"Woher bist du gekommen, woher bist du zu uns getrieben? Warum? Wir haben doch vorher ohne dich gelebt, woher kommst du, Nadjka?"
Die dreizehnjährige Nadjka kehrt in ihr Dorf zurück. Ein Floß bringt sie flußaufwärts, genau an die Stelle, an der sie vor Jahren ausgesetzt worden war. Der Bruder Marat rekonstruiert ihre Geschichte: Weil das Mädchen geistig behindert ist, hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. Sie hatte als Heimkind gelebt, mußte Spott und Brutalitäten über sich ergehen lassen, mit ansehen, wie ihr bester Freund, als er sich für sie einsetzen will, dafür büßen muß. Schließlich war Nadjka geflohen. Für die, die ihren Weg durch die Steppe kreuzten, trug sie die Züge einer mythischen Lichtgestalt, einer Wunderheilerin. Doch die Odyssee ist nicht vorbei. Es ist das Jahr 1962, inmitten der Kubakrise fürchtet man einen atomaren Schlag der Amerikaner. In Hysterie und Todesangst erwarten die Menschen das Ende. Marat fleht Nadjka an zu handeln.
Die dreizehnjährige Nadjka kehrt in ihr Dorf zurück. Ein Floß bringt sie flußaufwärts, genau an die Stelle, an der sie vor Jahren ausgesetzt worden war. Der Bruder Marat rekonstruiert ihre Geschichte: Weil das Mädchen geistig behindert ist, hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. Sie hatte als Heimkind gelebt, mußte Spott und Brutalitäten über sich ergehen lassen, mit ansehen, wie ihr bester Freund, als er sich für sie einsetzen will, dafür büßen muß. Schließlich war Nadjka geflohen. Für die, die ihren Weg durch die Steppe kreuzten, trug sie die Züge einer mythischen Lichtgestalt, einer Wunderheilerin. Doch die Odyssee ist nicht vorbei. Es ist das Jahr 1962, inmitten der Kubakrise fürchtet man einen atomaren Schlag der Amerikaner. In Hysterie und Todesangst erwarten die Menschen das Ende. Marat fleht Nadjka an zu handeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2003Die heilige Hanna der Steppe
Svetlana Vasilenkos großer kleiner Roman "Die Närrin"
Ein Herbsttag, ein kleines Haus mit Hof, eine alte, quietschende Schaukel, darauf ein dreizehnjähriges Mädchen. Vom Dach des Hauses schaut der Schaukelnden der Bruder zu, die Eltern machen sich im Hof zu schaffen. Das Bild mutet freundlich-banal an: ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben einer russischen Durchschnittsfamilie irgendwo an der Wolga. So beginnt der Roman "Die Närrin" der russischen Autorin Svetlana Vasilenko, ein schmales Werk, das ihr dennoch sogleich den Novij-Mir-Preis für den "besten Roman des Jahres 1998" und eine Nominierung für den Booker-Preis bescherte. Nun liegt es in deutscher Übersetzung vor.
Ein "unprofessioneller" Leser wird die Qualitäten des Buches womöglich erst auf den zweiten Blick erkennen. Die schlichte, ja stellenweise naive Erzählweise kann nämlich anfangs den Eindruck entstehen lassen, als handele es sich lediglich um eine harmlose Heraufbeschwörung der sozialistischen Realität mit teils märchenhaften, teils parodistischen Elementen. In Wirklichkeit aber ist der Roman nicht weniger als ein Versuch, auf mehrere Jahrzehnte der neueren russischen Geschichte zurückzublicken und dabei ein Psychogramm der in ihren historischen, politischen und nationalcharakterlichen Zwängen verfangenen posttotalitären Gesellschaft zu zeichnen.
Den zeitlichen Bogen spannt Svetlana Vasilenko mit Hilfe eines schlicht-raffinierten Einfalls: In die Rahmenhandlung, die in den sechziger Jahren spielt, bettet sie eine Phantasievariante der erzählten Geschichte ein, die wiederum in den Dreißigern angesiedelt ist. Der Erzähler ist Marat, der Bruder der dreizehnjährigen Nadjka, eines geistig behinderten Mädchens, das nach der Geburt von ihren Eltern ausgesetzt wurde und im Kubakrisenjahr 1962 plötzlich zu seiner Familie zurückkehrt. Woher sie kommt und was sie erlitten hat, läßt sich höchstens ahnen - die am Down-Syndrom Leidende kann zwar singen, aber nicht sprechen. So muß sich Marat die Geschichte seiner Schwester selbst erzählen, und er tut es, indem er in seiner Phantasie dreißig Jahre zurückgeht und eine Doppelgängerin namens Hanna erfindet: die geistesgestörte Insassin eines Kinderheims, in dem Brutalität, Hunger und schließlich eine Choleraepidemie den Alltag bestimmen. Sich selbst kreiert er dabei zu einem Beschützer, der durch eine sadistische Aufseherin zu Tode kommt.
Hannas anschließende Flucht durch die Steppe erinnert ein wenig an die Odyssee des kleinen Protagonisten aus Jerzy Kosinskis berühmtem Roman "Der bemalte Vogel". Die Bauern reagieren auf die Andersartige mit Mißtrauen, Ablehnung und Gewalt, nur sind es, anders als bei Kosinski, nicht Rückständigkeit, Aberglaube und Krieg, die zu ihrer Verrohung und Brutalisierung geführt haben, sondern die harten Lebensbedingungen und der stalinistische Terror. Das durchlebte Leid macht das Mädchen schließlich zu einer Medizinstudentin, zu einer realitätsentrückten, von der Aura der Heiligkeit umstrahlten Lichtgestalt.
Auch Nadjka nimmt nach und nach Züge an, die zum Teil märchenhaft anmuten, zum Teil jenem Realismus zuzuschreiben sind, den man für gewöhnlich als "magisch" bezeichnet und von dem der polnische Autor Julian Stryjkowski einmal sagte, es sei ein Realismus, der einige Zentimeter über der Erde schwebe. Das tut Nadjka, als das Land plötzlich vor der Gefahr einer Atomkatastrophe steht und die Menschen von ihr die Abwendung des Unglücks erwarten, schließlich auch: Sie schwebt über der Erde, steigt über der Steppe, in der für einen Augenblick Menschen und Tiere in gemeinsamem Staunen erstarren, "immer höher und höher hinauf", bis man "sie fast nicht mehr sehen" kann und der Leser mit diesem letzten, chagallesken Bild in die Realität entlassen wird.
Bindeglied zwischen den beiden Geschichten ist der Handlungsort: das Städtchen Kapustin Jar, dessen Name, zumal in den sechziger Jahren, weniger für magische Aura als für Technologie und Politik ersten Ranges steht: Es ist ein Raumfahrtzentrum, in dem das Militär das Sagen hat und der Kalte Krieg die Bewohner in Atem hält. Es ist zugleich der Geburtsort der Schriftstellerin Svetlana Vasilenko, die, offenbar von der besonderen Atmosphäre des Städtchens und von den eigenen Kindheitsträumen inspiriert, ein Buch geschrieben hat, in dem sich Reales mit Märchenhaftem vermischt, Rationalität auf Spiritualität trifft, politisches Diktat in Opposition zu religiöser Tradition steht. Die ironische Auseinandersetzung mit den ideologischen und ästhetischen Schemata des Sowjet-Regimes und das Zurückgreifen auf die literarischen Muster der Volksmärchen und der Heiligenviten sorgen dabei für ein einzigartiges, lange nachwirkendes Klima, das man von diesem harmlos beginnenden, kleinen Roman kaum erwartet hätte.
MARTA KIJOWSKA
Svetlana Vasilenko: "Die Närrin". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Svetlana Vasilenkos großer kleiner Roman "Die Närrin"
Ein Herbsttag, ein kleines Haus mit Hof, eine alte, quietschende Schaukel, darauf ein dreizehnjähriges Mädchen. Vom Dach des Hauses schaut der Schaukelnden der Bruder zu, die Eltern machen sich im Hof zu schaffen. Das Bild mutet freundlich-banal an: ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben einer russischen Durchschnittsfamilie irgendwo an der Wolga. So beginnt der Roman "Die Närrin" der russischen Autorin Svetlana Vasilenko, ein schmales Werk, das ihr dennoch sogleich den Novij-Mir-Preis für den "besten Roman des Jahres 1998" und eine Nominierung für den Booker-Preis bescherte. Nun liegt es in deutscher Übersetzung vor.
Ein "unprofessioneller" Leser wird die Qualitäten des Buches womöglich erst auf den zweiten Blick erkennen. Die schlichte, ja stellenweise naive Erzählweise kann nämlich anfangs den Eindruck entstehen lassen, als handele es sich lediglich um eine harmlose Heraufbeschwörung der sozialistischen Realität mit teils märchenhaften, teils parodistischen Elementen. In Wirklichkeit aber ist der Roman nicht weniger als ein Versuch, auf mehrere Jahrzehnte der neueren russischen Geschichte zurückzublicken und dabei ein Psychogramm der in ihren historischen, politischen und nationalcharakterlichen Zwängen verfangenen posttotalitären Gesellschaft zu zeichnen.
Den zeitlichen Bogen spannt Svetlana Vasilenko mit Hilfe eines schlicht-raffinierten Einfalls: In die Rahmenhandlung, die in den sechziger Jahren spielt, bettet sie eine Phantasievariante der erzählten Geschichte ein, die wiederum in den Dreißigern angesiedelt ist. Der Erzähler ist Marat, der Bruder der dreizehnjährigen Nadjka, eines geistig behinderten Mädchens, das nach der Geburt von ihren Eltern ausgesetzt wurde und im Kubakrisenjahr 1962 plötzlich zu seiner Familie zurückkehrt. Woher sie kommt und was sie erlitten hat, läßt sich höchstens ahnen - die am Down-Syndrom Leidende kann zwar singen, aber nicht sprechen. So muß sich Marat die Geschichte seiner Schwester selbst erzählen, und er tut es, indem er in seiner Phantasie dreißig Jahre zurückgeht und eine Doppelgängerin namens Hanna erfindet: die geistesgestörte Insassin eines Kinderheims, in dem Brutalität, Hunger und schließlich eine Choleraepidemie den Alltag bestimmen. Sich selbst kreiert er dabei zu einem Beschützer, der durch eine sadistische Aufseherin zu Tode kommt.
Hannas anschließende Flucht durch die Steppe erinnert ein wenig an die Odyssee des kleinen Protagonisten aus Jerzy Kosinskis berühmtem Roman "Der bemalte Vogel". Die Bauern reagieren auf die Andersartige mit Mißtrauen, Ablehnung und Gewalt, nur sind es, anders als bei Kosinski, nicht Rückständigkeit, Aberglaube und Krieg, die zu ihrer Verrohung und Brutalisierung geführt haben, sondern die harten Lebensbedingungen und der stalinistische Terror. Das durchlebte Leid macht das Mädchen schließlich zu einer Medizinstudentin, zu einer realitätsentrückten, von der Aura der Heiligkeit umstrahlten Lichtgestalt.
Auch Nadjka nimmt nach und nach Züge an, die zum Teil märchenhaft anmuten, zum Teil jenem Realismus zuzuschreiben sind, den man für gewöhnlich als "magisch" bezeichnet und von dem der polnische Autor Julian Stryjkowski einmal sagte, es sei ein Realismus, der einige Zentimeter über der Erde schwebe. Das tut Nadjka, als das Land plötzlich vor der Gefahr einer Atomkatastrophe steht und die Menschen von ihr die Abwendung des Unglücks erwarten, schließlich auch: Sie schwebt über der Erde, steigt über der Steppe, in der für einen Augenblick Menschen und Tiere in gemeinsamem Staunen erstarren, "immer höher und höher hinauf", bis man "sie fast nicht mehr sehen" kann und der Leser mit diesem letzten, chagallesken Bild in die Realität entlassen wird.
Bindeglied zwischen den beiden Geschichten ist der Handlungsort: das Städtchen Kapustin Jar, dessen Name, zumal in den sechziger Jahren, weniger für magische Aura als für Technologie und Politik ersten Ranges steht: Es ist ein Raumfahrtzentrum, in dem das Militär das Sagen hat und der Kalte Krieg die Bewohner in Atem hält. Es ist zugleich der Geburtsort der Schriftstellerin Svetlana Vasilenko, die, offenbar von der besonderen Atmosphäre des Städtchens und von den eigenen Kindheitsträumen inspiriert, ein Buch geschrieben hat, in dem sich Reales mit Märchenhaftem vermischt, Rationalität auf Spiritualität trifft, politisches Diktat in Opposition zu religiöser Tradition steht. Die ironische Auseinandersetzung mit den ideologischen und ästhetischen Schemata des Sowjet-Regimes und das Zurückgreifen auf die literarischen Muster der Volksmärchen und der Heiligenviten sorgen dabei für ein einzigartiges, lange nachwirkendes Klima, das man von diesem harmlos beginnenden, kleinen Roman kaum erwartet hätte.
MARTA KIJOWSKA
Svetlana Vasilenko: "Die Närrin". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 192 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine spezifische Rolle für die Frau sah der sowjetische Kommunismus nicht vor, schreibt die Rezensentin Katharina Granzin. Die herrschende Ideologie sah in der Frau ein eher geschlechtsloses Wesen, das sich jedoch auf "libidinöse" Weise der Arbeit hingab. Dass dem nun nicht mehr so ist, zeigt die Rezensentin an drei neueren, russischen Romanen auf, die mit dem Klischee der sowjetischen Heldin aufräumen: Alexander Ikonnikows "Liska und ihre Männer", Michail Kononows "Die nackte Pionierin" und Svetlana Vasilenkos "Die Närrin". Bei Svetlana Vasilenko stehen sich zwei völlig gegensätzliche Frauenbilder direkt gegenüber, in der Konfrontation zwischen einer sich immer wieder reinkarnierenden, "unschuldigen" und "entrückten" Närrin und der erzkommunistischen und dümmlich verbohrten Waisenhausleiterin Traktorina Petrovna. Vasilenkos Närrin sieht die Rezensentin einer deutlich "christlichen" Tradition verpflichtet, dem "mythisch geladenen Konzept reiner Weiblichkeit, das den irdischen Körper transzendiert". Mit "betont kargen sprachlichen Mitteln", lobt die Rezensentin, schafft Vasilenko eine "archaische" Atmosphäre, die als "surrealistisch geladene" und doch alte "Heiligenlegende" erscheint, voll "selbstverständlicher, kindlicher Religiosität", und in der das "Heilige über das Profane" siegt, "das Mythische über das Rationalistische" und schließlich "das alte Russland über die Sowjetmacht". Mit diesem Roman, so die erfreute Rezensentin abschließend, betreibt die Autorin den "Exorzismus der gesamten sowjetischen Epoche".
© Perlentaucher Medien GmbH
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