Viele Menschen wissen heute von den jüdischen und politischen Opfern des Nationalsozialismus, eventuell auch von der NS-Verfolgung der Homosexuellen sowie der Sinti und Roma. Weithin unbekannt ist aber die sozialrassistische Verfolgung derer, die die Nationalsozialisten für genetisch verdorbene und deshalb »auszumerzende« Menschen, für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« hielten und sie deshalb als Häftlinge mit dem grünen oder schwarzen Winkel, einem Stoffdreieck auf der linken Brustseite der gestreiften Häftlingskleidung, in die Konzentrationslager sperrten. Dieses Buch beschreibt nicht nur eindringlich die historischen und politischen Hintergründe sowie die Verfolgung dieser Menschen im Nationalsozialismus, sondern stellt auch dar, warum sie in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang von jeder moralischen und rechtlichen Anerkennung ausgeschlossen wurden - bis der Deutsche Bundestag sie 2020 mit 70jähriger Verspätung als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannte. In bewegenden Darstellungen von mehr als zwanzig Nachkommen, die die Geschichte ihres jeweiligen Vorfahren erzählen, werden erstmals in der erinnerungskulturellen Publikationsgeschichte die Biografien einzelner Verfolgter vorgestellt - es zeigt sich, wie das Trauma der verleugneten Opfer bis heute in den Familien wirkt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Leonie Feuerbach lobt die Nähe, die der Herausgeber Frank Nonnenmacher in seinem Band zu den NS-Verfolgten herstellt, indem er ihre Nachfahren mit "größtmöglicher Freiheit" ihre Geschichte erzählen lässt. Die ein oder andere Wiederholung nimmt Feuerbach dafür in Kauf. So unmittelbar wirken die Einzelschicksale der sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher", die in den KZs der Nazis starben, auf Feuerbach auch als Mahnung angesichts des aktuellen Antisemitismus und des Erstarkens der AfD.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2024"Da redet man nicht darüber"
Ein Sammelband erzählt die Lebensgeschichten vergessener NS-Verfolgter
Eines Nachts im Zweiten Weltkrieg stahl die Österreicherin Anna Bunger Milchflaschen und Decken für ihre Kinder. Bunger, eine bitterarme Frau, war unverheiratet Mutter geworden und schon zuvor beim Betteln und Stehlen erwischt worden. Damit galt sie den Nazis als "Wiederholungstäterin" und "Volksschädling". Sie wurde denunziert, verhaftet und ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Dort musste sie einen schwarzen Winkel tragen, der sie als "Asoziale" brandmarkte. Nach zwei Jahren kam sie dort ums Leben - laut Totenschein durch eine Lungentuberkulose, laut Berichten von Augenzeuginnen durch eine Giftspritze. Ihre Enkelin Siegrid Fahrecker hat die tragische Lebensgeschichte der Großmutter rekonstruiert. Bungers ist eine von zwanzig Verfolgungsgeschichten in dem lesenswerten Buch "Die Nazis nannten sie ,Asoziale' und ,Berufsverbrecher'".
Armut und abweichendes Verhalten wurden schon im Kaiserreich kriminalisiert. Im Nationalsozialismus entwickelte sich dann die Vorstellung, kriminelles Verhalten sei genetisch bedingt und vererbbar. Schon 1933 schafften die Nazis mit dem "Gewohnheitsverbrechergesetz" und der "polizeilichen Vorbeugehaft" gesetzliche Grundlagen dafür, mehrfach Vorbestrafte unbegrenzt wegzusperren, ohne dass sie eine weitere Straftat begangen hätten. Einige Jahre später genügte es, sich vermeintlich "asozial" zu verhalten oder auf der Straße oder in Obdachlosenheimen aufgegriffen zu werden, um im KZ zu landen. Zehntausende Wanderarbeiter, Prostituierte, Obdachlose, Bettlerinnen und Kleinkriminelle kamen dort ums Leben. In der jungen Bundesrepublik galten sie nicht als NS-Opfer, hatten keinen Anspruch auf Entschädigung. Betteln blieb noch bis Mitte der Siebzigerjahre strafbar. Erst 2020 stellte der Bundestag in einem Beschluss fest: "Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet." All das schildert das Buch knapp in den ersten beiden Kapiteln und gibt anschließend den Lebensgeschichten der Verfolgten Raum.
Erzählt werden sie alle von Angehörigen, die dafür in Gedenkstätten und Archiven recherchiert haben. Siegrid Fahrecker etwa besuchte mehrmals das KZ Ravensbrück, um mehr über ihre Großmutter zu erfahren. Einmal war sie mit ihrer Mutter dort. Als Fahrecker vor einem Massengrab österreichischer Opfer eine Personengruppe ansprechen wollte, sagte die Mutter zu ihr: "Nein, das können wir nicht machen, wir sind doch von den Asozialen, da redet man nicht darüber." Nicht etwa Wut oder Trauer, sondern Scham war bei vielen Hinterbliebenen das vorherrschende Gefühl. Einige der Enkel, Nichten und Großneffen schildern, wie diese Scham Aufarbeitung verhinderte und Familien zerriss.
So war es auch in der Familie von Anke Schulte. Ihr Großvater Wilhelm Schledorn kehrte verwundet und traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Er fand nicht zurück ins zivile Leben, wurde mehrmals beim Stehlen erwischt, kam ins Gefängnis. Dort wollten die Beamten "keine Gewähr für künftiges Wohlverhalten" erkennen. Deshalb wurde er nach Absitzen der Strafe Anfang 1941 zur "polizeilichen Vorbeugehaft" ins KZ Sachsenhausen gebracht, wo ihn ein grüner Winkel als "Berufsverbrecher" kennzeichnete. Im Herbst 1941 wurde er ins KZ Niederhagen-Wewelsburg verlegt. Dort starb er im Winter desselben Jahres, angeblich an "Körperschwäche". Seine Frau, Schultes Großmutter, ließ sich nach der Verschleppung ihres Mannes mit einem polnischen Zwangsarbeiter ein und landete dafür als "Asoziale" im KZ Ravensbrück, wo sie 1943 verstarb.
Schultes Mutter drängte sie dazu, nichts über die Großeltern väterlicherseits zu erzählen, "es könne ja etwas hängen bleiben". Liefen Dinge in der Familie nicht wie von ihr gewünscht, schob die Mutter das manchmal auf das "Verbrecher-Gen", das ihre Kinder angeblich vom Großvater geerbt hätten. Die Ehe der Eltern zerbrach irgendwann auch am Umgang der Mutter mit dem Schicksal ihrer Schwiegereltern. Erst mit seiner zweiten Frau besuchte Schultes Vater den Ort, an dem sein Vater ums Leben gekommen war. In der Folge begann er, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren: als Gewerkschafter und Personalrat, im Sportverein und im Rat der Stadt, in die er mit seiner neuen Frau zog.
Herausgegeben hat all diese Geschichten Frank Nonnenmacher, emeritierter Professor der Didaktik der politischen Bildung und selbst Neffe eines Mannes, den die Nazis als "Berufsverbrecher" in den KZ Flossenbürg und Sachsenhausen quälten. Eine Petition Nonnenmachers führte zu dem Bundestagsbeschluss zu den KZ-Häftlingen mit grünem und schwarzem Winkel. Anfang 2023 gründete Nonnenmacher den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus", Ende 2023 bekam er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Die im Buch versammelten Geschichten können vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Übergriffe und Rekordumfragewerte für die in weiten Teilen rechtsextreme AfD nicht nur als Zeugnisse der Vergangenheit, sondern auch als Mahnung gelesen werden. Dafür plädiert auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrem Vorwort. Sie schreibt, der Sammelband schärfe das Bewusstsein für Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung und konfrontiere die Leser mit dem, "was möglich war - und möglich bleibt".
Die Nacherzählungen der Einzelschicksale machen das Buch aus. Manche Nachkommen bemühen sich um eine gewisse Wissenschaftlichkeit, andere formulieren subjektiv und emotional. Nicht alle Nachkommen schreiben gleich stringent. Einiges, etwa der lange Weg zum Bundestagsbeschluss von 2020, wiederholt sich. Das kann man als Schwäche des Bands betrachten, muss es aber nicht. Offenbar sollten die Nachkommen größtmögliche Freiheit haben bei der Schilderung der Verfolgung ihrer Vorfahren. Dadurch meint man, sie beim Lesen geradezu reden zu hören. Ihre Geschichten wirken so ganz nah - und damit tut das auch die Geschichte. LEONIE FEUERBACH
Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie "Asoziale und Berufsverbrecher": Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik.
Campus Verlag, Frankfurt 2024. 372 S., 29,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Sammelband erzählt die Lebensgeschichten vergessener NS-Verfolgter
Eines Nachts im Zweiten Weltkrieg stahl die Österreicherin Anna Bunger Milchflaschen und Decken für ihre Kinder. Bunger, eine bitterarme Frau, war unverheiratet Mutter geworden und schon zuvor beim Betteln und Stehlen erwischt worden. Damit galt sie den Nazis als "Wiederholungstäterin" und "Volksschädling". Sie wurde denunziert, verhaftet und ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Dort musste sie einen schwarzen Winkel tragen, der sie als "Asoziale" brandmarkte. Nach zwei Jahren kam sie dort ums Leben - laut Totenschein durch eine Lungentuberkulose, laut Berichten von Augenzeuginnen durch eine Giftspritze. Ihre Enkelin Siegrid Fahrecker hat die tragische Lebensgeschichte der Großmutter rekonstruiert. Bungers ist eine von zwanzig Verfolgungsgeschichten in dem lesenswerten Buch "Die Nazis nannten sie ,Asoziale' und ,Berufsverbrecher'".
Armut und abweichendes Verhalten wurden schon im Kaiserreich kriminalisiert. Im Nationalsozialismus entwickelte sich dann die Vorstellung, kriminelles Verhalten sei genetisch bedingt und vererbbar. Schon 1933 schafften die Nazis mit dem "Gewohnheitsverbrechergesetz" und der "polizeilichen Vorbeugehaft" gesetzliche Grundlagen dafür, mehrfach Vorbestrafte unbegrenzt wegzusperren, ohne dass sie eine weitere Straftat begangen hätten. Einige Jahre später genügte es, sich vermeintlich "asozial" zu verhalten oder auf der Straße oder in Obdachlosenheimen aufgegriffen zu werden, um im KZ zu landen. Zehntausende Wanderarbeiter, Prostituierte, Obdachlose, Bettlerinnen und Kleinkriminelle kamen dort ums Leben. In der jungen Bundesrepublik galten sie nicht als NS-Opfer, hatten keinen Anspruch auf Entschädigung. Betteln blieb noch bis Mitte der Siebzigerjahre strafbar. Erst 2020 stellte der Bundestag in einem Beschluss fest: "Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet." All das schildert das Buch knapp in den ersten beiden Kapiteln und gibt anschließend den Lebensgeschichten der Verfolgten Raum.
Erzählt werden sie alle von Angehörigen, die dafür in Gedenkstätten und Archiven recherchiert haben. Siegrid Fahrecker etwa besuchte mehrmals das KZ Ravensbrück, um mehr über ihre Großmutter zu erfahren. Einmal war sie mit ihrer Mutter dort. Als Fahrecker vor einem Massengrab österreichischer Opfer eine Personengruppe ansprechen wollte, sagte die Mutter zu ihr: "Nein, das können wir nicht machen, wir sind doch von den Asozialen, da redet man nicht darüber." Nicht etwa Wut oder Trauer, sondern Scham war bei vielen Hinterbliebenen das vorherrschende Gefühl. Einige der Enkel, Nichten und Großneffen schildern, wie diese Scham Aufarbeitung verhinderte und Familien zerriss.
So war es auch in der Familie von Anke Schulte. Ihr Großvater Wilhelm Schledorn kehrte verwundet und traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Er fand nicht zurück ins zivile Leben, wurde mehrmals beim Stehlen erwischt, kam ins Gefängnis. Dort wollten die Beamten "keine Gewähr für künftiges Wohlverhalten" erkennen. Deshalb wurde er nach Absitzen der Strafe Anfang 1941 zur "polizeilichen Vorbeugehaft" ins KZ Sachsenhausen gebracht, wo ihn ein grüner Winkel als "Berufsverbrecher" kennzeichnete. Im Herbst 1941 wurde er ins KZ Niederhagen-Wewelsburg verlegt. Dort starb er im Winter desselben Jahres, angeblich an "Körperschwäche". Seine Frau, Schultes Großmutter, ließ sich nach der Verschleppung ihres Mannes mit einem polnischen Zwangsarbeiter ein und landete dafür als "Asoziale" im KZ Ravensbrück, wo sie 1943 verstarb.
Schultes Mutter drängte sie dazu, nichts über die Großeltern väterlicherseits zu erzählen, "es könne ja etwas hängen bleiben". Liefen Dinge in der Familie nicht wie von ihr gewünscht, schob die Mutter das manchmal auf das "Verbrecher-Gen", das ihre Kinder angeblich vom Großvater geerbt hätten. Die Ehe der Eltern zerbrach irgendwann auch am Umgang der Mutter mit dem Schicksal ihrer Schwiegereltern. Erst mit seiner zweiten Frau besuchte Schultes Vater den Ort, an dem sein Vater ums Leben gekommen war. In der Folge begann er, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren: als Gewerkschafter und Personalrat, im Sportverein und im Rat der Stadt, in die er mit seiner neuen Frau zog.
Herausgegeben hat all diese Geschichten Frank Nonnenmacher, emeritierter Professor der Didaktik der politischen Bildung und selbst Neffe eines Mannes, den die Nazis als "Berufsverbrecher" in den KZ Flossenbürg und Sachsenhausen quälten. Eine Petition Nonnenmachers führte zu dem Bundestagsbeschluss zu den KZ-Häftlingen mit grünem und schwarzem Winkel. Anfang 2023 gründete Nonnenmacher den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus", Ende 2023 bekam er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Die im Buch versammelten Geschichten können vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Übergriffe und Rekordumfragewerte für die in weiten Teilen rechtsextreme AfD nicht nur als Zeugnisse der Vergangenheit, sondern auch als Mahnung gelesen werden. Dafür plädiert auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrem Vorwort. Sie schreibt, der Sammelband schärfe das Bewusstsein für Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung und konfrontiere die Leser mit dem, "was möglich war - und möglich bleibt".
Die Nacherzählungen der Einzelschicksale machen das Buch aus. Manche Nachkommen bemühen sich um eine gewisse Wissenschaftlichkeit, andere formulieren subjektiv und emotional. Nicht alle Nachkommen schreiben gleich stringent. Einiges, etwa der lange Weg zum Bundestagsbeschluss von 2020, wiederholt sich. Das kann man als Schwäche des Bands betrachten, muss es aber nicht. Offenbar sollten die Nachkommen größtmögliche Freiheit haben bei der Schilderung der Verfolgung ihrer Vorfahren. Dadurch meint man, sie beim Lesen geradezu reden zu hören. Ihre Geschichten wirken so ganz nah - und damit tut das auch die Geschichte. LEONIE FEUERBACH
Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie "Asoziale und Berufsverbrecher": Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik.
Campus Verlag, Frankfurt 2024. 372 S., 29,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die im Buch versammelten Geschichten können vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Übergriffe [...] für die in weiten Teilen rechtsextreme AfD nicht nur als Zeugnisse der Vergangenheit, sondern auch als Mahnung gelesen werden. [...] Die Nacherzählungen machen das Buch aus. [...] Dadurch meint man, sie beim Lesen geradezu reden zu hören. Ihre Geschichten wirken so ganz nah - und damit tut das auch die Geschichte.« Leonie Feuerbach, FAZ, 16.4.2024»Bald werden die Überlebenden des Holocaust als Zeitzeugen nicht mehr das sein. Umso wichtiger werden die Erzählungen der Angehörigen. Frank Nonnenmacher ist zu danken, dass eine solche Publikation möglich ist.« Werner Nickolai, Neue Caritas, 4.6.2024»Es brauchte nicht viel, um als 'Berufsverbrecher' oder 'Asozialer' im Konzentrationslager zu enden, das dokumentieren die Geschichten im Buch, das von dem Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher herausgegeben wurde. Nonnenmacher engagiert sich einem Verband und seiner Forschung seit Jahren für die vergessene Opfergruppe, zu der auch sein Onkel zählte.« Eva-Maria Manz, Stuttgarter Zeitung, 11./12.5.2024»Les 'asociaux' et les 'petits criminels', considérés comme génétiquement impurs, ont aussi été pourchassés par le IIIe Reich. Un livre à paraître donne un visage à ces autres victimes«. David Philippot, Sud Ouest Dimanche, 10.3.2024