Die 40-jährige Christa Notter versteckt sich in einem Cottage im Nordwesten Irlands und schreibt an ihre Tochter, die sie als 16-jährige zur Welt gebracht hat und die ihr sofort weggenommen worden ist. Sie schreibt um ihr Leben, denn sie hat die Sekte verraten, deren Mitglied sie war. Und nun wird sie gejagt. Fisnish, der charismatische Kopf der Sekte, wird sie töten. Es sei denn, Erich, ihr Geliebter, findet sie zuerst ... Christa Notter erzählt ihrer Tochter von der Abhängigkeit zum Vater, dem Buchdrucker und Korrektor, dessen stille Konsequenz sie bewunderte. Berichtet von der schwierigen Liebe zur religiösen Mutter, die sich das Leben nimmt, weil Gott zuläßt, dass sie an Krebs erkrankt. Sie erzählt von ihrer Jugendliebe zum Vikar Michael, dem Vater ihrer Tochter; von den Bluttaten und Initiationsriten der Sekte um Fisnish, die wie die mittelalterlichen Katharer die korrupte katholische Kirche bekämpft. Dabei schwört sie aber, anders als die Katharer, auf Rache und Gewalt. " Die Namenlosen" töten, um zu erlösen. Christa Notter gesteht ihrer Tochter auch den Mord an jenem Mann, in dessen Gewalt sie als Mädchen war. Und sie erzählt von Erich, dem Geliebten, einem Straßengaukler und Abtrünnigen wie Christa, der sie die Rache vergessen lässt und aus der Illegalität führen will. Südfrankreich, die Schweiz und Irland bilden die Kulisse für diesen komplex komponierten, dramatischen Roman. Hansjörg Schertenleib erzählt knapp und voller Intensität, radikal und zugleich poetisch und mit Menschenkenntnis vom Leben einer Frau, das aus den Fugen geraten ist, und von der Möglichkeit, es wieder einzurenken, indem sie sich für die Liebe und gegen den Hass entscheidet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2000Berauscht von Blut und Wunden
Antiklerikal: Hansjörg Schertenleibs Roman "Die Namenlosen"
Wer sich zum katholischen Glauben bekennt, lebt gefährlich in Hansjörg Schertenleibs neuem Roman. Nichts ahnende Kirchgänger werden von einem Glockenklöppel erschlagen oder bei der Kommunion mit Hostien vergiftet; Ordensleute fallen einem erstickenden Zierkissen zum Opfer; ein junger Priester wird langsam zu Tode gefoltert, indem ihm erst ein Finger ab- und dann die Kehle durchgeschnitten wird, und schließlich soll auch noch Papst Johannes Paul II. durch ein sorgsam geplantes Attentat ins Jenseits befördert werden.
Ersonnen hat diese Grausamkeiten der Sektenführer Fisnish, ein sonnengebräunter Ire, der nach Puderzucker und Weihwasser riecht. Der sektiererische Duft ist eines der Erkennungszeichen der wenigen Getreuen, die dieser fanatische Kämpfer gegen alles Katholische um sich geschart hat: "Wir benutzen weder Seife noch Parfum. Der Geruch, der uns umgibt, ist der Geruch des Zölibats. Wir riechen anders als die anderen." Kein Wunder, dass sich die vierzigjährige Christa während der dreißigtägigen Einkehr, die ihr von Fisnish auferlegt wurde, bei erster Gelegenheit an den Schminktöpfen vergreift und sich ausgiebig mit Körperlotion versorgt. Eingeweihte können sie trotzdem noch als Anhängerin des charismatischen Iren erkennen, denn in die Sohle ihres linken Fußes ist das V-förmige Symbol der Sekte eingebrannt, dasselbe Zeichen, das die Priestermörder als blutige Inschrift am Tatort zurücklassen und das der Verlag - ein hübsches Detail - dem Buchdeckel eingeprägt hat.
Soll die sorgfältige äußere Ausstattung des Romans mit seinem gewalttätigen Inhalt versöhnen? Dort ist wenig Platz für ästhetische Erwägungen, denn die missionarische Botschaft der Heldin besteht im Wesentlichen aus diffusen Begriffen wie Hass, Rache und Stärke. Das sind wahre Schlag-Wörter, wie Christa immer wieder demonstriert. Begnügt sie sich in der ersten Hälfte des Buches noch damit, einen Kanarienvogel in der Hand zu zerdrücken und einen streunenden Hund mit einem Fausthieb zu erledigen, trennt sie bei fortschreitender Handlung einem harmlosen Weideschaf den Kopf ab und ermordet schließlich kaltblütig den alten Priester, der sie in ihrer Kindheit gepeinigt hat. Nur vor dem befohlenen Papst-Attentat schreckt sie zurück - nicht etwa aus Mitleid mit dem Heiligen Vater, sondern weil ihr das eigene Leben plötzlich doch als allzu kostbar erscheint.
Über weite Strecken erzählt Schertenleib das blutrünstige Geschehen aus der Perspektive Christas, die sich in ein irisches Bauernhaus verkrochen hat, um dort vor der sicher erwarteten Hinrichtung durch den Sektenführer ihre Lebensbeichte niederzuschreiben. Adressiert sind diese Bekenntnisse an ihre unbekannte Tochter, die sie im Alter von sechzehn zur Welt brachte. Dass der Klerus bei der Zeugung dieses Kindes nicht nur seine Finger im Spiel hatte, versteht sich mittlerweile von selbst. Doch so detailliert Schertenleib auch über das Verhältnis der Jugendlichen mit einem verklemmten Vikar, über Schwangerschaft, Geburt und Sexualität zu schreiben versucht - all das bleibt so unanschaulich, dass man gern der Selbstbeschreibung Christas zustimmt, "eigentlich habe sie den Körper eines Mannes". In Zeiten allgegenwärtiger Debatten über die soziale Determiniertheit der Geschlechtscharaktere mag der literarische Rollentausch einen besonderen Reiz ausüben; überzeugen kann er hier nicht.
Christas Aufzeichnungen werden ergänzt von den Erinnerungen ihres jungen Liebhabers. Der österreichische Feuerschlucker Erich führt in Südfrankreich das Leben eines Vagabunden und wohnt zusammen mit einigen schrägen Gestalten in einem improvisierten Zeltlager. Die Kontraste könnten kaum schärfer ausfallen: hier das Faulenzen in den Tag hinein, ermöglicht durch kleine Diebstähle und gewürzt mit Drogenkonsum; dort der asketische Alltag der Sekte, der durch unbedingten Gehorsam und harte Bußübungen bestimmt wird. Schon länger erkundet Schertenleib Möglichkeiten des kollektiven Zusammenlebens. In seinem Jugendbuch "Zeitpalast" (1998) hatte er eine Hand voll verhaltensauffälliger Teenager in ein erlebnispädagogisches Zeltlager geschickt.
Von pädagogischem oder aufklärerischem Impetus ist in diesem Roman nichts zu bemerken. Nicht die psychischen Verletzungen, die Menschen aus ihrer gewohnten Bahn werfen und in die Gewalt totalitärer Systeme treiben können, interessieren den Autor, vielmehr beschränkt er sich allein auf den Nervenkitzel, den die pralle Schilderung der Gewalttaten hervorrufen mag. Um das genießen zu können, muss man allerdings gehöriges Ressentiment gegen die katholische Kirche verspüren, die nach Ansicht der Romanfiguren ausschließlich perverse und schwache Naturen vereint.
Es überrascht nicht, dass bei solchen Pauschalisierungen auch die sprachliche Sorgfalt auf der Strecke bleibt. Immer wieder lässt Schertenleib die Polizei "von etwas ausgehen" - als ob sich die Gesetzeshüter mit dieser leeren Phrase selbst strafen wollten; und in Christas monologischen Bekenntnissen sind die Anreden an die ferne Tochter mit solch monotoner Präzision über den Text verstreut, dass sie mit hoher Trefferquote vorhersagbar sind. Bei alledem verzichtet Schertenleib durchaus nicht auf kulturkritische Exkurse. Die Einführung der neuen Rechtschreibung betrachtet er ebenso skeptisch wie die Abschaffung des alten Bleisatzes vor etlichen Jahren. Hier spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen des 42-jährigen Autors, der in seiner Jugend selbst eine Lehre zum Schriftsetzer absolvierte. Aber was verbindet die nostalgischen Erinnerungen an ein ausgestorbenes Handwerk mit den bluttriefenden antiklerikalen Gewaltphantasien?
Am Ende muss man es bedauern, dass der duftende Sektenführer Fisnish sich und seine Jünger nicht schon dreihundert Seiten früher aus der Welt geschafft hat. Den unschuldigen Opfern der mörderischen Sekte wie den Lesern des Romans wäre so einiges erspart geblieben.
SABINE DOERING
Hansjörg Schertenleib: "Die Namenlosen". Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2000. 317 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antiklerikal: Hansjörg Schertenleibs Roman "Die Namenlosen"
Wer sich zum katholischen Glauben bekennt, lebt gefährlich in Hansjörg Schertenleibs neuem Roman. Nichts ahnende Kirchgänger werden von einem Glockenklöppel erschlagen oder bei der Kommunion mit Hostien vergiftet; Ordensleute fallen einem erstickenden Zierkissen zum Opfer; ein junger Priester wird langsam zu Tode gefoltert, indem ihm erst ein Finger ab- und dann die Kehle durchgeschnitten wird, und schließlich soll auch noch Papst Johannes Paul II. durch ein sorgsam geplantes Attentat ins Jenseits befördert werden.
Ersonnen hat diese Grausamkeiten der Sektenführer Fisnish, ein sonnengebräunter Ire, der nach Puderzucker und Weihwasser riecht. Der sektiererische Duft ist eines der Erkennungszeichen der wenigen Getreuen, die dieser fanatische Kämpfer gegen alles Katholische um sich geschart hat: "Wir benutzen weder Seife noch Parfum. Der Geruch, der uns umgibt, ist der Geruch des Zölibats. Wir riechen anders als die anderen." Kein Wunder, dass sich die vierzigjährige Christa während der dreißigtägigen Einkehr, die ihr von Fisnish auferlegt wurde, bei erster Gelegenheit an den Schminktöpfen vergreift und sich ausgiebig mit Körperlotion versorgt. Eingeweihte können sie trotzdem noch als Anhängerin des charismatischen Iren erkennen, denn in die Sohle ihres linken Fußes ist das V-förmige Symbol der Sekte eingebrannt, dasselbe Zeichen, das die Priestermörder als blutige Inschrift am Tatort zurücklassen und das der Verlag - ein hübsches Detail - dem Buchdeckel eingeprägt hat.
Soll die sorgfältige äußere Ausstattung des Romans mit seinem gewalttätigen Inhalt versöhnen? Dort ist wenig Platz für ästhetische Erwägungen, denn die missionarische Botschaft der Heldin besteht im Wesentlichen aus diffusen Begriffen wie Hass, Rache und Stärke. Das sind wahre Schlag-Wörter, wie Christa immer wieder demonstriert. Begnügt sie sich in der ersten Hälfte des Buches noch damit, einen Kanarienvogel in der Hand zu zerdrücken und einen streunenden Hund mit einem Fausthieb zu erledigen, trennt sie bei fortschreitender Handlung einem harmlosen Weideschaf den Kopf ab und ermordet schließlich kaltblütig den alten Priester, der sie in ihrer Kindheit gepeinigt hat. Nur vor dem befohlenen Papst-Attentat schreckt sie zurück - nicht etwa aus Mitleid mit dem Heiligen Vater, sondern weil ihr das eigene Leben plötzlich doch als allzu kostbar erscheint.
Über weite Strecken erzählt Schertenleib das blutrünstige Geschehen aus der Perspektive Christas, die sich in ein irisches Bauernhaus verkrochen hat, um dort vor der sicher erwarteten Hinrichtung durch den Sektenführer ihre Lebensbeichte niederzuschreiben. Adressiert sind diese Bekenntnisse an ihre unbekannte Tochter, die sie im Alter von sechzehn zur Welt brachte. Dass der Klerus bei der Zeugung dieses Kindes nicht nur seine Finger im Spiel hatte, versteht sich mittlerweile von selbst. Doch so detailliert Schertenleib auch über das Verhältnis der Jugendlichen mit einem verklemmten Vikar, über Schwangerschaft, Geburt und Sexualität zu schreiben versucht - all das bleibt so unanschaulich, dass man gern der Selbstbeschreibung Christas zustimmt, "eigentlich habe sie den Körper eines Mannes". In Zeiten allgegenwärtiger Debatten über die soziale Determiniertheit der Geschlechtscharaktere mag der literarische Rollentausch einen besonderen Reiz ausüben; überzeugen kann er hier nicht.
Christas Aufzeichnungen werden ergänzt von den Erinnerungen ihres jungen Liebhabers. Der österreichische Feuerschlucker Erich führt in Südfrankreich das Leben eines Vagabunden und wohnt zusammen mit einigen schrägen Gestalten in einem improvisierten Zeltlager. Die Kontraste könnten kaum schärfer ausfallen: hier das Faulenzen in den Tag hinein, ermöglicht durch kleine Diebstähle und gewürzt mit Drogenkonsum; dort der asketische Alltag der Sekte, der durch unbedingten Gehorsam und harte Bußübungen bestimmt wird. Schon länger erkundet Schertenleib Möglichkeiten des kollektiven Zusammenlebens. In seinem Jugendbuch "Zeitpalast" (1998) hatte er eine Hand voll verhaltensauffälliger Teenager in ein erlebnispädagogisches Zeltlager geschickt.
Von pädagogischem oder aufklärerischem Impetus ist in diesem Roman nichts zu bemerken. Nicht die psychischen Verletzungen, die Menschen aus ihrer gewohnten Bahn werfen und in die Gewalt totalitärer Systeme treiben können, interessieren den Autor, vielmehr beschränkt er sich allein auf den Nervenkitzel, den die pralle Schilderung der Gewalttaten hervorrufen mag. Um das genießen zu können, muss man allerdings gehöriges Ressentiment gegen die katholische Kirche verspüren, die nach Ansicht der Romanfiguren ausschließlich perverse und schwache Naturen vereint.
Es überrascht nicht, dass bei solchen Pauschalisierungen auch die sprachliche Sorgfalt auf der Strecke bleibt. Immer wieder lässt Schertenleib die Polizei "von etwas ausgehen" - als ob sich die Gesetzeshüter mit dieser leeren Phrase selbst strafen wollten; und in Christas monologischen Bekenntnissen sind die Anreden an die ferne Tochter mit solch monotoner Präzision über den Text verstreut, dass sie mit hoher Trefferquote vorhersagbar sind. Bei alledem verzichtet Schertenleib durchaus nicht auf kulturkritische Exkurse. Die Einführung der neuen Rechtschreibung betrachtet er ebenso skeptisch wie die Abschaffung des alten Bleisatzes vor etlichen Jahren. Hier spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen des 42-jährigen Autors, der in seiner Jugend selbst eine Lehre zum Schriftsetzer absolvierte. Aber was verbindet die nostalgischen Erinnerungen an ein ausgestorbenes Handwerk mit den bluttriefenden antiklerikalen Gewaltphantasien?
Am Ende muss man es bedauern, dass der duftende Sektenführer Fisnish sich und seine Jünger nicht schon dreihundert Seiten früher aus der Welt geschafft hat. Den unschuldigen Opfern der mörderischen Sekte wie den Lesern des Romans wäre so einiges erspart geblieben.
SABINE DOERING
Hansjörg Schertenleib: "Die Namenlosen". Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2000. 317 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Doering beschreibt kurz und präzise ein paar der interessantesten Morde in diesem Buch (ein Kanarienvogel wird in der Hand zerdrückt!). Sie hält es auch für ein "hübsches Detail", dass der Verlag das blutige Symbol der Priestermörder auf den Buchdeckel geprägt hat. Doch hier endet ihre Toleranzgrenze: Die Geschichte über eine Sekte, die sich darauf spezialisiert hat, katholische Priester abzuschlachten, ist ihr zu blutrünstig, die Figuren seien "unanschaulich" gezeichnet und die sprachliche Sorgfalt lasse zu wünschen übrig. Besonders missbilligt sie, daß sich der Autor auf den "Nervenkitzel" beschränkt, den seine "pralle" Beschreibung der Bluttaten hervorrufe statt ein paar glaubwürdige Motive anzubieten. Hätte Doering nicht so glaubhaft ihre Abscheu vor Gewalt bekundet, wäre man fast versucht, diese Rezension eine kleine Hinrichtung zu nenne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2000Himmelfahrtskommando gegen den Papst
Hansjörg Schertenleib liefert einen fesselnden Thriller zum Heiligen Jahr: „Die Namenlosen”
Gewalt hat viele Kleider. Sie steckt in Uniformen und Straßenanzügen, in Kitteln, Kostümen und unter Soutanen. In seinem neuen Roman Die Namenlosen erzählt Hansjörg Schertenleib die Geschichte einer Frau, deren Kindheit von einem Priester zerstört wurde und die durch das Bett eines Vikars in die Fänge einer Sekte geriet.
Auserwählt, den Papst zu töten, muss sie sich zunächst im Kreis der „Namenlosen” bewähren. Anführer dieser Desperados im Ungeist des Herrn ist der Ire Fisnish. Um Rache an der Kirche zu nehmen, hat die pervertierte Christusfigur eine Schar Verzweifelter um sich versammelt. Fisnish befiehlt ihre Wege und lässt sie quer durch Europa ausziehen, Priester, Mönche und Nonnen das Fürchten zu lehren. Wie seine zum Papstmord auserkorene Christa Notter hat auch ihn Kirchengewalt zunächst zum Opfer, dann zum Täter gemacht. Seine Gefühle hat der emotionslose Killer hinter irischen Klostermauern verloren, als man ihm Gehorsam einbläute und er vergeblich zu begreifen versuchte, warum das Christentum Nächstenliebe predigt und dennoch als Symbol ein Folteropfer wählte. „Kirchen gehören zu den Gebäuden, die von den Regierungen aufgestellt werden, um die Enttäuschung der Massen in Schach zu halten. Genau wie Gerichtsgebäude, Regierungspaläste, Diskotheken und Fußballstadien. ”
Was Fisnish von seinen Getreuen verlangt, ist absoluter Gehorsam und völlige Unterwerfung; was er ihnen zu bieten hat, ist ein finaler Lebensplan, ausgeheckt von einem charismatischen Führer. Man stellt ihm keine Fragen, Fisnish selbst ist die Antwort auf alle Fragen. Wer ihm folgt, braucht sich um nichts zu kümmern, dafür muss er auf Befehl töten und sich vom Führer als Zeichen absoluter Hörigkeit ein Mal in die Fußsohle brennen lassen.
Schmerz ist das, was alle Sektenmitglieder in irgend einer Form von kirchlicher Seite erfahren haben, Schmerz ist das, was sie zusammen hält. Dass Fisnish in Phrasen predigt, erregt dabei keinen Widerspruch. „Uns ist etwas geschehen. Aber nun geschehen wir. ” Askese und Selbstdisziplin trennen den Psychopathen von den ihm hörigen Frauen und Männern, die ihrerseits um jeden Preis bei ihm Halt suchen.
Alle zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb seiner Jünger unterdrückt Fisnish brutal. Mitgefühl, Freundschaft und Liebe sind das einzige, was seinen Plan, Rache zu nehmen, gefährden könnte und schließlich auch scheitern lässt. Zwar ist Christa Notter längst unfähig, ihren Gefühlen für eine Zufallsbekanntschaft zu folgen und mit Erich ein neues Leben anzufangen, dennoch ist sie nach dieser Liebesbeziehung auch nicht mehr willens, das Himmelfahrtskommando auszuführen und den Papst mit einer an ihrem Körper befestigten Bombe zu töten. Sie wird von Fisnish liquidiert.
Hansjörg Schertenleib erzählt die Geschichte der Christa Notter auf drei Ebenen: in Tagebuchaufzeichnungen, in Briefen an ihre Tochter Bernadette und in ergänzenden Einschüben ihres Geliebten, der Bernadette Zenhäuser die Lebensgeschichte ihrer toten Mutter zukommen lässt.
Heimat in ruheloser Heimatlosigkeit, Formen der Gewalt und das Ringen um Macht sind Themen, die Hansjörg Schertenleib sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Hörspielen, Drehbüchern, Erzählungen und Romanen immer wieder beschäftigen. Die Anschaulichkeit seiner Sprache und der Reichtum an nuancierten Beschreibungen und Bildern haben ihn zu einem namhaften Protagonisten der Schweizer Literatur werden lassen, wobei die Psychologie seiner Figuren bewusst holzschnitthaft bleibt. Auch in seinem neuen Roman Die Namenlosen markiert Schertenleib lediglich, wie Bigotterie und unerwiderte Liebe seine Erzählfigur Christa Notter zum Sektenmitglied und zur Mörderin machen. Schertenleib erzählt szenisch und überlässt es dem Leser, aus der Perspektive eines Zuschauers die Charaktere und das Zusammenspiel der Figuren der geschilderten Handlung und der Szenerie zu entnehmen. Dies hat in der Rezeption von Schertenleibs Werk bisweilen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Der 1957 in Zürich geborene und vor einigen Jahren nach Irland ausgewanderte Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer lässt seinen Figuren wie seinen Lesern Spielräume.
Gerade diese Vielschichtigkeit spricht für die Qualität seines Schreibens. So erzählen Die Namenlosen auf mehreren Ebenen von einer Sekte, die sich einem Führergott unterwirft, einer Mutter, der man sofort nach der Geburt ihre Tochter nimmt, und von einer Tochter, deren Mutter in den Freitod getrieben wird. Aus allen drei von Hansjörg Schertenleib raffiniert verknüpften Handlungssträngen ergibt sich ein geheimnisvolles Buch zu Liebe und Gewalt.
MICHAEL BAUER
HANSJÖRG SCHERTENLEIB: Die Namenlosen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 317 S. , 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Hansjörg Schertenleib liefert einen fesselnden Thriller zum Heiligen Jahr: „Die Namenlosen”
Gewalt hat viele Kleider. Sie steckt in Uniformen und Straßenanzügen, in Kitteln, Kostümen und unter Soutanen. In seinem neuen Roman Die Namenlosen erzählt Hansjörg Schertenleib die Geschichte einer Frau, deren Kindheit von einem Priester zerstört wurde und die durch das Bett eines Vikars in die Fänge einer Sekte geriet.
Auserwählt, den Papst zu töten, muss sie sich zunächst im Kreis der „Namenlosen” bewähren. Anführer dieser Desperados im Ungeist des Herrn ist der Ire Fisnish. Um Rache an der Kirche zu nehmen, hat die pervertierte Christusfigur eine Schar Verzweifelter um sich versammelt. Fisnish befiehlt ihre Wege und lässt sie quer durch Europa ausziehen, Priester, Mönche und Nonnen das Fürchten zu lehren. Wie seine zum Papstmord auserkorene Christa Notter hat auch ihn Kirchengewalt zunächst zum Opfer, dann zum Täter gemacht. Seine Gefühle hat der emotionslose Killer hinter irischen Klostermauern verloren, als man ihm Gehorsam einbläute und er vergeblich zu begreifen versuchte, warum das Christentum Nächstenliebe predigt und dennoch als Symbol ein Folteropfer wählte. „Kirchen gehören zu den Gebäuden, die von den Regierungen aufgestellt werden, um die Enttäuschung der Massen in Schach zu halten. Genau wie Gerichtsgebäude, Regierungspaläste, Diskotheken und Fußballstadien. ”
Was Fisnish von seinen Getreuen verlangt, ist absoluter Gehorsam und völlige Unterwerfung; was er ihnen zu bieten hat, ist ein finaler Lebensplan, ausgeheckt von einem charismatischen Führer. Man stellt ihm keine Fragen, Fisnish selbst ist die Antwort auf alle Fragen. Wer ihm folgt, braucht sich um nichts zu kümmern, dafür muss er auf Befehl töten und sich vom Führer als Zeichen absoluter Hörigkeit ein Mal in die Fußsohle brennen lassen.
Schmerz ist das, was alle Sektenmitglieder in irgend einer Form von kirchlicher Seite erfahren haben, Schmerz ist das, was sie zusammen hält. Dass Fisnish in Phrasen predigt, erregt dabei keinen Widerspruch. „Uns ist etwas geschehen. Aber nun geschehen wir. ” Askese und Selbstdisziplin trennen den Psychopathen von den ihm hörigen Frauen und Männern, die ihrerseits um jeden Preis bei ihm Halt suchen.
Alle zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb seiner Jünger unterdrückt Fisnish brutal. Mitgefühl, Freundschaft und Liebe sind das einzige, was seinen Plan, Rache zu nehmen, gefährden könnte und schließlich auch scheitern lässt. Zwar ist Christa Notter längst unfähig, ihren Gefühlen für eine Zufallsbekanntschaft zu folgen und mit Erich ein neues Leben anzufangen, dennoch ist sie nach dieser Liebesbeziehung auch nicht mehr willens, das Himmelfahrtskommando auszuführen und den Papst mit einer an ihrem Körper befestigten Bombe zu töten. Sie wird von Fisnish liquidiert.
Hansjörg Schertenleib erzählt die Geschichte der Christa Notter auf drei Ebenen: in Tagebuchaufzeichnungen, in Briefen an ihre Tochter Bernadette und in ergänzenden Einschüben ihres Geliebten, der Bernadette Zenhäuser die Lebensgeschichte ihrer toten Mutter zukommen lässt.
Heimat in ruheloser Heimatlosigkeit, Formen der Gewalt und das Ringen um Macht sind Themen, die Hansjörg Schertenleib sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Hörspielen, Drehbüchern, Erzählungen und Romanen immer wieder beschäftigen. Die Anschaulichkeit seiner Sprache und der Reichtum an nuancierten Beschreibungen und Bildern haben ihn zu einem namhaften Protagonisten der Schweizer Literatur werden lassen, wobei die Psychologie seiner Figuren bewusst holzschnitthaft bleibt. Auch in seinem neuen Roman Die Namenlosen markiert Schertenleib lediglich, wie Bigotterie und unerwiderte Liebe seine Erzählfigur Christa Notter zum Sektenmitglied und zur Mörderin machen. Schertenleib erzählt szenisch und überlässt es dem Leser, aus der Perspektive eines Zuschauers die Charaktere und das Zusammenspiel der Figuren der geschilderten Handlung und der Szenerie zu entnehmen. Dies hat in der Rezeption von Schertenleibs Werk bisweilen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Der 1957 in Zürich geborene und vor einigen Jahren nach Irland ausgewanderte Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer lässt seinen Figuren wie seinen Lesern Spielräume.
Gerade diese Vielschichtigkeit spricht für die Qualität seines Schreibens. So erzählen Die Namenlosen auf mehreren Ebenen von einer Sekte, die sich einem Führergott unterwirft, einer Mutter, der man sofort nach der Geburt ihre Tochter nimmt, und von einer Tochter, deren Mutter in den Freitod getrieben wird. Aus allen drei von Hansjörg Schertenleib raffiniert verknüpften Handlungssträngen ergibt sich ein geheimnisvolles Buch zu Liebe und Gewalt.
MICHAEL BAUER
HANSJÖRG SCHERTENLEIB: Die Namenlosen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 317 S. , 39,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de