London im Juni 1923. Peter Vane kann nicht mehr schlafen. Eine unbekannte Stimme raunt ihm immer wieder ein einziges Wort zu: Lily. Doch der junge Kriegsveteran und Mathematikstudent kennt niemanden mit diesem Namen. Nur das Foto eines kleinen Mädchens, das ihm sein verletzter Kamerad Finley im Schützengraben zugesteckt hat, scheint auf merkwürdige Weise mit Lily in Verbindung zu stehen. Finley ist verschollen, und um ihn aufzuspüren, sucht Peter trotz aller Zweifel Hilfe bei der berühmten Spiritistin Hester Dowden, die behauptet, mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen zu können. Doch als Peter an einer Séance teilnimmt, spürt er eine ganz andere unheimliche Präsenz: Oscar Wilde, der doch eigentlich seit 23 Jahren tot ist, diktiert ihm seine Gedanken. In der Hoffnung, all dies sei rational erklärbar, versucht Peter mithilfe der exzentrischen Dolly, das Rätsel um Lilys Foto zu lösen, Mrs. Dowden als Betrügerin zu entlarven und seine eigenen Dämonen zu besiegen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2019Tot zu sein ist das Langweiligste überhaupt
Nachrichten aus dem Jenseits: Alexander Pechmann schickt einen Veteranen des Ersten Weltkriegs im Jahr 1923 durch das London der Spiritisten.
Der Papagei heißt Co-Co, er kann einen einzigen Satz hersagen und den auch noch falsch: "When lilies last in my dooryard bloom'd", krächzt er unaufhörlich. Das klingt wie der Gedichtanfang einer berühmten Elegie auf einen prominenten Toten, nur leider nicht ganz richtig. Doch Papageien wissen ja angeblich ohnehin nicht, was sie sagen, sie plappern einfach nach. Eben damit aber weisen sie uns auf den Ursprung aller Kunst, denn Nachahmung, das heißt mimetische Verdoppelung, ist auch der Anfang kultureller Arbeit wie des Dichtens und Erzählens. Wann immer daher Papageien im Roman auftauchen, wissen wir uns dessen Zentrum nahe und erkennen sie als Sinnfiguren des Erzählens von Geschichten, besonders solchen, deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft und dennoch unabweisbar scheint. Das gilt für den Papagei in "Robinson Crusoe" ebenso wie für den in Stevensons "Schatzinsel" und erst recht für Co-Co.
Im 24. Kapitel tritt er endlich auf, in einem düsteren Apartment, wo er bei einer alten Dame residiert, die sich "Prinzessin Arakan" nennt und Handleserei als Lebensberatung anbietet. Fast könnte man sie eine Wahrsagerin nennen, wenn nicht so viel von dem, was sie erzählt, so offenkundig unwahr wäre. Auch unser Held, ein redlicher Mathematik-Student namens Peter Vane, der sich von ihr die Auflösung der rätselhaften Vorkommnisse erhofft, in die er sich in letzter Zeit verstrickt hat, verlässt sie ziemlich ratlos und verwirrt. Einerseits scheint die Prinzessin alle Puzzleteile in ein klares Bild zu bringen, andererseits stimmt ihre Story vorn und hinten nicht. Da hilft es nur, sich an den Grundsatz eines Oscar Wilde zu halten und eine schöne Lüge allemal glaubhafter zu finden als die hässliche Wahrheit. Denn Papageien sind sehr schöne Vögel, auch wenn sie alles nur verdoppeln und verdrehen.
Wir sind in London im Jahr 1923, einer Weltstadt nach dem Weltkrieg, in der seit Kriegsende mehr Geister als Lebendige aktiv sind. Auch Peter Vane, ein Frankreich-Veteran, wird die Phantome, die ihn von der Front heimsuchen, nicht mehr los. Nächtlich plagen ihn die Albträume, täglich spürt er seinen toten Kameraden um sich, der ihm im Schützengraben einst so gerne Spukgeschichten erzählt und, als ihn die Ambulanz abholte, ein unbekanntes Mädchenbildnis anvertraut hat, das Vane seither keine Ruhe lässt. Aufklärung und Hilfe sucht er schließlich bei den Spiritisten, die allseits gerade großen Zulauf haben, und trotz anfänglichem Widerwillen und nie nachlassender Skepsis stellt Vane fest, dass ihm die Botschaften, die er durchs Medium empfängt, zu denken geben.
Der Geist, der sich da aus dem Jenseits meldet, nennt sich Oscar Wilde und scheint, auch über zwei Jahrzehnte nach dem Tod dieses genialen Dichters, erstaunlich treffsichere Aussagen zu machen: "Tot zu sein ist das Langweiligste, was man sich vorstellen kann", erklärt er beispielsweise. In der Tat muss es einem begnadeten Selbstdarsteller und Salonvirtuosen wie Wilde postmortal an Publikum und kultivierter Unterhaltung ganz empfindlich mangeln, weshalb man dieser Nachricht sofort Glauben schenkt.
Doch als Vane bei den Recherchen bald Wildes flamboyante Nichte näher kennenlernt, dazu mit der Prinzessin dessen angebliche Jugendfreundin, der Wilde ein Märchenstück gewidmet haben soll, das sie postum veröffentlicht und damit Aufruhr stiftet, weil Kenner es für eine Fälschung halten, und als sich sogar die Person auf dem rätselhaften Bildnis als zehnjähriger Oscar in adretter Mädchenkleidung herausstellt, da verwirren sich sämtliche Fäden so sehr, dass nur die Wahrsagerin helfen kann. Doch der, wie ihrem Papagei, ist eben leider nicht zu trauen.
Aus derart herrlich dichtem Geflecht - historischen, literarischen, okkultistischen und rundweg erfundenen Flicken und Fetzen - ist dieser charmante kleine Roman zusammenfabuliert. Sein Autor Alexander Pechmann ist als intimer Kenner auch abgelegener Winkel der anglo-amerikanischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestens bekannt, da wir ihm als Herausgeber und Übersetzer wunderschöne Ausgaben von Kipling, Conan Doyle, Lovecraft, Stevenson und anderen Erzählern aus der Zeit der großen kolonialen Abenteuer danken.
Als Autor eines vertrackten historischen Romans trat Pechmann erstmals vor zwei Jahren auf, als er sich in "Sieben Lichter" einem spektakulären britischen Kriminalfall widmete, der sich 1828 auf hoher See tatsächlich zugetragen hat. Auch sein zweiter Roman beruht auf historischen Begebenheiten, doch ob sie wahr sind, steht dahin.
Jedenfalls veröffentlichte 1924 eine medial begabte Spiritistin ein Buch mit Protokollen jener Botschaften, die, wie sie erklärte, Oscar Wilde durch sie der Nachwelt übermitteln wolle; Pechmann gibt sie wörtlich wieder und bindet sie in eine Fabel ein, gleichermaßen irrwitzig und spannend, in der Versatzstücke aus Wildes Werk und Leben sowie Nachleben geschickt zusammenmontiert sind. Wer englische Literatur aus jener Periode kennt, fühlt sich bei der Lektüre wie in einem Echolabyrinth, in welchem allenthalben bunte Papageien in den Ecken lauern und etwas aufsagen, das einem irgendwie bekannt vorkommt.
Doch auch wer nichts davon erkennt, mag sich von Pechmanns Geisterstunde der Fälscher, Nachahmer und Simulanten gern entführen lassen - es reicht ein Faible für das Englisch-Kuriose, um seinen Spaß daran zu haben. Und alle, die ganz sichergehen wollen, werden schließlich im Quellenverzeichnis bedient. Dort lernt man, dass die wahrhafte Prinzessin, alias Mary Mabel Cosgrove Wodehouse Pearse, eine irische Autorin vergessener Romane, die auch durch diverse Wilde-Biographien spukt, tatsächlich einen Vogel namens Co-Co hatte. Auf diesen Papagei ist immerhin Verlass.
TOBIAS DÖRING
Alexander Pechmann: "Die Nebelkrähe". Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2019. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachrichten aus dem Jenseits: Alexander Pechmann schickt einen Veteranen des Ersten Weltkriegs im Jahr 1923 durch das London der Spiritisten.
Der Papagei heißt Co-Co, er kann einen einzigen Satz hersagen und den auch noch falsch: "When lilies last in my dooryard bloom'd", krächzt er unaufhörlich. Das klingt wie der Gedichtanfang einer berühmten Elegie auf einen prominenten Toten, nur leider nicht ganz richtig. Doch Papageien wissen ja angeblich ohnehin nicht, was sie sagen, sie plappern einfach nach. Eben damit aber weisen sie uns auf den Ursprung aller Kunst, denn Nachahmung, das heißt mimetische Verdoppelung, ist auch der Anfang kultureller Arbeit wie des Dichtens und Erzählens. Wann immer daher Papageien im Roman auftauchen, wissen wir uns dessen Zentrum nahe und erkennen sie als Sinnfiguren des Erzählens von Geschichten, besonders solchen, deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft und dennoch unabweisbar scheint. Das gilt für den Papagei in "Robinson Crusoe" ebenso wie für den in Stevensons "Schatzinsel" und erst recht für Co-Co.
Im 24. Kapitel tritt er endlich auf, in einem düsteren Apartment, wo er bei einer alten Dame residiert, die sich "Prinzessin Arakan" nennt und Handleserei als Lebensberatung anbietet. Fast könnte man sie eine Wahrsagerin nennen, wenn nicht so viel von dem, was sie erzählt, so offenkundig unwahr wäre. Auch unser Held, ein redlicher Mathematik-Student namens Peter Vane, der sich von ihr die Auflösung der rätselhaften Vorkommnisse erhofft, in die er sich in letzter Zeit verstrickt hat, verlässt sie ziemlich ratlos und verwirrt. Einerseits scheint die Prinzessin alle Puzzleteile in ein klares Bild zu bringen, andererseits stimmt ihre Story vorn und hinten nicht. Da hilft es nur, sich an den Grundsatz eines Oscar Wilde zu halten und eine schöne Lüge allemal glaubhafter zu finden als die hässliche Wahrheit. Denn Papageien sind sehr schöne Vögel, auch wenn sie alles nur verdoppeln und verdrehen.
Wir sind in London im Jahr 1923, einer Weltstadt nach dem Weltkrieg, in der seit Kriegsende mehr Geister als Lebendige aktiv sind. Auch Peter Vane, ein Frankreich-Veteran, wird die Phantome, die ihn von der Front heimsuchen, nicht mehr los. Nächtlich plagen ihn die Albträume, täglich spürt er seinen toten Kameraden um sich, der ihm im Schützengraben einst so gerne Spukgeschichten erzählt und, als ihn die Ambulanz abholte, ein unbekanntes Mädchenbildnis anvertraut hat, das Vane seither keine Ruhe lässt. Aufklärung und Hilfe sucht er schließlich bei den Spiritisten, die allseits gerade großen Zulauf haben, und trotz anfänglichem Widerwillen und nie nachlassender Skepsis stellt Vane fest, dass ihm die Botschaften, die er durchs Medium empfängt, zu denken geben.
Der Geist, der sich da aus dem Jenseits meldet, nennt sich Oscar Wilde und scheint, auch über zwei Jahrzehnte nach dem Tod dieses genialen Dichters, erstaunlich treffsichere Aussagen zu machen: "Tot zu sein ist das Langweiligste, was man sich vorstellen kann", erklärt er beispielsweise. In der Tat muss es einem begnadeten Selbstdarsteller und Salonvirtuosen wie Wilde postmortal an Publikum und kultivierter Unterhaltung ganz empfindlich mangeln, weshalb man dieser Nachricht sofort Glauben schenkt.
Doch als Vane bei den Recherchen bald Wildes flamboyante Nichte näher kennenlernt, dazu mit der Prinzessin dessen angebliche Jugendfreundin, der Wilde ein Märchenstück gewidmet haben soll, das sie postum veröffentlicht und damit Aufruhr stiftet, weil Kenner es für eine Fälschung halten, und als sich sogar die Person auf dem rätselhaften Bildnis als zehnjähriger Oscar in adretter Mädchenkleidung herausstellt, da verwirren sich sämtliche Fäden so sehr, dass nur die Wahrsagerin helfen kann. Doch der, wie ihrem Papagei, ist eben leider nicht zu trauen.
Aus derart herrlich dichtem Geflecht - historischen, literarischen, okkultistischen und rundweg erfundenen Flicken und Fetzen - ist dieser charmante kleine Roman zusammenfabuliert. Sein Autor Alexander Pechmann ist als intimer Kenner auch abgelegener Winkel der anglo-amerikanischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestens bekannt, da wir ihm als Herausgeber und Übersetzer wunderschöne Ausgaben von Kipling, Conan Doyle, Lovecraft, Stevenson und anderen Erzählern aus der Zeit der großen kolonialen Abenteuer danken.
Als Autor eines vertrackten historischen Romans trat Pechmann erstmals vor zwei Jahren auf, als er sich in "Sieben Lichter" einem spektakulären britischen Kriminalfall widmete, der sich 1828 auf hoher See tatsächlich zugetragen hat. Auch sein zweiter Roman beruht auf historischen Begebenheiten, doch ob sie wahr sind, steht dahin.
Jedenfalls veröffentlichte 1924 eine medial begabte Spiritistin ein Buch mit Protokollen jener Botschaften, die, wie sie erklärte, Oscar Wilde durch sie der Nachwelt übermitteln wolle; Pechmann gibt sie wörtlich wieder und bindet sie in eine Fabel ein, gleichermaßen irrwitzig und spannend, in der Versatzstücke aus Wildes Werk und Leben sowie Nachleben geschickt zusammenmontiert sind. Wer englische Literatur aus jener Periode kennt, fühlt sich bei der Lektüre wie in einem Echolabyrinth, in welchem allenthalben bunte Papageien in den Ecken lauern und etwas aufsagen, das einem irgendwie bekannt vorkommt.
Doch auch wer nichts davon erkennt, mag sich von Pechmanns Geisterstunde der Fälscher, Nachahmer und Simulanten gern entführen lassen - es reicht ein Faible für das Englisch-Kuriose, um seinen Spaß daran zu haben. Und alle, die ganz sichergehen wollen, werden schließlich im Quellenverzeichnis bedient. Dort lernt man, dass die wahrhafte Prinzessin, alias Mary Mabel Cosgrove Wodehouse Pearse, eine irische Autorin vergessener Romane, die auch durch diverse Wilde-Biographien spukt, tatsächlich einen Vogel namens Co-Co hatte. Auf diesen Papagei ist immerhin Verlass.
TOBIAS DÖRING
Alexander Pechmann: "Die Nebelkrähe". Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2019. 176 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tobias Döring unterhält sich gut mit Alexander Pechmanns Roman. Auch ohne Kenntnis der angloamerikanischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts und all der okkultistischen, historischen und kuriosen "Fetzen", die der Autor laut Döring so wunderbar raffiniert in seinem Text verbaut, scheint ihm die Lektüre lohnenswert. Was Pechmanns von Albträumen von der Front gequälter Held anno 1923 in London erlebt, u. a. eine Begegnung mit Oscar Wilde als Wiedergänger, findet Döring so "irrwitzig" wie spannend, obgleich oder gerade weil er mitunter nicht zu sagen weiß, was wahr ist an der mit historischen Ereignissen hantierenden Geschichte, was nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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