Kann eine alles erschütternde Katastrophe die Menschen einen? Der neue große Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk
Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Orhan Pamuks neues Buch ist einzigartiger Abgesang auf das von Nationalismus und Aberglaube gefährdete Osmanische Reich sowie ein großer historischer Roman, in dem sich Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West raffiniert verbinden.
Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Orhan Pamuks neues Buch ist einzigartiger Abgesang auf das von Nationalismus und Aberglaube gefährdete Osmanische Reich sowie ein großer historischer Roman, in dem sich Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West raffiniert verbinden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Roman Bucheli findet Orhan Pamuks neuen Roman gähnend lang und langweilig. Das liegt laut Bucheli auch daran, dass die Realität das Romangeschehen längst eingeholt hat, in dem der Autor den Einbruch der Pest und von allerlei Verschwörungstheorien auf einer Insel im osmanischen Reich um 1900 erzählt. Dass der Autor vor dem Hintergrund der Pest die "Bruchlinien des zerfallenden Vielvölkerstaats" sichtbar macht, gehört für Bucheli zu den spannenden Seiten des Textes. Im übrigen aber kennt er die pandemisch bedingten Konflikte im Buch bis zum Abwinken. Und Pamuk unternimmt nicht viel, um dem noch etwas hinzuzufügen, bedauert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2022Die alte Ordnung
Orhan Pamuks neuer Roman „Die Nächte der Pest“ ist eine bittersüße Parabel
auf den autoritären Niedergang der Türkei. Dort läuft bereits ein Verfahren gegen das Buch
VON CHRISTIANE SCHLÖTZER
Eine Insel in der Ägäis von „beängstigender“ Schönheit, die Häuser aus weißem Stein, die Felsen grün überwachsen. Die Menschen dort handeln mit Rosenwasser, mit Düften, Salben und Pasten. Ein Paradies? Lange schon wollte Orhan Pamuk einen Pest-Roman schreiben, 2016 fing er damit an, und als zu Beginn des Jahres 2020 die Welt in die Corona-Pandemie stürzte, war der türkische Literaturnobelpreisträger davon überrascht und überwältigt.
Pamuk lehrte an der Columbia University in New York Literatur, in Panik kehrte er in seine Heimatstadt Istanbul zurück und sprach in Interviews von seiner Angst vor der Seuche und dem Tod. „Die Nächte der Pest“ lassen Orhan Pamuks Dämonen ahnen. Aber die Seuche legt ja nicht nur menschliche Abgründe frei, sie vernichtet auch Gewissheiten, mit geradezu revolutionärer Kraft. So trifft es auch die schöne Insel. Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch. Pamuk macht es aber diesmal all jenen schwer, die in ihm einen Nestbeschmutzer sehen wollen, wegen seiner bekannten Kritik an den herrschenden Zuständen, zuletzt an der Umwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee. Er hat sich nun die Freiheit genommen, ein gänzlich neues Land zu erfinden, das allerdings seinem eigenen mit seiner historischen Last auffällig ähnlich scheint.
Die schöne Insel, die alle Ankommenden bei ihrem Anblick bezaubert, trägt den Namen Minger. Es gibt hier üppiges Grün, putzig rote Dächer, einen mächtigen weißen Burgfelsen, Pferdekutschen zuckeln übers Pflaster. Pamuk, für seine Detailverliebtheit bekannt, entwirft sein Eiland Stadtviertel für Stadtviertel, Straße für Straße, so dass man versucht ist, auf einer Karte zu suchen, ob es dieses zwischen Kreta und Rhodos verortete Minger nicht doch gibt. Die von Pamuk erträumte Welt ist ein osmanischer Mikrokosmos, die christliche und die muslimische Bevölkerung halten sich in etwa die Waage. Diese alte Ordnung gerät durch die Seuche höllisch durcheinander, es gibt eine Revolution und es wird mehrfach geputscht. Den historischen Hintergrund bildet der große Pestausbruch Ende des 19. Jahrhunderts, der bis ins 20. Jahrhundert vor allem in Asien Millionen Todesopfer forderte und auch Australien erreichte. Nur Europa kam damals glimpflich davon, wobei Glück und neue Ideen in der Seuchenbekämpfung halfen.
Es treten auf: muslimische Scheichs und orthodoxe Priester, reiche Bürger und arme Schlucker, meist muslimisch, von westlichen Quarantänevorstellungen angetriebene Ärzte, korrupte, liebestolle Politiker, Spitzel und Spione, eine osmanische Prinzessin und ein von sich selbst beseelter nationalistischer Revolutionär, der die Insel in die Unabhängigkeit führt, dann aber früh von der Seuche dahingerafft wird. Das tut seinem Nachleben im neuen Staate Minger keinen Abbruch. Jener Staatsgründer heißt Kommandant Kâmil, er hat zumindest Anfangs- und Endbuchstaben seines Namens mit Kemal Atatürk gemein. Historisches und Fiktives wechseln sich in dieser epischen Erzählung übergangslos ab, so dass einem beim Lesen die Ebenen schon mal durcheinandergeraten können.
Pamuk interessiert die Frage, ob der dem Islam zugeschriebene Fatalismus es schwerer macht, Quarantäneregeln zu akzeptieren, wofür er historische Belege sieht. So wurden in den Moscheen von Konstantinopel in osmanischen Zeiten immer noch Begräbnisfeiern abgehalten, während in den Straßen die Pest wütete. In der aktuellen Pandemie entschied sich die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan für den säkularen Eingriff und verbot solche Feiern. Das Fernsehen zeigte, wie Corona-Tote von Männern in weißen Schutzanzügen beerdigt werden. Die Ausgangssperren in Istanbul waren lange besonders streng. In Pamuks Roman nun begegnet einem vieles, was historisch belegt ist, und das ähnelt verblüffend den Meldungen aus den Abendnachrichten der Gegenwart: das Leugnen der Krankheit, das Ringen um Freiheit und Beschränkung, Wissenschaft, Vernunft und Verschwörungstheorien, die Suche nach Schuldigen: Bakterien oder Schicksal? Pamuks Figuren leben in den Widersprüchen zwischen Weltlichem und Gottvertrauen.
Als wichtige Inspirationsquellen nennt der Autor Daniel Defoes 1722 erschienenen fiktiven Dokumentarbericht „Die Pest zu London“ und Alessandro Manzonis „Die Brautleute“ von 1827, eine italienische Pest-Erzählung, die auf einer angeblichen, jedoch erfundenen historischen Handschrift beruht. Bei Pamuk sind es Briefe und Postkarten der fiktiven osmanischen Prinzessin Pakize, die als Berichterstatterin aus Minger an ihre Schwester schreibt, während die Insel im Jahr 1901 wegen der Seuche von der Außenwelt abgeschnitten ist. Dabei fragt man sich gelegentlich, wie die Post dann Istanbul erreichte? Aber um solche Finessen muss man sich nicht scheren, denn Pamuks diesmal weibliche Erzählerin – er hatte zuletzt versprochen, in seinen Büchern feministischer zu werden - entschuldigt sich gleich zu Beginn, dass sie gar keine Schriftstellerin sei, und dazu aus Minger, also kaum objektiv, und dass es ihr bestimmt schwerfallen werde, sich in Männer an der Macht hineinzuversetzen. Diese Vorrede setzt den ironisch-melancholischen Ton des Romans, der sich anspielungsreich und mit Lust an der Parodie dem unausweichlichen Drama widmet, was auch eine Form der Dämonenbekämpfung ist. Die Geschichte ist verwickelt, und ein paar Längen gibt es auch, aber schon Albert Camus wusste, dass große Unglücke durch ihre Dauer eintönig sind. Bei Camus ist „Die Pest“ zugleich Chiffre für das Grauen des Nationalsozialismus. Auch Pamuk nimmt sich viel Zeit, um sich an einem Despoten abzuarbeiten, an Sultan Abdülhamit II., der in Reformen des Reichs einwilligt und die neue Verfassung rasch wieder kassiert. Der Alleinherrscher verfolgt seine Gegner mit Härte und nutzt den Islam als Machtmittel. Osmanisch nostalgisch wird es bei Pamuk nie.
Wie schon in „Schnee“, seinem Roman aus dem Jahr 2002, ist der Schauplatz von der Außenwelt abgeschnitten. Schiffe der Großmächte und des Sultans formen sechs Monate lang eine Blockade um das unter Quarantäne gestellte Minger, damit die von Alexandria eingeschleppte Pest sich nicht nach Europa verbreite. Die Blockade schützt aber auch die neuen Machthaber auf der Insel, die während der Seuche ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt. Dieser aus der Katastrophe geborene neue Staat wirkt dann in vielem wie eine Miniatur der Republik Türkei. Pamuk hat einige der Parallelen geradezu grob geschnitzt, als müsse er auch damit ein paar Dämonen loswerden. Und doch, wer Böses denkt, verwechselt Fiktion und Fakten.
Das letzte Kapitel ist der Schlüssel, das Sesam-öffne-Dich für das Minger-Märchen: Da schildert die Erzählerin, wie es zugeht im unabhängigen Staate Minger. Da müssen Schulkinder aus den letzten 129 Worten des früh verstorbenen Kommandanten Kâmil, die ein Sekretär festgehalten hat, auf Mingerisch Sätze bilden. Oppositionelle werden mit Gefängnisstrafen eingeschüchtert, missliebige Journalisten fürchten um ihr Leben. „Minger den Mingerern!“, ist Staatsräson.
Natürlich kennt jeder türkische Leser die Parole „Die Türkei den Türken“. So skandierten 1955 die Schläger, die in Istanbuls Prachtstraße Istiklal die Schaufensterscheiben der griechischen Geschäfte zerschlugen. Die Bilder dieser Zerstörung hat gerade erst wieder eine großartige türkische Netflix-Serie in Erinnerung gerufen, „Der Club“ heißt sie. In Minger werden ebenfalls Griechen drangsaliert und vertrieben, aber auch Muslime, die dem Sultan die Treue halten, alles im Namen des Nationalismus, der Mingerisierung.
Eine Klage wegen „Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne“ hat es 2021 gegen die türkische Ausgabe des Romans bereits gegeben, trotz aller spielerischen Verfremdung. Sie ist in erster Instanz gescheitert, was leider nichts darüber aussagt, wie die höheren Instanzen entscheiden werden. Er habe nichts geschrieben, was man als Respektlosigkeit gegenüber Atatürk, dem „heroischen Gründer“ der Nation, auslegen könne, ließ Pamuk seine Kritiker wissen, dieses Mal ohne jede Ironie.
Die deutsche Ausgabe hat wieder Gerhard Meier glänzend übersetzt. Nichts geht verloren von dieser beißenden Satire. Die Türkei wird 2023 einhundert Jahre alt. Da wird man viele Beschwörungen des Staatsgründers hören, auch von den jetzigen Mächtigen. Aber Pamuks politische Parodie zielt ja nicht auf Atatürk, der nach einer Abfolge von Kriegen aus der Asche des Osmanischen Reichs einen neuen Staat schuf. Gemeint sind schon eher die Erben, die aus dem Kemalismus einst eine Ersatzreligion machten, und jeder krude Nationalismus. Und das muss nicht der Türkische sein. Aber all das sagt uns nicht Orhan Pamuk, der weltweit meist verkaufte türkische Autor, sondern die Erzählerin, die sich zu guter Letzt endlich vorstellt. Als Urenkelin jener Prinzessin Pakize, die vom Sultan und Sherlock-Holmes-Fan Abdülhamit nach langer Palastgefangenschaft auf die mythische Insel Minger geschickt wird. Sie soll dort mit ihrem Mann Nuri, einem modernen Mediziner, einen Mord „an der Wissenschaft“ aufklären. Das Opfer ist ein vom Sultan zur Pestbekämpfung ausgesandter Pharmakologe.
Diese Kriminalgeschichte ist aber dann nicht so wichtig, weil die Pest alles andere verdrängt. Mina Mingerli, so nennt Pamuk sein weibliches Alter Ego, bekennt schließlich ihre Liebe zu der Insel so herzzerreißend, dass man ahnt, ihrem Erfinder geht es mit seinem fehlerbehafteten Land nicht anders. So drängt es Mina am Ende zu dem Dreisatz: „Es lebe Minger! Es leben die Mingerer! Es lebe die Freiheit!“ Das letzte Ausrufzeichen ist wichtig.
Es treten auf: muslimische
Scheichs, orthodoxe Priester,
reiche Bürger, arme Schlucker
Irgendwann stellt sich die
Erzählerin vor. Als Urenkelin
der Prinzessin Pakize
Orhan Pamuk:
Die Nächte der Pest.
Aus dem Türkischen
von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag,
München 2022.
695 Seiten, 30 Euro.
Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat in seinem neuen Roman einen
osmanischen Mikrokosmos
entworfen, halb christlich,
halb muslimisch: Peters Pieter Francis' Gemälde
„Blick über Konstantinopel“.
Foto: mauritius images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Orhan Pamuks neuer Roman „Die Nächte der Pest“ ist eine bittersüße Parabel
auf den autoritären Niedergang der Türkei. Dort läuft bereits ein Verfahren gegen das Buch
VON CHRISTIANE SCHLÖTZER
Eine Insel in der Ägäis von „beängstigender“ Schönheit, die Häuser aus weißem Stein, die Felsen grün überwachsen. Die Menschen dort handeln mit Rosenwasser, mit Düften, Salben und Pasten. Ein Paradies? Lange schon wollte Orhan Pamuk einen Pest-Roman schreiben, 2016 fing er damit an, und als zu Beginn des Jahres 2020 die Welt in die Corona-Pandemie stürzte, war der türkische Literaturnobelpreisträger davon überrascht und überwältigt.
Pamuk lehrte an der Columbia University in New York Literatur, in Panik kehrte er in seine Heimatstadt Istanbul zurück und sprach in Interviews von seiner Angst vor der Seuche und dem Tod. „Die Nächte der Pest“ lassen Orhan Pamuks Dämonen ahnen. Aber die Seuche legt ja nicht nur menschliche Abgründe frei, sie vernichtet auch Gewissheiten, mit geradezu revolutionärer Kraft. So trifft es auch die schöne Insel. Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch. Pamuk macht es aber diesmal all jenen schwer, die in ihm einen Nestbeschmutzer sehen wollen, wegen seiner bekannten Kritik an den herrschenden Zuständen, zuletzt an der Umwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee. Er hat sich nun die Freiheit genommen, ein gänzlich neues Land zu erfinden, das allerdings seinem eigenen mit seiner historischen Last auffällig ähnlich scheint.
Die schöne Insel, die alle Ankommenden bei ihrem Anblick bezaubert, trägt den Namen Minger. Es gibt hier üppiges Grün, putzig rote Dächer, einen mächtigen weißen Burgfelsen, Pferdekutschen zuckeln übers Pflaster. Pamuk, für seine Detailverliebtheit bekannt, entwirft sein Eiland Stadtviertel für Stadtviertel, Straße für Straße, so dass man versucht ist, auf einer Karte zu suchen, ob es dieses zwischen Kreta und Rhodos verortete Minger nicht doch gibt. Die von Pamuk erträumte Welt ist ein osmanischer Mikrokosmos, die christliche und die muslimische Bevölkerung halten sich in etwa die Waage. Diese alte Ordnung gerät durch die Seuche höllisch durcheinander, es gibt eine Revolution und es wird mehrfach geputscht. Den historischen Hintergrund bildet der große Pestausbruch Ende des 19. Jahrhunderts, der bis ins 20. Jahrhundert vor allem in Asien Millionen Todesopfer forderte und auch Australien erreichte. Nur Europa kam damals glimpflich davon, wobei Glück und neue Ideen in der Seuchenbekämpfung halfen.
Es treten auf: muslimische Scheichs und orthodoxe Priester, reiche Bürger und arme Schlucker, meist muslimisch, von westlichen Quarantänevorstellungen angetriebene Ärzte, korrupte, liebestolle Politiker, Spitzel und Spione, eine osmanische Prinzessin und ein von sich selbst beseelter nationalistischer Revolutionär, der die Insel in die Unabhängigkeit führt, dann aber früh von der Seuche dahingerafft wird. Das tut seinem Nachleben im neuen Staate Minger keinen Abbruch. Jener Staatsgründer heißt Kommandant Kâmil, er hat zumindest Anfangs- und Endbuchstaben seines Namens mit Kemal Atatürk gemein. Historisches und Fiktives wechseln sich in dieser epischen Erzählung übergangslos ab, so dass einem beim Lesen die Ebenen schon mal durcheinandergeraten können.
Pamuk interessiert die Frage, ob der dem Islam zugeschriebene Fatalismus es schwerer macht, Quarantäneregeln zu akzeptieren, wofür er historische Belege sieht. So wurden in den Moscheen von Konstantinopel in osmanischen Zeiten immer noch Begräbnisfeiern abgehalten, während in den Straßen die Pest wütete. In der aktuellen Pandemie entschied sich die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan für den säkularen Eingriff und verbot solche Feiern. Das Fernsehen zeigte, wie Corona-Tote von Männern in weißen Schutzanzügen beerdigt werden. Die Ausgangssperren in Istanbul waren lange besonders streng. In Pamuks Roman nun begegnet einem vieles, was historisch belegt ist, und das ähnelt verblüffend den Meldungen aus den Abendnachrichten der Gegenwart: das Leugnen der Krankheit, das Ringen um Freiheit und Beschränkung, Wissenschaft, Vernunft und Verschwörungstheorien, die Suche nach Schuldigen: Bakterien oder Schicksal? Pamuks Figuren leben in den Widersprüchen zwischen Weltlichem und Gottvertrauen.
Als wichtige Inspirationsquellen nennt der Autor Daniel Defoes 1722 erschienenen fiktiven Dokumentarbericht „Die Pest zu London“ und Alessandro Manzonis „Die Brautleute“ von 1827, eine italienische Pest-Erzählung, die auf einer angeblichen, jedoch erfundenen historischen Handschrift beruht. Bei Pamuk sind es Briefe und Postkarten der fiktiven osmanischen Prinzessin Pakize, die als Berichterstatterin aus Minger an ihre Schwester schreibt, während die Insel im Jahr 1901 wegen der Seuche von der Außenwelt abgeschnitten ist. Dabei fragt man sich gelegentlich, wie die Post dann Istanbul erreichte? Aber um solche Finessen muss man sich nicht scheren, denn Pamuks diesmal weibliche Erzählerin – er hatte zuletzt versprochen, in seinen Büchern feministischer zu werden - entschuldigt sich gleich zu Beginn, dass sie gar keine Schriftstellerin sei, und dazu aus Minger, also kaum objektiv, und dass es ihr bestimmt schwerfallen werde, sich in Männer an der Macht hineinzuversetzen. Diese Vorrede setzt den ironisch-melancholischen Ton des Romans, der sich anspielungsreich und mit Lust an der Parodie dem unausweichlichen Drama widmet, was auch eine Form der Dämonenbekämpfung ist. Die Geschichte ist verwickelt, und ein paar Längen gibt es auch, aber schon Albert Camus wusste, dass große Unglücke durch ihre Dauer eintönig sind. Bei Camus ist „Die Pest“ zugleich Chiffre für das Grauen des Nationalsozialismus. Auch Pamuk nimmt sich viel Zeit, um sich an einem Despoten abzuarbeiten, an Sultan Abdülhamit II., der in Reformen des Reichs einwilligt und die neue Verfassung rasch wieder kassiert. Der Alleinherrscher verfolgt seine Gegner mit Härte und nutzt den Islam als Machtmittel. Osmanisch nostalgisch wird es bei Pamuk nie.
Wie schon in „Schnee“, seinem Roman aus dem Jahr 2002, ist der Schauplatz von der Außenwelt abgeschnitten. Schiffe der Großmächte und des Sultans formen sechs Monate lang eine Blockade um das unter Quarantäne gestellte Minger, damit die von Alexandria eingeschleppte Pest sich nicht nach Europa verbreite. Die Blockade schützt aber auch die neuen Machthaber auf der Insel, die während der Seuche ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt. Dieser aus der Katastrophe geborene neue Staat wirkt dann in vielem wie eine Miniatur der Republik Türkei. Pamuk hat einige der Parallelen geradezu grob geschnitzt, als müsse er auch damit ein paar Dämonen loswerden. Und doch, wer Böses denkt, verwechselt Fiktion und Fakten.
Das letzte Kapitel ist der Schlüssel, das Sesam-öffne-Dich für das Minger-Märchen: Da schildert die Erzählerin, wie es zugeht im unabhängigen Staate Minger. Da müssen Schulkinder aus den letzten 129 Worten des früh verstorbenen Kommandanten Kâmil, die ein Sekretär festgehalten hat, auf Mingerisch Sätze bilden. Oppositionelle werden mit Gefängnisstrafen eingeschüchtert, missliebige Journalisten fürchten um ihr Leben. „Minger den Mingerern!“, ist Staatsräson.
Natürlich kennt jeder türkische Leser die Parole „Die Türkei den Türken“. So skandierten 1955 die Schläger, die in Istanbuls Prachtstraße Istiklal die Schaufensterscheiben der griechischen Geschäfte zerschlugen. Die Bilder dieser Zerstörung hat gerade erst wieder eine großartige türkische Netflix-Serie in Erinnerung gerufen, „Der Club“ heißt sie. In Minger werden ebenfalls Griechen drangsaliert und vertrieben, aber auch Muslime, die dem Sultan die Treue halten, alles im Namen des Nationalismus, der Mingerisierung.
Eine Klage wegen „Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne“ hat es 2021 gegen die türkische Ausgabe des Romans bereits gegeben, trotz aller spielerischen Verfremdung. Sie ist in erster Instanz gescheitert, was leider nichts darüber aussagt, wie die höheren Instanzen entscheiden werden. Er habe nichts geschrieben, was man als Respektlosigkeit gegenüber Atatürk, dem „heroischen Gründer“ der Nation, auslegen könne, ließ Pamuk seine Kritiker wissen, dieses Mal ohne jede Ironie.
Die deutsche Ausgabe hat wieder Gerhard Meier glänzend übersetzt. Nichts geht verloren von dieser beißenden Satire. Die Türkei wird 2023 einhundert Jahre alt. Da wird man viele Beschwörungen des Staatsgründers hören, auch von den jetzigen Mächtigen. Aber Pamuks politische Parodie zielt ja nicht auf Atatürk, der nach einer Abfolge von Kriegen aus der Asche des Osmanischen Reichs einen neuen Staat schuf. Gemeint sind schon eher die Erben, die aus dem Kemalismus einst eine Ersatzreligion machten, und jeder krude Nationalismus. Und das muss nicht der Türkische sein. Aber all das sagt uns nicht Orhan Pamuk, der weltweit meist verkaufte türkische Autor, sondern die Erzählerin, die sich zu guter Letzt endlich vorstellt. Als Urenkelin jener Prinzessin Pakize, die vom Sultan und Sherlock-Holmes-Fan Abdülhamit nach langer Palastgefangenschaft auf die mythische Insel Minger geschickt wird. Sie soll dort mit ihrem Mann Nuri, einem modernen Mediziner, einen Mord „an der Wissenschaft“ aufklären. Das Opfer ist ein vom Sultan zur Pestbekämpfung ausgesandter Pharmakologe.
Diese Kriminalgeschichte ist aber dann nicht so wichtig, weil die Pest alles andere verdrängt. Mina Mingerli, so nennt Pamuk sein weibliches Alter Ego, bekennt schließlich ihre Liebe zu der Insel so herzzerreißend, dass man ahnt, ihrem Erfinder geht es mit seinem fehlerbehafteten Land nicht anders. So drängt es Mina am Ende zu dem Dreisatz: „Es lebe Minger! Es leben die Mingerer! Es lebe die Freiheit!“ Das letzte Ausrufzeichen ist wichtig.
Es treten auf: muslimische
Scheichs, orthodoxe Priester,
reiche Bürger, arme Schlucker
Irgendwann stellt sich die
Erzählerin vor. Als Urenkelin
der Prinzessin Pakize
Orhan Pamuk:
Die Nächte der Pest.
Aus dem Türkischen
von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag,
München 2022.
695 Seiten, 30 Euro.
Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat in seinem neuen Roman einen
osmanischen Mikrokosmos
entworfen, halb christlich,
halb muslimisch: Peters Pieter Francis' Gemälde
„Blick über Konstantinopel“.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2022Die Insel, die den Rest der Welt aussperrte
"Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung: Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss.
Orhan Pamuk, der türkische Nobelpreisträger, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, besitzt eine alte Taschenuhr mit zwei Zifferblättern: Das eine ist europäisch, das andere osmanisch beschriftet. Unmöglich zu sagen, welches die Vorder- und welches die Rückseite wäre. Sie sind gleich und doch verschieden. "Diese Uhr", hat Pamuk einmal gesagt und dabei Flaubert variiert, "das bin ich."
Jetzt taucht die Uhr mit dem westöstlichen Antlitz in der Hand von Sami Pascha auf, einer der Hauptfiguren in Pamuks neuem Roman "Die Nächte der Pest". Wenn der Gouverneur der fiktiven Mittelmeerinsel Minger Kummer hatte, griff er gern zu der Taschenuhr mit dem türkischen und dem europäischen Zifferblatt und "spürte dann gleichsam in seiner Hand, wie die Welt erträglicher wurde. Nun aber hatte er nicht einmal dazu die Kraft." Denn in seinem kleinen Reich ist eine Epidemie ausgebrochen: Minger, die Insel, auf der Christen und Muslime in relativer Eintracht zusammenleben, wo die Rosen duften und der Marmor leuchtet, ist ein kleines Paradies, in dem sich im Jahr 1901 plötzlich die Hölle auftut.
Die Pest rafft die Menschen dahin, stürzt die einen in dumpfen Fatalismus und die anderen in wilde Verzweiflung, bringt Sektierer, Separatisten und falsche Propheten hervor und lässt Nationalismen und Kriminalität aufblühen. Jeder kämpft nun gegen jeden: Griechen gegen Türken, Gläubige gegen weltlich Gesinnte, die Scheichs, die den Orden und Klöstern vorstehen, gegen die weltliche Macht, die sich schon bald als weitgehend machtlos erweist. Quarantänevorschriften werden missachtet, Häuser geplündert, Leichen verscharrt. Vor der Küste sorgen Kriegsschiffe der europäischen Großmächte dafür, dass niemand die Insel verlässt, während im fernen, doch auf unheimliche Weise zugleich allgegenwärtigen Istanbul Sultan Abdülhamit skrupellos seine undurchsichtigen Spiele treibt.
Auf siebenhundert Seiten entwirft Pamuk detailversessen, mitunter ein wenig langatmig, aber immer mühelos, das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Denn die Menschen wehren sich gegen die Maßnahmen, die zu ihrem Schutz angeordnet werden, weil sie nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen, dass die Pest ihr gesamtes Dasein verändert. Vor allem die Quarantäneverordnungen stoßen bei vielen Muslimen auf Widerstand, weil sie an Grundlegendes rühren: "Wer die Quarantäne akzeptiert, nimmt damit ein Stück Verwestlichung in Kauf, und je weiter man in den Orient gelangt, desto schwerer fällt den Menschen das", sagt gleich zu Beginn des Romans der Epidemiologe Bonkowski Pascha, der vom Sultan nach Minger geschickt wird, um die Seuche einzudämmen und vor allem dafür zu sorgen, dass sie nicht auf das Festland und ganz Europa übergreift.
Doch kaum auf Minger angekommen, wird Bonkowski Pascha auf mysteriöse Weise umgebracht. Damit wird Pamuks historischer Roman, der drei Liebesgeschichten erzählt und zugleich eine Parabel auf die moderne Türkei ist, um die Elemente des Kriminalromans erweitert, mit denen der Autor genüsslich zu spielen weiß. Sherlock Holmes wird immer wieder als Repräsentant deduzierender westlicher Rationalität ins Spiel gebracht und zugleich ad absurdum geführt. Denn der historische Sultan Abdülhamit, der Menschen foltern und ermorden ließ und seinen Bruder und dessen Familie jahrzehntelang gefangen hielt, ist bei Pamuk ein ebenso leidenschaftlicher wie dialektischer Leser von Kriminalromanen: Seiner Lektüre entnimmt der paranoide Herrscher nicht nur, wie man sich vor diversen Mordmethoden schützt, sondern auch, wie man sie am besten anwendet.
Aber nicht nur in Istanbul fürchten die Mächtigen um ihr Leben, auch auf Minger werden Attentate verübt, und es wird munter geputscht. Das immer schon labile Wechselspiel zwischen osmanischen und westlichen Werten und Traditionen funktioniert unter dem Druck der Seuche nicht mehr, die staatlichen Institutionen verlieren in Windeseile ihre Autorität, und Stabilität verspricht in dieser Krise einzig eine dritte, ganz neue Kraft: ein mythisch aufgeladener mingerischer Nationalismus, der alle Gegensätze übertüncht und die Inselgesellschaft zusammenschweißt. Und während der osmanische Vielvölkerstaat, der "kranke Mann am Bosporus", an Bindekraft verliert und seinem Ende entgegentorkelt, erklärt Minger, das Inselchen im Mittelmeer, seine Unabhängigkeit: Ein großes Reich geht unter, ein Zwergimperium erwacht. "Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung - mit der Pest als Geburtshelfer.
Mingers Staatengründer ist ein von der Insel stammender osmanischer Offizier namens Kamil, der in einer Mischung aus naivem Idealismus und Sendungsbewusstsein die Republik ausruft und sich sofort eifrig daranmacht, seiner Heimat zu verschaffen, was sie nie besessen hat: eine mythische Vergangenheit, Nationalbewusstsein, eine eigene Identität. Dass zwischen Kamil, der alsbald wie ein Heiliger verehrt wird, und Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, Parallelen gezogen werden könnten, hat Pamuk nach Erscheinen des Romans im vorigen Jahr in der Türkei eine Anzeige wegen Verunglimpfung eingebracht. Bislang ist das Verfahren nicht abgeschlossen. Aber im Grunde sind die Ähnlichkeiten mit der heutigen Türkei viel interessanter: Auch in Minger werden missliebige Journalisten ins Gefängnis geworfen, blüht das Spitzelwesen, agiert die Staatsmacht am liebsten autokratisch und stützt sich dabei auf ein ausgefeiltes System aus Korruption, Denunziation und Repression.
Mit besonderer Ironie behandelt Pamuk die Sprache der Insel, das Mingerische, das aber kaum jemand spricht und überdies auch nur begrenzt zur Kommunikation geeignet scheint. Auf seinem Sterbelager zählt der an der Pest erkrankte Staatsgründer Kamil alle mingerischen Wörter auf, die ihm einfallen - es sind 129. Noch heute, so heißt es im Nachwort des Romans, könne sie jedes Schulkind auf der Insel auswendig heruntersagen.
Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen. Er beschreibt ausführlich den realen Sultan Abdülhamid II., der von 1876 bis zu seiner Absetzung im Jahr 1909 regierte, und vermählt dessen fiktive Nichte Pakize mit dem Arzt und Epidemiologen Doktor Nuri, der ebenfalls fiktiv ist, aber den tatsächlichen Wissensstand der Seuchenbekämpfung um 1900 repräsentiert. Nuri wird für kurze Zeit Ministerpräsident, während Pakize sogar zur Königin gekrönt wird. Aber dann erfolgt schon der nächste Putsch, und der neue Machthaber, der bisherige Geheimdienstchef, verfrachtet die beiden diskret und respektvoll ins Exil, wo wir ihnen erst im letzten Kapitel begegnen, das im Jahr 2016 angesiedelt ist.
Damals begann Pamuk mit der Arbeit an dem Roman. Dann kam Corona und versetzte ihm einen Schock, denn die Pandemie lähmte das Projekt, bevor sie es doch noch beflügelte und ein großer historischer Roman entstand: verspielt, anspielungsreich, oft erstaunlich heiter, gegenwartsbezogen und zeitlos zugleich. Denn die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, ihre irrationalen Reaktionen, ihre panische Hinwendung zu Aberglauben und Verschwörungstheorien sind heute nicht grundlegend anders als im Jahr 1901 oder im Jahr 1664, als London von einer Pestwelle heimgesucht wurde, die etwa 100 000 Menschen das Leben kostete.
Pamuk hat seinem neuen Werk zwar je ein Zitat von Manzoni und Tolstoi vorangestellt, aber am meisten verdankt er zweifellos Daniel Defoes "Die Pest zu London", einer 1772 erschienenen Mischung aus Reportage, Tatsachenbericht und Roman, in der Defoe einen fiktiven Beobachter aufmerksam durch die von der Seuche gepeinigte Stadt streifen lässt. Auch Pamuk beschwört immer wieder die Atmosphäre von Minger und schickt seine Figuren auf Streifzüge durch leere Gassen, vorbei an idyllischen Gärten und Häusern, aus denen Leichen getragen werden.
Berichtet wird all dies von einer Historikerin namens Mina Mingerli, die ihr Werk als "Geschichtsbuch in Romanform" vorstellt. Sie erzählt die Geschichte der Insel, die zugleich die Geschichte ihrer Familie ist, denn Mina wurde hier geboren, schrieb immer schon über Minger, kritisierte Missstände in ihrer Heimat und wurde deswegen der "Verunglimpfung des Mingerer Volkes" bezichtigt. Dabei hatte sie nicht über das Volk, sondern nur über die Mächtigen von Minger geschrieben. Sie scheint ihre Heimat unendlich zu lieben. Vermutlich könnte sie deshalb auch endlos mit ihr hadern. HUBERT SPIEGEL
Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2022. 696 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung: Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss.
Orhan Pamuk, der türkische Nobelpreisträger, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, besitzt eine alte Taschenuhr mit zwei Zifferblättern: Das eine ist europäisch, das andere osmanisch beschriftet. Unmöglich zu sagen, welches die Vorder- und welches die Rückseite wäre. Sie sind gleich und doch verschieden. "Diese Uhr", hat Pamuk einmal gesagt und dabei Flaubert variiert, "das bin ich."
Jetzt taucht die Uhr mit dem westöstlichen Antlitz in der Hand von Sami Pascha auf, einer der Hauptfiguren in Pamuks neuem Roman "Die Nächte der Pest". Wenn der Gouverneur der fiktiven Mittelmeerinsel Minger Kummer hatte, griff er gern zu der Taschenuhr mit dem türkischen und dem europäischen Zifferblatt und "spürte dann gleichsam in seiner Hand, wie die Welt erträglicher wurde. Nun aber hatte er nicht einmal dazu die Kraft." Denn in seinem kleinen Reich ist eine Epidemie ausgebrochen: Minger, die Insel, auf der Christen und Muslime in relativer Eintracht zusammenleben, wo die Rosen duften und der Marmor leuchtet, ist ein kleines Paradies, in dem sich im Jahr 1901 plötzlich die Hölle auftut.
Die Pest rafft die Menschen dahin, stürzt die einen in dumpfen Fatalismus und die anderen in wilde Verzweiflung, bringt Sektierer, Separatisten und falsche Propheten hervor und lässt Nationalismen und Kriminalität aufblühen. Jeder kämpft nun gegen jeden: Griechen gegen Türken, Gläubige gegen weltlich Gesinnte, die Scheichs, die den Orden und Klöstern vorstehen, gegen die weltliche Macht, die sich schon bald als weitgehend machtlos erweist. Quarantänevorschriften werden missachtet, Häuser geplündert, Leichen verscharrt. Vor der Küste sorgen Kriegsschiffe der europäischen Großmächte dafür, dass niemand die Insel verlässt, während im fernen, doch auf unheimliche Weise zugleich allgegenwärtigen Istanbul Sultan Abdülhamit skrupellos seine undurchsichtigen Spiele treibt.
Auf siebenhundert Seiten entwirft Pamuk detailversessen, mitunter ein wenig langatmig, aber immer mühelos, das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Denn die Menschen wehren sich gegen die Maßnahmen, die zu ihrem Schutz angeordnet werden, weil sie nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen, dass die Pest ihr gesamtes Dasein verändert. Vor allem die Quarantäneverordnungen stoßen bei vielen Muslimen auf Widerstand, weil sie an Grundlegendes rühren: "Wer die Quarantäne akzeptiert, nimmt damit ein Stück Verwestlichung in Kauf, und je weiter man in den Orient gelangt, desto schwerer fällt den Menschen das", sagt gleich zu Beginn des Romans der Epidemiologe Bonkowski Pascha, der vom Sultan nach Minger geschickt wird, um die Seuche einzudämmen und vor allem dafür zu sorgen, dass sie nicht auf das Festland und ganz Europa übergreift.
Doch kaum auf Minger angekommen, wird Bonkowski Pascha auf mysteriöse Weise umgebracht. Damit wird Pamuks historischer Roman, der drei Liebesgeschichten erzählt und zugleich eine Parabel auf die moderne Türkei ist, um die Elemente des Kriminalromans erweitert, mit denen der Autor genüsslich zu spielen weiß. Sherlock Holmes wird immer wieder als Repräsentant deduzierender westlicher Rationalität ins Spiel gebracht und zugleich ad absurdum geführt. Denn der historische Sultan Abdülhamit, der Menschen foltern und ermorden ließ und seinen Bruder und dessen Familie jahrzehntelang gefangen hielt, ist bei Pamuk ein ebenso leidenschaftlicher wie dialektischer Leser von Kriminalromanen: Seiner Lektüre entnimmt der paranoide Herrscher nicht nur, wie man sich vor diversen Mordmethoden schützt, sondern auch, wie man sie am besten anwendet.
Aber nicht nur in Istanbul fürchten die Mächtigen um ihr Leben, auch auf Minger werden Attentate verübt, und es wird munter geputscht. Das immer schon labile Wechselspiel zwischen osmanischen und westlichen Werten und Traditionen funktioniert unter dem Druck der Seuche nicht mehr, die staatlichen Institutionen verlieren in Windeseile ihre Autorität, und Stabilität verspricht in dieser Krise einzig eine dritte, ganz neue Kraft: ein mythisch aufgeladener mingerischer Nationalismus, der alle Gegensätze übertüncht und die Inselgesellschaft zusammenschweißt. Und während der osmanische Vielvölkerstaat, der "kranke Mann am Bosporus", an Bindekraft verliert und seinem Ende entgegentorkelt, erklärt Minger, das Inselchen im Mittelmeer, seine Unabhängigkeit: Ein großes Reich geht unter, ein Zwergimperium erwacht. "Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung - mit der Pest als Geburtshelfer.
Mingers Staatengründer ist ein von der Insel stammender osmanischer Offizier namens Kamil, der in einer Mischung aus naivem Idealismus und Sendungsbewusstsein die Republik ausruft und sich sofort eifrig daranmacht, seiner Heimat zu verschaffen, was sie nie besessen hat: eine mythische Vergangenheit, Nationalbewusstsein, eine eigene Identität. Dass zwischen Kamil, der alsbald wie ein Heiliger verehrt wird, und Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, Parallelen gezogen werden könnten, hat Pamuk nach Erscheinen des Romans im vorigen Jahr in der Türkei eine Anzeige wegen Verunglimpfung eingebracht. Bislang ist das Verfahren nicht abgeschlossen. Aber im Grunde sind die Ähnlichkeiten mit der heutigen Türkei viel interessanter: Auch in Minger werden missliebige Journalisten ins Gefängnis geworfen, blüht das Spitzelwesen, agiert die Staatsmacht am liebsten autokratisch und stützt sich dabei auf ein ausgefeiltes System aus Korruption, Denunziation und Repression.
Mit besonderer Ironie behandelt Pamuk die Sprache der Insel, das Mingerische, das aber kaum jemand spricht und überdies auch nur begrenzt zur Kommunikation geeignet scheint. Auf seinem Sterbelager zählt der an der Pest erkrankte Staatsgründer Kamil alle mingerischen Wörter auf, die ihm einfallen - es sind 129. Noch heute, so heißt es im Nachwort des Romans, könne sie jedes Schulkind auf der Insel auswendig heruntersagen.
Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen. Er beschreibt ausführlich den realen Sultan Abdülhamid II., der von 1876 bis zu seiner Absetzung im Jahr 1909 regierte, und vermählt dessen fiktive Nichte Pakize mit dem Arzt und Epidemiologen Doktor Nuri, der ebenfalls fiktiv ist, aber den tatsächlichen Wissensstand der Seuchenbekämpfung um 1900 repräsentiert. Nuri wird für kurze Zeit Ministerpräsident, während Pakize sogar zur Königin gekrönt wird. Aber dann erfolgt schon der nächste Putsch, und der neue Machthaber, der bisherige Geheimdienstchef, verfrachtet die beiden diskret und respektvoll ins Exil, wo wir ihnen erst im letzten Kapitel begegnen, das im Jahr 2016 angesiedelt ist.
Damals begann Pamuk mit der Arbeit an dem Roman. Dann kam Corona und versetzte ihm einen Schock, denn die Pandemie lähmte das Projekt, bevor sie es doch noch beflügelte und ein großer historischer Roman entstand: verspielt, anspielungsreich, oft erstaunlich heiter, gegenwartsbezogen und zeitlos zugleich. Denn die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, ihre irrationalen Reaktionen, ihre panische Hinwendung zu Aberglauben und Verschwörungstheorien sind heute nicht grundlegend anders als im Jahr 1901 oder im Jahr 1664, als London von einer Pestwelle heimgesucht wurde, die etwa 100 000 Menschen das Leben kostete.
Pamuk hat seinem neuen Werk zwar je ein Zitat von Manzoni und Tolstoi vorangestellt, aber am meisten verdankt er zweifellos Daniel Defoes "Die Pest zu London", einer 1772 erschienenen Mischung aus Reportage, Tatsachenbericht und Roman, in der Defoe einen fiktiven Beobachter aufmerksam durch die von der Seuche gepeinigte Stadt streifen lässt. Auch Pamuk beschwört immer wieder die Atmosphäre von Minger und schickt seine Figuren auf Streifzüge durch leere Gassen, vorbei an idyllischen Gärten und Häusern, aus denen Leichen getragen werden.
Berichtet wird all dies von einer Historikerin namens Mina Mingerli, die ihr Werk als "Geschichtsbuch in Romanform" vorstellt. Sie erzählt die Geschichte der Insel, die zugleich die Geschichte ihrer Familie ist, denn Mina wurde hier geboren, schrieb immer schon über Minger, kritisierte Missstände in ihrer Heimat und wurde deswegen der "Verunglimpfung des Mingerer Volkes" bezichtigt. Dabei hatte sie nicht über das Volk, sondern nur über die Mächtigen von Minger geschrieben. Sie scheint ihre Heimat unendlich zu lieben. Vermutlich könnte sie deshalb auch endlos mit ihr hadern. HUBERT SPIEGEL
Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2022. 696 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Es ist weniger ein Epidemieroman als einer über osmanische Zeiten, in dem die Menschen stark lieben, stark kämpfen, und - wenn als das nichts hilft - einen starken Abgang hinlegen." Jörg Plath, Deutschlandfunk Büchermarkt, 30.03.22
"Ein gewaltiges Epos über Intrigen und Zärtlichkeit in der Krise." Die Zeit Literaturbeilage, 17.03.22
"Zur Kunst Orhan Pamuks gehört freilich auch, dass er uns immer wieder herausreißt aus seiner Story und hineinwirft in die Geschichte. Beide vermischen sich untrennbar. Wir weinen und lachen, wir freuen uns über Erkenntnisse." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 07.03.22
"Das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.22
"Der Roman ist neuerlich ein Beweis, dass Orhan Pamuk nach dem Nobelpreis 2006 die Nobelpreis-Höchstform erreichte." Peter Pisa, Kurier, 19.02.22
"Es bietet für mich das Beste was Literatur bieten kann: Uns Distanz schenken um auf Dinge zu schauen, die uns bedrängen. ... Es ist ein absoluter Glücksfall, dass einer der größten Erzähler der Welt ein Buch schreiben konnte, bei dem er einem menschheitsgeschichtlichen Unglück durch Zufall einen Schritt voraus war. Und deshalb haben wir jetzt einen Roman, der uns unsre Zeit so viel besser betrachten und verstehen lässt." Thomas Böhm, rbb RadioEins, 17.02.22
"Für die Freiheit, vor allem für die Freiheit des Wortes, tritt Orhan Pamuk seit vielen Jahren ein - manchmal auch vor Gericht. Dieses Mal aber mit großer Überzeugungskraft und äußerst unterhaltsam mit seinem neuen Roman." Joachim Dicks, NDR Kultur, 14.02.22
"Ein brillant geschriebenes, üppig und ausschweifend erzählendes Buch über eine verheerende Pandemie, aber auch eine Mentalitätsstudie und eine historische Betrachtung über die Auflösung des osmanischen Reichs." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 14.02.22
"Ein Meister der akribischen Erzählung ... Pamuks Stärke waren schon immer die Genauigkeit und das Literarisieren von zeitgenössischen, aber auch osmanischen Fakten." Barbara Frischmuth, Die Presse, 12.02.22
"Ein echter Schmöker ... Ungeheuer amüsant, in unendlichen Details geistreich und voller Witz. Er hat ein epochales Werk über die Nationenwerdung um 1900 geschrieben, das Abenteuerromanhaftes und Staatstheoretisches glücklich vereint." Adam Soboczynski, Die Zeit, 10.02.22
"Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch." Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung, 08.02.22
"Ein gewaltiges Epos über Intrigen und Zärtlichkeit in der Krise." Die Zeit Literaturbeilage, 17.03.22
"Zur Kunst Orhan Pamuks gehört freilich auch, dass er uns immer wieder herausreißt aus seiner Story und hineinwirft in die Geschichte. Beide vermischen sich untrennbar. Wir weinen und lachen, wir freuen uns über Erkenntnisse." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 07.03.22
"Das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.22
"Der Roman ist neuerlich ein Beweis, dass Orhan Pamuk nach dem Nobelpreis 2006 die Nobelpreis-Höchstform erreichte." Peter Pisa, Kurier, 19.02.22
"Es bietet für mich das Beste was Literatur bieten kann: Uns Distanz schenken um auf Dinge zu schauen, die uns bedrängen. ... Es ist ein absoluter Glücksfall, dass einer der größten Erzähler der Welt ein Buch schreiben konnte, bei dem er einem menschheitsgeschichtlichen Unglück durch Zufall einen Schritt voraus war. Und deshalb haben wir jetzt einen Roman, der uns unsre Zeit so viel besser betrachten und verstehen lässt." Thomas Böhm, rbb RadioEins, 17.02.22
"Für die Freiheit, vor allem für die Freiheit des Wortes, tritt Orhan Pamuk seit vielen Jahren ein - manchmal auch vor Gericht. Dieses Mal aber mit großer Überzeugungskraft und äußerst unterhaltsam mit seinem neuen Roman." Joachim Dicks, NDR Kultur, 14.02.22
"Ein brillant geschriebenes, üppig und ausschweifend erzählendes Buch über eine verheerende Pandemie, aber auch eine Mentalitätsstudie und eine historische Betrachtung über die Auflösung des osmanischen Reichs." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 14.02.22
"Ein Meister der akribischen Erzählung ... Pamuks Stärke waren schon immer die Genauigkeit und das Literarisieren von zeitgenössischen, aber auch osmanischen Fakten." Barbara Frischmuth, Die Presse, 12.02.22
"Ein echter Schmöker ... Ungeheuer amüsant, in unendlichen Details geistreich und voller Witz. Er hat ein epochales Werk über die Nationenwerdung um 1900 geschrieben, das Abenteuerromanhaftes und Staatstheoretisches glücklich vereint." Adam Soboczynski, Die Zeit, 10.02.22
"Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch." Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung, 08.02.22