskutieren. Gut gefallen dagegen haben mir Evita und Robin. Evita, weil ihr rar beschriebenes Inneres mich so interessiert hat, und Robin, weil ich eine ähnliche Denkweise habe wie er.
Das Buch geht für alle Beteiligten offen aus, was mich teilweise nicht zufriedengestellt hat, wahrscheinlich jedoch einen Grund hat. Man soll sich mit den Personen aus dem Buch auseinandersetzen, sie verstehen lernen und sich vielleicht ein passendes Ende für ihre Geschichten ausdenken, und genau das hat es bei mir bewirkt. JOHANNA POLLEY (16 Jahre)
IVA PROCHÁZKOVÁ: Die Nackten. Sauerländer 2008. 263 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die SZ lässt das Buch von der 16-jährigen Schülerin Johanna Polley besprechen, die sich intensiv mit den – etwa gleichaltrigen – fünf Hauptfiguren des Buchs auseinandergesetzt hat. Die fünf Jugendlichen sind "so verschieden wie nur möglich", stellt sie fest, aber sie scheinen irgendwie um die Zentalfigur Sylva zu kreisen. Viele Themen werden laut Polley im Buch angesprochen, auch Drogen und Liebe, und Sylva scheint diese Themen besonders zu reflektieren. Einerseits bekennt die Rezensentin, dass Sylva ihr dabei ein wenig auf die Nerven geht, andererseits aber ertappt sie sich dabei, wie sie innerlich beginnt, mit Sylva zu diskutieren. Und das spricht ja wohl für das Buch.

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