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Die Geschichte der gutbürgerlichen Familie Valades: Jorge, der, eines Putschversuches bezichtigt, im Gefängnis durch Selbstmord endet, der Bruder Fernando, der es zu nichts bringt, die zwei blassen Schwestern Anita und Teresinha und Julieta, die dritte Schwester, die ein Leben lang im Dachboden eingesperrt bleibt, weil sie nicht des Vaters Kind ist. Lobo Antunes schreibt mit diesem Roman eine Geschichte seines Landes fort, in deren Zentrum die Frage nach dem Zusammenhang zwischen patriarchalischer Familie und autoritärem Staat steht. "Eine furiose, auch vor Wut zitternde, vertrackte…mehr

Produktbeschreibung
Die Geschichte der gutbürgerlichen Familie Valades: Jorge, der, eines Putschversuches bezichtigt, im Gefängnis durch Selbstmord endet, der Bruder Fernando, der es zu nichts bringt, die zwei blassen Schwestern Anita und Teresinha und Julieta, die dritte Schwester, die ein Leben lang im Dachboden eingesperrt bleibt, weil sie nicht des Vaters Kind ist. Lobo Antunes schreibt mit diesem Roman eine Geschichte seines Landes fort, in deren Zentrum die Frage nach dem Zusammenhang zwischen patriarchalischer Familie und autoritärem Staat steht. "Eine furiose, auch vor Wut zitternde, vertrackte Liebeserklärung an sein Land und die Weiße Stadt am Tejo - geschrieben mit der 'unendlichen, ekstatischen Barmherzigkeit der Leidenschaft', wie sie nur diesem portugiesischen Lyriker eigen ist." FRANKFURTER RUNDSCHAU
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Der Blödmann, der die Miete zahlt
Alle toten Seelen: Das Panoptikum des portugiesischen Schriftstellers António Lobo Antunes / Von Max Grosse

In einer labyrinthischen Welt scheint der jüngst übersetzte Roman von António Lobo Antunes dem Publikum zunächst einmal ein bißchen Sicherheit zu verheißen. Wenn schon nicht alles, so hat doch wenigstens manches seine Ordnung. Das ist tröstlich zu wissen. Allerdings muß man fast dreihundert Seiten lesen, bevor sich die Ordnung enthüllt und das Rätsel des Titels löst. Erst kurz vor Schluß des Romans wird ausgesprochen, was man schon längst weiß, aber lieber nicht ausdrücklich hören oder lesen möchte: In dem Irrgarten hat die Natur nur einen Ausgang vorgesehen. Der "natürlichen Ordnung der Dinge" entspricht es, wenn bald ein anderer in die Räume einziehen wird, die man zur Zeit noch selber bewohnt. Diese "natürliche Ordnung der Dinge", das ist die Hinfälligkeit, das allmähliche Verwelken des Körpers, das ist der Tod. Auf die Lebensläufe seiner Figuren richtet der Portugiese António Lobo Antunes eine apokalyptische Linse, die ihren Brennpunkt im Sterben hat. Bereits im ersten Satz weht ein Wind vom Friedhof her und treibt dem ersten von insgesamt zehn Erzählern die Stimmen der Toten zu.

Bis auf eine vage Ahnung bleibt die Herkunft dieses nie bei seinem Namen genannten Mannes ihm selbst verborgen; seine wirkliche Identität hat die Familie seiner Mutter stets vor ihm und anderen geheimgehalten. Er ist neunundvierzig Jahre alt, genau wie sein Erfinder zur Zeit der Niederschrift des Romans. Seine Haare schuppen, sein Herz flattert; er wälzt sich ruhelos im Bett und hofft darauf, daß eine Valiumtablette ihm Schlaf verschafft. Bis es soweit ist, vertreibt er sich die Zeit mit Erinnerungen, die er an seine still vor sich hinschlummernde Bettnachbarin Iolanda Oliveira richtet. Da die achtzehnjährige Gymnasiastin an starker Diabetes leidet, verströmt ihre Haut den betörenden Duft von Friedhofsblumen.

Der schüchterne Verehrer lernte sie, über seinen Erkältungszitronentee gebeugt, in einer Vorstadtkonditorei kennen. Bald darauf zog er bei der Familie ein. Das Recht dazu hat er erwirkt, indem er das Mädchen, ihren verrückten Vater Domingos und die ganz in der Sorge um ihre Nierensteine aufgehende Tante Orquídea mit seinem kärglichen Beamtengehalt durchfüttert. Für die Oliveiras gibt er den "Hausclown" ab, den "Blödmann, der die Miete zahlt". Nacht für Nacht widmet er der Schlafenden rauschende Liebeserklärungen, die sie nicht hören kann; engere körperliche Tuchfühlung hat sie sich ohnehin strikt verbeten. Die räumliche Nähe des ungleichen Paares läßt einen Abgrund der Zeiten und Gefühle aufklaffen: "Es bedrückt mich, daß du, die du im Jahr der Revolution in Moçambique geboren bist, die Zeit meiner Jugend nicht verstehen kannst, in der die Männer am Sonntagmorgen die Uniform der Portugiesischen Legion anzogen und durch die Straßen von Lissabon marschierten, es besorgt mich, denn es entfernt dich von mir, die du die Prozessionen, die Hymnen, die Reden, die Cafés nicht gekannt hast, in denen sich Uniformierte drängten, die, um Cognacgläser versammelt, kriegerische Lieder brüllten, während die Beamten der Politischen Polizei verdächtige Kommunisten in kleine Heftchen notierten."

Ernesto da Conceiçâo Portas, der zweite Erzähler, war einer dieser beflissenen Mitarbeiter der Pide, der berüchtigten Geheimpolizei unter der Salazar-Diktatur. Nun lebt er in einem heruntergekommenen Stundenhotel zur Untermiete und vergeht als vermeintliches "Opfer" der Nelkenrevolution fast vor Selbstmitleid. Um seinen Unterhalt zu sichern, entwickelt er Hypnose-Fernkurse für das Selbststudium, schickt die Mulattin Lucília auf den Strich und nimmt einen sonst nicht weiter in Erscheinung tretenden Schriftsteller aus. Dieser hat ihm nämlich aufgetragen, den Mann zu beschatten, der bei Iolanda schläft. Wenn Antunes damit die Geburt des Romans aus dem Geiste der Stasi-Unterlagen andeutet, dann treibt er sein sarkastisches Spiel mit den hehren Verfahren der Fiktionsironie und der künstlerischen Selbstreflexion, die im modernen Roman mittlerweile so selbstverständlich sind wie das Ave-Maria beim Rosenkranz.

Bei seinen Nachforschungen freundet sich Portas ausgerechnet mit Iolandas Vater an, der einstmals in einem afrikanischen Bergwerk unter Tage eingefahren ist. Jetzt kann er nur noch die Abwasserleitungen seiner Straße anhacken, um das Gefühl zu bekommen, schwarze Hilfsarbeiter zu befehligen. Es bleibt nicht aus, daß die Jauche aus der Kanalisation quillt und gleich das ganze Armenviertel überschwemmt. Als Hypnose-Guru blickt auch Portas auf einschlägige Erfahrungen im Kampf gegen die Schwerkraft zurück: Mit Turban und Rubin ausgestattet, erhebt er sich in die Lüfte.

Das Flug- und Fluchtmotiv kehrt regelmäßig in der Gestalt der Vögel wieder, die den Roman durchflattern - ein Rabe, ein Albatros, zahlreiche Tauben und Störche. Ebenfalls Erlösung von der Bodenhaftung verspricht das Wasser, sei es nun durch die trägen Fluten des allgegenwärtigen Tejo oder die Brandung des herbeigesehnten Meeres. Die menschlichen Gestalten fliegen unter- oder überirdisch, lassen sich im Wasser treiben, dämmern im Halbschlaf dahin, nur mit beiden Beinen auf der Erde steht niemand, und so recht bei Trost ist eigentlich auch keiner.

Fast könnte man meinen, der Autor bitte seine Leser in ein Panoptikum; der groteske Plan des Arztes von Dona Orquídea, seine nierensteingeplagte Patientin als "Marmorfrau" auf dem Jahrmarkt vorzuführen, scheint auf ein solches Kuriositätenkabinett hinzudeuten. Nur liegt der Unterschied zwischen Schriftstellerei und Schaustellerei darin, daß im Roman kein Podium, keine Gitterstäbe und kein Manegenrund den Betrachter vom Gegenstand seiner Neugierde trennen. Vielmehr wird die Einbildungskraft des Lesers gezwungen, sich nacheinander das durch leibliches wie seelisches Leiden gestörte Körpergefühl und die durch Wahnvorstellungen wie Leidenschaften verzerrte Weltsicht der einzelnen Ich-Erzähler ganz zu eigen zu machen, also gewissermaßen von innen heraus nachzuvollziehen. Denn António Lobo Antunes strebt genau das an, was Arno Schmidt "die möglichst genaue Wiedergabe von Gehirnvorgängen vermittels besonderer Anordnung von Prosaelementen" genannt hat.

So umkreisen zum Beispiel Dona Orquídeas Erinnerungen zwanghaft das Trauma ihrer Entjungferung, zwischen Zistrosensträuchern in einem Wanderkino am Strand von Esposende: ". . . und ich bin in Esposende vor sechsunddreißig Jahren, Freitag nacht, das Wasser ist vier oder fünf Meter von mir entfernt, und der Film vermischt sich mit dem Meer und den Trauerweiden und den Kiefern und dem Wind, dem Wind von Esposende, der in den Dünen Sand gegen die Fischerboote treibt, ich liege in Esposende, Esposende mit offenem Leib, fließendem Blut, schaukele im Rhythmus der Gezeiten . . ." Dem Bewußtseinsstrom entsprechen nicht nur die Dünung des Meeres und das Verschwimmen der Körpergrenzen, sondern auch der Satzbau. An einer solchen Stelle muß selbst eine so großartige Übersetzerin wie Maralde Meyer-Minnemann Kompromisse eingehen, eben weil ihr die Regeln der deutschen Grammatik eine wirkliche Entsprechung verbieten. Denn im Portugiesischen verzichtet Antunes hier völlig auf finite Verbformen und hält die Gedanken seiner Heldin allein mit Infinitiven und Partizipien im Fluß. So drängt der obsessive Bewußtseinsinhalt noch weiter in den Vordergrund, während die zeitliche Fixierung des Geschehens ausgeblendet wird.

Kunstvoll verknüpft Antunes die Wahnmonologe der verschiedenen Erzähler miteinander, wiederholt und variiert einzelne Motive, dreht sein Kaleidoskop immer um ein paar Grad weiter, so daß die Scherben der Erinnerung in neuen Symmetrien auffunkeln. Allmählich entwirrt sich das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren. Aus dem Mosaik der wechselnden Beobachterstandpunkte tritt uns das Bild der großbürgerlichen Familie Valadas entgegen - ihrer Lügen, ihrer Geheimnisse, ihres Elends. Ein Valadas ist auch der anonyme erste Erzähler, nur eben als unehelicher Sohn der geistesgestörten Julieta, die ihrerseits einem Seitensprung ihrer Mutter mit einem rothaarigen Fremden entstammt, ein doppelt illegitimer.

Der betrogene Ehemann Alvaro Valadas, ein hoher Offizier, hatte Julieta zur Unperson erklärt, damit der Fleck auf der Familienehre nicht ruchbar werde. Sie vegetiert auf dem Dachboden der Villa im Lissabonner Vorort Benfica dahin, ohne Ansprache, ohne Ausbildung, ohne Zuneigung. Ihr Halbbruder Fernando ignoriert sie vollständig; so kann er, auf den der Vater wegen Unfähigkeit und "Hang zum Personal" herabsieht, die Verachtung wenigstens einmal weitergeben. Zum Entsetzen seiner Verwandtschaft heiratet er später ein analphabetisches Dienstmädchen und genießt "Küsse, die nach Pottasche und in Öl gedünsteten Zwiebeln rochen". Jorge Valadas dagegen besucht die Militärakademie, bringt es im Heer bis zum Major und findet auch Anklang bei den jungen Damen der Gesellschaft, bis, ja bis er im Jahre 1950 wegen Hochverrats verhaftet wird. Als überzeugter Demokrat hat er sich an einer Verschwörung gegen den autoritären Ständestaat beteiligt, wird denunziert und gerät in die Fänge der Geheimpolizei.

In vier atemraubenden Kapiteln erleben wir mit, wie Schläge und Elektroschocks bei Jorge zunächst überscharfe Erinnerungsbilder hervorbringen, die noch als Geständnisse zu werten sind - allerdings gesteht er nicht in erster Linie politische Subversion, sondern familiäre Schande. Dann spaltet sich die Persönlichkeit unter den Schmerzen der Folter in einzelne Erinnerungsbündel auf. Halluzinationen überwuchern die Erfahrungsbruchstücke; Jorge fühlt sich von Schaufensterpuppen verfolgt. Schließlich wird er in die Freiheit entlassen, nur um "die Reise nach China" antreten zu können, das heißt, Selbstmord durch Ertrinken im Meer zu begehen.

António Lobo Antunes führt uns in eine Welt der Gewalt und der Willkür, des Muffs und des Ekels. Doch seine grotesken und bizarren Szenerien sind immer auch von Fluchtlinien durchzogen, die auf das Glück der Erinnerung, die Schönheit der Sprache und gelegentliche Augenblicke gegenseitiger Zuneigung zulaufen. Bei aller Vorliebe für Ironie und schwarzen Humor denunziert Antunes seine Figuren nicht, sondern verleiht ihnen die Macht des Wortes, über die sie, existierten sie in der Wirklichkeit, nicht verfügen würden. Einem Roman wie "Die natürliche Ordnung der Dinge", der eine raffinierte Handlungsarchitektur mit genauester Wahrnehmung und unerschöpflicher sprachlicher Bilderfindung verbindet, wird keine Zusammenfassung gerecht, vielleicht aber die wiederholte Lektüre.

António Lobo Antunes: "Die natürliche Ordnung der Dinge". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 344 Seiten, geb., 45,- DM.

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"Eine furiose, auch vor Wut zitternde, vertrackte Liebeserklärung an sein Land und die Weiße Stadt am Tejo - geschrieben mit der unendlichen, ekstatischen Barmherzigkeit der Leidenschaft, wie sie nur diesem portugiesischen Lyriker eigen ist." (Framkfurter Runschau)