Jens Soentgen erzählt - wie immer kenntnisreich und sehr vergnüglich - eine Geschichte aus der Naturwissenschaft. Sein Held ist der einzige Schotte, der je den Nobelpreis erhalten hat: Charles Thomson Rees Wilson. Seine Großtat war die Erfindung der Nebelkammer, die ein halbes Jahrhundert lang die Kernphysik bestimmte und fünfzehn weitere Nobelpreise nach sich zog. In jeder Hinsicht schottisch war seine Erfindung, weil Wilson mit ihr erforschte, was ihn täglich umgab: Nebel und Wolken! Inspiriert vom Wolken- und Lichtspektakel auf dem Gipfel des Ben Nevis, den Wilson 1894 erklomm, begann er, die Wolkenbildung in selbstgeblasenen Kolben zu studieren: als Kondensation von Wasserdampf an winzigen Staubteilchen. Er forschte mit endloser Geduld und - auch hier ganz Schotte - mit minimalen Kosten, bis er entdeckte, dass auch in reiner Luft ohne Partikel feinste Kondesstreifen entstanden. Was sich bis dato nur berechnen ließ, wurde für das bloße Auge sichtbar: Spuren der Zerfallsprodukte von Atomkernen, der kleinsten Bestandteile der Materie! Vitali Konstantinov begleitet die Erzählung augenzwinkernd mit Illustrationen, die mehr sind als das Tüpfelchen auf dem i des bibliophilen Bändchens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Wahrheit in Wolken
Jens Soentgen erzählt in "Die Nebelspur" von einer Erfindung, die abstrakteste Realität anschaulich macht.
Von Dietmar Dath
Erwachsene leiden bekanntlich im Vergleich zu Kindern an Verengungen, Verflachungen und trockenen Stellen der Phantasie. Uferlos umfangreiche Literatur und Kunst der engagierten Traumtänzerei klagt darüber, dass dieser mit den Jahren eintretende Farb-, Klang- und Geschmacksverlust im Kopf die Großen daran hindert, die kindliche Welt der Einhörner, Regenbögen aus Zucker und sprechenden Katzen zu betreten, aber dieser Verlust lässt sich in Anbetracht der Tatsache, dass solches Zeug inzwischen dank Disney und Amazon einfach online bestellt werden kann, gerade noch verschmerzen. Viel schwerer wiegt, dass Leute ohne Phantasie buchstäblich von jeder Möglichkeit abgeschnitten sind, die Welt, in der sie leben, und das Zeug, aus dem sie selbst bestehen, auch nur annähernd zu begreifen.
Denn die moderne Physik, die derzeit für unsere gescheitesten (wenn auch längst nicht vollständigen) Antworten auf Fragen dieses fundamentalen Kalibers zuständig ist, spricht von Molekülen, von Atomen und allerlei zutiefst seltsamen Sachen, die noch kleiner sind. Mit dem bloßen Auge, ist da nichts zu machen; man braucht Abstraktions-, also Vorstellungsvermögen. Wer zum Himmel emporschaut, mag in den Wolken noch Schäfchen oder den Kung Fu Panda aus dem Kino erkennen, aber wer behauptet, in dieser Blickrichtung die Entstehung kosmischer Neutrinos in den Wechselwirkungsgewitterchen kosmischer Partikel infolge des schwachen Zerfalls geladener Mesonen erkennen zu können, der da ja tatsächlich stattfindet, lügt schlimmer als Pinocchio jemals.
Um das nachzuweisen, was unsere anspruchsvollsten Theorien und mathematischen Schlüsse nahelegen, braucht man schweres Gerät, vom Teilchenbeschleuniger bis zum 50 Kilotonnen schweren Wasser-Cherenkov-Zylinderdetektor, aber solche Apparate beruhen auf Prinzipien, die man sich auch lange vor Erreichen der ersten Erwachsenenausfälle in der natürlichen Phantasieausrüstung des Hirns aneignen kann - jedenfalls dann, wenn man die allerbesten Teile in Jens Soentgens wunderbarem Buch "Die Nebelspur. Wie Charles Wilson den Weg zu den Atomen fand" gelesen sowie verstanden hat und sie deshalb ausprobieren will. Diese besten Teile sind, nach einem ausführlichen, aber kurzweiligen und von Vitali Konstantinov so exakt wie schnurrig illustrierten Bericht davon, wie der Held des Buches auf den Einfall kam, mikrophysikalischen Vorgängen in selbsterzeugtem künstlichem Wetter nachzugehen, einige Anleitungen zu Experimenten. Für deren Durchführung braucht man nichts als ein paar absolut kind- und jugendgerechte Zutaten wie einen Wassersprudler, schwarze Plastikfolie, ein Columbitbröckchen, ein Geschirrtuch, Latexhandschuhe, eine Taschenlampe, Whisky ("möglichst hochprozentig") samt Glas und etwas Styropor.
Die Geheimnisse der Natur sind nur den Trägen dauerhaft verschlossen, sagt dieses Buch, über das selbst Einhörner staunen würden, wären sie nicht nur ausgedacht.
Jens Soentgen: "Die Nebelspur". Wie Charles Wilson den Weg zu den Atomen fand.
Mit Bildern von Vitali Konstantinov. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2019. 120 S., geb., 20,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jens Soentgen erzählt in "Die Nebelspur" von einer Erfindung, die abstrakteste Realität anschaulich macht.
Von Dietmar Dath
Erwachsene leiden bekanntlich im Vergleich zu Kindern an Verengungen, Verflachungen und trockenen Stellen der Phantasie. Uferlos umfangreiche Literatur und Kunst der engagierten Traumtänzerei klagt darüber, dass dieser mit den Jahren eintretende Farb-, Klang- und Geschmacksverlust im Kopf die Großen daran hindert, die kindliche Welt der Einhörner, Regenbögen aus Zucker und sprechenden Katzen zu betreten, aber dieser Verlust lässt sich in Anbetracht der Tatsache, dass solches Zeug inzwischen dank Disney und Amazon einfach online bestellt werden kann, gerade noch verschmerzen. Viel schwerer wiegt, dass Leute ohne Phantasie buchstäblich von jeder Möglichkeit abgeschnitten sind, die Welt, in der sie leben, und das Zeug, aus dem sie selbst bestehen, auch nur annähernd zu begreifen.
Denn die moderne Physik, die derzeit für unsere gescheitesten (wenn auch längst nicht vollständigen) Antworten auf Fragen dieses fundamentalen Kalibers zuständig ist, spricht von Molekülen, von Atomen und allerlei zutiefst seltsamen Sachen, die noch kleiner sind. Mit dem bloßen Auge, ist da nichts zu machen; man braucht Abstraktions-, also Vorstellungsvermögen. Wer zum Himmel emporschaut, mag in den Wolken noch Schäfchen oder den Kung Fu Panda aus dem Kino erkennen, aber wer behauptet, in dieser Blickrichtung die Entstehung kosmischer Neutrinos in den Wechselwirkungsgewitterchen kosmischer Partikel infolge des schwachen Zerfalls geladener Mesonen erkennen zu können, der da ja tatsächlich stattfindet, lügt schlimmer als Pinocchio jemals.
Um das nachzuweisen, was unsere anspruchsvollsten Theorien und mathematischen Schlüsse nahelegen, braucht man schweres Gerät, vom Teilchenbeschleuniger bis zum 50 Kilotonnen schweren Wasser-Cherenkov-Zylinderdetektor, aber solche Apparate beruhen auf Prinzipien, die man sich auch lange vor Erreichen der ersten Erwachsenenausfälle in der natürlichen Phantasieausrüstung des Hirns aneignen kann - jedenfalls dann, wenn man die allerbesten Teile in Jens Soentgens wunderbarem Buch "Die Nebelspur. Wie Charles Wilson den Weg zu den Atomen fand" gelesen sowie verstanden hat und sie deshalb ausprobieren will. Diese besten Teile sind, nach einem ausführlichen, aber kurzweiligen und von Vitali Konstantinov so exakt wie schnurrig illustrierten Bericht davon, wie der Held des Buches auf den Einfall kam, mikrophysikalischen Vorgängen in selbsterzeugtem künstlichem Wetter nachzugehen, einige Anleitungen zu Experimenten. Für deren Durchführung braucht man nichts als ein paar absolut kind- und jugendgerechte Zutaten wie einen Wassersprudler, schwarze Plastikfolie, ein Columbitbröckchen, ein Geschirrtuch, Latexhandschuhe, eine Taschenlampe, Whisky ("möglichst hochprozentig") samt Glas und etwas Styropor.
Die Geheimnisse der Natur sind nur den Trägen dauerhaft verschlossen, sagt dieses Buch, über das selbst Einhörner staunen würden, wären sie nicht nur ausgedacht.
Jens Soentgen: "Die Nebelspur". Wie Charles Wilson den Weg zu den Atomen fand.
Mit Bildern von Vitali Konstantinov. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2019. 120 S., geb., 20,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main