Was ist der Hintergrund des Aufruhrs in der arabischen Welt? Woher kommt der Zorn der jungen Männer? Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Phänomen vergleicht Heiner Mühlmann die arabische mit der europäischen Kultur und kommt zu eindeutigen Ergebnissen: Es ist die Übermacht der Männer im Alter von 15 bis 29 Jahren, deren Aggressionspotential durch die generationenübergreifende arabische Sexualmoral angefacht wird. Dieses Aggressionspotential scheint messbar, seine Folgen determiniert zu sein. Der Vergleich führt aber auch zu interessanten Erkenntnissen über die europäische Kultur. Gerade weil die Europäer sich selbst für aggressionslos halten, ist ihre Aggressivität heimtückischer. Besonders auffällig ist, dass die arabisch-islamische Aggressivität die Erscheinung der individuellen Tugend hat, dass dagegen die europäische Aggressivität institutionell funktioniert. Sie steckt nicht in den Europäern selbst, sondern in der Struktur ihrer Staatseinrichtungen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2012Kulturtheorie im Eskalationsstil
Alles gleich von Dubai bis Rabat: Heiner Mühlmann deduziert sich arabische Besonderheiten
Was trieb die arabischen Nationen an, der Reihe nach ihre Potentaten zu stürzen? Antwort der Demographie: das aggressive Potential einer großen Zahl junger Männer, die sich von einer geringen Zahl älterer Männer von Macht, Arbeit, Anerkennung ausgeschlossen fühlten. So schrieb es der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 4. Feburar 2011). So schreibt es Heiner Mühlmann in seinem Buch "Die Natur der arabischen Kultur".
Mühlmann geht es am Beispiel der arabischen Revolutionskaskade aber um eine prinzipielle Frage. Was treibt Kultur auf der tiefsten Ebene an? Der Karlsruher Kulturtheoretiker hat dies in seinem letzten Buch, "Die Natur der Kultur", mit einer genetischen Kulturtheorie vom niederen Ursprung her zu beantworten versucht. Kultur ist in dieser Lesart nicht freie Schöpfung, sondern Stressgeburt. Die Bewältigung eines großen Schocks, eines Kriegs, einer Revolution, einer Naturkatastrophe ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Kulturformen. Rituale, Institutionen, Gemeinsinn sind in aufsteigender Linie die Formen, mit denen das Ekstatische ins Gewöhnliche übersetzt wird. Kultureller Fortschritt imitiert das Muster der natürlichen Evolution, als ein Satz von Verhaltensregeln, die sich vererben.
Dass Kultur vererbt wird, ist geläufige metaphorische Rede. Mühlmann sucht einen dichten Nexus. Er ist schnell in der Aneignung naturwissenschaftlicher Theorien. Sein Modell stützt sich auf Annahmen der Neuroforschung und bedient das Reservoir vererbter kognitiver Module, die unter Selektionsdruck entstehen und durch individuelles Lernen ontogenetisch scharf gemacht werden. Wie von hier auf eine Weitergabe kultureller Regeln im Sinne biologischer Vererbung geschlossen werden kann, ist der graue Punkt seiner Theorie. Kaum stärker begründet ist der weitergehende Schluss von diesen kulturellen Wahrnehmungsmustern auf politische und gesellschaftliche Denkkategorien. Es liegt einem gelegentlich die Frage des Satirikers Martin Sonneborn auf der Zunge, ob die arabische Kultur dominant-rezessiv vererbt werde. Neben den kognitiven Modulen nennt Mühlmann das Archeritual als intellektuell wenig differenzierte, aber evolutionär tief verankerte mythologische Form der Stressbewältigung. Als Drittes kommt der Common Sense hinzu, den Demokratien relativ kurzfristig mobilisieren können.
Dieses dreiphasige Modell soll den öst-westlichen Kulturvergleich strukturieren. Der Maßstab ist die Instinktnähe. Hier wird es heikel. Auf dem langen Weg nach oben sieht Mühlmann die Araber nicht so weit gekommen wie den Westen. Die wenig institutionalisierte arabische Kultur sei die homogenere, biologisch stärker determinierte Kultur als der Westen. Araber seien einander über einen weit gestreckten Raum ähnlicher, ihre Sexualmoral trage dazu bei, dass sich diese Homogenität fortsetzt, deshalb erfordere die Formung ihrer Kulturgemeinschaft einen geringeren kognitiven Aufwand. Das ideologische Kapital, das in solchen Thesen steckt, lässt sich leicht erkennen. Eine chauvinistische Sicht ist Mühlmann zwar nicht zu unterstellen, es geht ihm um die Schwächen beider Kulturen, nicht um eine Hierarchie. Der aggressive, selbstgewisse Duktus und die mit biologischem Vokabular durchsetzte Theoriesprache tragen jedoch wenig zur Entschärfung bei und führen mehrfach zu unglücklichen Formulierungen, wie der, Araber seien auf Dschihad und Scharia programmiert.
Es fügt sich in das grobkörnige Bild, das von der arabischen Welt gezeichnet wird: eine Kultur, geeint von einer gemeinsamen Sprache, einer patronalen Sexualmoral, einem zinslosen, eng an die Realwirtschaft gebundenen Finanzsystem und einer religiös motivierten Kriegsführung - kurz: von einem tief verwurzelten Tugendsystem, das sich nicht immer tugendhaft geriere und das Ritus und Instinkt näher stünde als die westliche Kultur, die ihre Aggressivität an Institutionen und Technologien ausgelagert habe. Die Tücke des Westens ist demnach verdeckter. Er hat gelernt, den Krieg ohne Gott zu denken, und er hat das teuflische System des Finanzkapitalismus entwickelt, das allen voran die Vereinigten Staaten als klandestine Waffe im Minenfeld der Weltpolitik verwenden: Finanzblasen erzeugen und beim Feind platzen lassen. So bringt Mühlmann auch seinen starken antiamerikanischen Affekt unter. Der Praxistest seiner Kulturtheorie ist durchzogen von einer Reihe überspitzter politischer Thesen.
Überhaupt liebt dieser Autor die starke These und die Übertreibung des isolierten Motivs. Seine Methode des Kulturvergleichs ist der Extremalismus, die Unterscheidung der Kulturen durch die extreme Verschiedenheit eines Merkmals. Die Folge ist die Darstellung durchs verallgemeinerte Extrem. Die Kulturen sind in dieser Matrix seltsam statische Gebilde. Von Dubai bis Rabat scheint alles gleich. Für Binnendifferenzen und gegenseitige Durchdringung bleibt kein Spielraum. Der archetypische Bezug, schreibt Mühlmann, sei in der arabischen Kultur immer stärker als die institutionelle Prägung. Deshalb werde den Arabern der Übergang zur Demokratie schwerfallen. Nationalstaatliche Gebilde seien ihnen fremd geblieben. Der Weg zum Gottesstaat sei kürzer.
Auch dem Westen ist das Scheitern eingeschrieben: Demokratie heiße Schuldenhypotheken heiße Finanzblasen heiße Zusammenbruch. Das ist der Duktus, in dem Mühlmann folgert. Es passt zu seinem Eskalationsstil, dass er erst in der Katastrophe beider Kulturen, dem Zurückfallen auf den gemeinsamen Boden ihrer Archerituale, die Möglichkeit einer Annäherung sieht. Die unterschiedlichen Bevölkerungsdynamiken würden dafür sorgen, dass sich der Kreis schließt. Die arabische Sexualmoral schaffe den generativen Überdruck, der sich als Emigration ins reproduktionsmüde Europa entlädt.
Die arabische Kultur ist für Mühlmann leichtes Reisegepäck, ihre konforme Ausrichtung nach Mekka gibt ihr einen universalen, nomadischen Zug. Jeder trägt sie in sich, während das kulturelle Gedächtnis des Westens in Institutionen abgelegt ist. Daher hat sie es leicht, sich auf fremdem Terrain zu behaupten. Für das Szenario des Kulturkampfs auf europäischem Boden verzichtet Mühlmann auf die dem Darwinismus entliehene Aggressivität und unterbreitet Vorschläge zur Güte: Der Westen könnte sein Finanzsystem nach islamischem Vorbild zähmen, die arabische Kultur die Gleichberechtigung entdecken. Einer genetischen Ableitung bedarf es in diesem Fall nicht.
THOMAS THIEL
Heiner Mühlmann: "Die Natur der arabischen Kultur".
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011. 152 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles gleich von Dubai bis Rabat: Heiner Mühlmann deduziert sich arabische Besonderheiten
Was trieb die arabischen Nationen an, der Reihe nach ihre Potentaten zu stürzen? Antwort der Demographie: das aggressive Potential einer großen Zahl junger Männer, die sich von einer geringen Zahl älterer Männer von Macht, Arbeit, Anerkennung ausgeschlossen fühlten. So schrieb es der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 4. Feburar 2011). So schreibt es Heiner Mühlmann in seinem Buch "Die Natur der arabischen Kultur".
Mühlmann geht es am Beispiel der arabischen Revolutionskaskade aber um eine prinzipielle Frage. Was treibt Kultur auf der tiefsten Ebene an? Der Karlsruher Kulturtheoretiker hat dies in seinem letzten Buch, "Die Natur der Kultur", mit einer genetischen Kulturtheorie vom niederen Ursprung her zu beantworten versucht. Kultur ist in dieser Lesart nicht freie Schöpfung, sondern Stressgeburt. Die Bewältigung eines großen Schocks, eines Kriegs, einer Revolution, einer Naturkatastrophe ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Kulturformen. Rituale, Institutionen, Gemeinsinn sind in aufsteigender Linie die Formen, mit denen das Ekstatische ins Gewöhnliche übersetzt wird. Kultureller Fortschritt imitiert das Muster der natürlichen Evolution, als ein Satz von Verhaltensregeln, die sich vererben.
Dass Kultur vererbt wird, ist geläufige metaphorische Rede. Mühlmann sucht einen dichten Nexus. Er ist schnell in der Aneignung naturwissenschaftlicher Theorien. Sein Modell stützt sich auf Annahmen der Neuroforschung und bedient das Reservoir vererbter kognitiver Module, die unter Selektionsdruck entstehen und durch individuelles Lernen ontogenetisch scharf gemacht werden. Wie von hier auf eine Weitergabe kultureller Regeln im Sinne biologischer Vererbung geschlossen werden kann, ist der graue Punkt seiner Theorie. Kaum stärker begründet ist der weitergehende Schluss von diesen kulturellen Wahrnehmungsmustern auf politische und gesellschaftliche Denkkategorien. Es liegt einem gelegentlich die Frage des Satirikers Martin Sonneborn auf der Zunge, ob die arabische Kultur dominant-rezessiv vererbt werde. Neben den kognitiven Modulen nennt Mühlmann das Archeritual als intellektuell wenig differenzierte, aber evolutionär tief verankerte mythologische Form der Stressbewältigung. Als Drittes kommt der Common Sense hinzu, den Demokratien relativ kurzfristig mobilisieren können.
Dieses dreiphasige Modell soll den öst-westlichen Kulturvergleich strukturieren. Der Maßstab ist die Instinktnähe. Hier wird es heikel. Auf dem langen Weg nach oben sieht Mühlmann die Araber nicht so weit gekommen wie den Westen. Die wenig institutionalisierte arabische Kultur sei die homogenere, biologisch stärker determinierte Kultur als der Westen. Araber seien einander über einen weit gestreckten Raum ähnlicher, ihre Sexualmoral trage dazu bei, dass sich diese Homogenität fortsetzt, deshalb erfordere die Formung ihrer Kulturgemeinschaft einen geringeren kognitiven Aufwand. Das ideologische Kapital, das in solchen Thesen steckt, lässt sich leicht erkennen. Eine chauvinistische Sicht ist Mühlmann zwar nicht zu unterstellen, es geht ihm um die Schwächen beider Kulturen, nicht um eine Hierarchie. Der aggressive, selbstgewisse Duktus und die mit biologischem Vokabular durchsetzte Theoriesprache tragen jedoch wenig zur Entschärfung bei und führen mehrfach zu unglücklichen Formulierungen, wie der, Araber seien auf Dschihad und Scharia programmiert.
Es fügt sich in das grobkörnige Bild, das von der arabischen Welt gezeichnet wird: eine Kultur, geeint von einer gemeinsamen Sprache, einer patronalen Sexualmoral, einem zinslosen, eng an die Realwirtschaft gebundenen Finanzsystem und einer religiös motivierten Kriegsführung - kurz: von einem tief verwurzelten Tugendsystem, das sich nicht immer tugendhaft geriere und das Ritus und Instinkt näher stünde als die westliche Kultur, die ihre Aggressivität an Institutionen und Technologien ausgelagert habe. Die Tücke des Westens ist demnach verdeckter. Er hat gelernt, den Krieg ohne Gott zu denken, und er hat das teuflische System des Finanzkapitalismus entwickelt, das allen voran die Vereinigten Staaten als klandestine Waffe im Minenfeld der Weltpolitik verwenden: Finanzblasen erzeugen und beim Feind platzen lassen. So bringt Mühlmann auch seinen starken antiamerikanischen Affekt unter. Der Praxistest seiner Kulturtheorie ist durchzogen von einer Reihe überspitzter politischer Thesen.
Überhaupt liebt dieser Autor die starke These und die Übertreibung des isolierten Motivs. Seine Methode des Kulturvergleichs ist der Extremalismus, die Unterscheidung der Kulturen durch die extreme Verschiedenheit eines Merkmals. Die Folge ist die Darstellung durchs verallgemeinerte Extrem. Die Kulturen sind in dieser Matrix seltsam statische Gebilde. Von Dubai bis Rabat scheint alles gleich. Für Binnendifferenzen und gegenseitige Durchdringung bleibt kein Spielraum. Der archetypische Bezug, schreibt Mühlmann, sei in der arabischen Kultur immer stärker als die institutionelle Prägung. Deshalb werde den Arabern der Übergang zur Demokratie schwerfallen. Nationalstaatliche Gebilde seien ihnen fremd geblieben. Der Weg zum Gottesstaat sei kürzer.
Auch dem Westen ist das Scheitern eingeschrieben: Demokratie heiße Schuldenhypotheken heiße Finanzblasen heiße Zusammenbruch. Das ist der Duktus, in dem Mühlmann folgert. Es passt zu seinem Eskalationsstil, dass er erst in der Katastrophe beider Kulturen, dem Zurückfallen auf den gemeinsamen Boden ihrer Archerituale, die Möglichkeit einer Annäherung sieht. Die unterschiedlichen Bevölkerungsdynamiken würden dafür sorgen, dass sich der Kreis schließt. Die arabische Sexualmoral schaffe den generativen Überdruck, der sich als Emigration ins reproduktionsmüde Europa entlädt.
Die arabische Kultur ist für Mühlmann leichtes Reisegepäck, ihre konforme Ausrichtung nach Mekka gibt ihr einen universalen, nomadischen Zug. Jeder trägt sie in sich, während das kulturelle Gedächtnis des Westens in Institutionen abgelegt ist. Daher hat sie es leicht, sich auf fremdem Terrain zu behaupten. Für das Szenario des Kulturkampfs auf europäischem Boden verzichtet Mühlmann auf die dem Darwinismus entliehene Aggressivität und unterbreitet Vorschläge zur Güte: Der Westen könnte sein Finanzsystem nach islamischem Vorbild zähmen, die arabische Kultur die Gleichberechtigung entdecken. Einer genetischen Ableitung bedarf es in diesem Fall nicht.
THOMAS THIEL
Heiner Mühlmann: "Die Natur der arabischen Kultur".
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011. 152 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Thiel stört sich gewaltig an den überspitzten Thesen, die Heiner Mühlmann in seinem Buch “Die Natur der arabischen Kultur" darlegt. Der Karlsruher Kulturtheoretiker versucht sich in einer “genetischen Kulturtheorie", die von naturwissenschaftlichen Grundsätzen der Neurowissenschaft und der Genetik ausgehend auf kulturelle Prägung zu schließen sucht. Schon hier sieht der Rezensent einen “grauen Punkt" in der Argumentation, noch schwieriger wird es, wenn der Autor von dort auf “politische und gesellschaftliche Denkkategorien" kommt. Auch Mühlmanns Beurteilung der arabischen Kultur als der weniger weit entwickelten im Vergleich zum Westen, erscheint Thiel problematisch. Trotzdem hat er mit so steilen Thesen, nach denen alle Araber auf Dschihad und Scharia gepolt seien, während der Westen sein “teuflisches Finanzsystem" als Waffe verwende, seine Mühe. “Binnendifferenzierung und gegenseitige Durchdringung" der Systeme sind jedenfalls Mühlmanns Sache nicht, erkennt Thiel, der sich mit dem “Eskalationsstil" des Autors nicht anfreunden kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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