Europa ist mit der größten Migrationsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert - und niemand hat intensiver über diese Krise berichtet als Patrick Kingsley. Der erst 26 Jahre alte Reporter des "Guardian" hat 2015 drei Kontinente und 17 Länder bereist, Hunderte von Migranten getroffen und mit ihnen die Fluchtrouten durch Wüsten, über Berge und Meere zurückgelegt. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte. Patrick Kingsley legt ein hohes Tempo vor. Er reist mit dem Syrer Hashem al-Souki auf dem Zug, trinkt selbstgebrannten (und verbotenen) Schnaps mit dem libyschen Menschenschmuggler Haji, der einmal Jurastudent war, marschiert mit Fattemah Abu al-Rouse, der schwangeren syrischen Lehrerin, die Angst hat, ihr Kind zu verlieren, durch die Wildnis des Balkans, ist an Bord eines Bootes im Mittelmeer. Er schildert, wie das Multi-Millionen-Dollar-Geschäft mit dem Menschenhandel in Libyen, der Türkei und Ägypten organisiert wird. Er zeigt, wie lokale Kaufleute und korrupte Politiker in Italien vom Elend der Menschen profitieren. Er beschreibt die Fluchtrouten, hinterfragt die Ursachen der Krise und die Gründe für die bedrückende Reaktion so vieler Europäer. "Die neue Odyssee" ist ein großartiges Buch, das niemand so leicht vergisst, der es gelesen hat.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Felix Simon kann verkraften, dass das Buch des Guardian-Journalisten Patrick Kingsley hin und wieder wie mit heißer Nadel gestrickt wirkt. Die Fluchtgeschichte eines Syrers nach Schweden kann ihm der Autor dennoch auf packende Weise schildern und mit makroperspektivischen Momenten verbunden alles andere als abstrakt nahebringen. Die Strapazen und das Leid der Flucht, aber auch die Hintergründe, Ursachen und Auswirkungen der Migrationswelle und die Motivation von Menschenschmugglern wie Helfern lernt Simon besser kennen. Kritik schließlich übt der Autor laut Simon auch, an Grenzsicherungsmaßnahmen und einer verfehlten Flüchtlingspolitik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2016Warum der Strom so schnell nicht versiegen wird
Eindrucksvoll: Patrick Kingsley schreibt eine Geschichte der Flüchtlingskrise, die Nahaufnahmen mit Analysen kombiniert
"Permanent Uppehällstillständ". Gewöhnlich besteht die Klimax eines Buches nicht aus zwei schwedischen Wörtern auf der letzten Seite vor dem Epilog. Bei Patrick Kingsleys "Die neue Odyssee" ist genau das der Fall. Schon für den Leser sind sie eine Erleichterung, doch mehr noch für den Syrer Haschem al-Souki, markieren sie doch das Ende einer langen Reise, die ihn von Syrien über Ägypten nach Italien und schließlich an den Rand Europas, in eine schwedische Kleinstadt nordwestlich von Stockholm. geführt hat. "Permanent Uppehällstillständ" steht für "unbefristete Aufenthaltserlaubnis", und so erfährt der Leser nach mehr als dreihundert Seiten endlich, dass zumindest al-Soukis Irrfahrt ein vergleichsweise "glückliches" Ende genommen hat.
Patrick Kingsley ist mit "Die neue Odyssee" ein bemerkenswertes Buch gelungen. Geschickt verwebt er Reportagen und Erfahrungsberichte mit Hintergrundinformationen zu einer umfassenden Bestandsaufnahme über die Ursachen und Auswirkungen der größten Migrationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg, einer Bestandsaufnahme, die die Flüchtlingskrise nicht nur als abstraktes Problem begreift, sondern vor allem aus der Sicht derjenigen schildert, die direkt involviert sind: Flüchtlinge, Menschenschmuggler, Behörden, Anwohner und nicht zuletzt die freiwilligen Helfer. Beachtenswert an dem Buch ist jedoch auch seine Entstehungsgeschichte. Nach seinem Bachelorabschluss in Cambridge mehr durch Zufall im Journalismus gelandet, wurde Kingsley mit nur dreiundzwanzig Jahren Ägypten-Korrespondent für den britischen "Guardian", bevor er Anfang 2015 zum ersten Migrationskorrespondenten der Zeitung ernannt wurde - sein Buch ist das Ergebnis dieser einmaligen Position.
Kingsleys größte schriftstellerische Leistung ist dabei, dass es ihm gelingt, aus dem Chaos ein übersichtliches Bild zu gewinnen und gleichzeitig auch Licht auf jene Aspekte der Krise zu werfen, die in den Medien und Talkshowrunden eher selten und wenn überhaupt meist nur auf einem von Halbwahrheiten durchsetzten Stammtischniveau zum Tragen kommen. So revidiert Kingsley in einem eigenen Kapitel das eindimensionale Bild der Menschenschmuggler als international agierende Menschenhändler zugunsten einer weitaus komplexeren Sicht der Dinge, während er an anderer Stelle die Anstrengungen der italienischen Küstenwache beschreibt, die trotz knapper Mittel mehr leistet, als vielfach nach außen dringt.
Als verbindende Klammer und roter Faden dient ihm immer wieder die Flucht des Syrers Haschem al-Souki, den Kingsley über weite Strecken begleitet hat. Auch wenn al-Souki nur eine von mehreren Figuren in dem Buch ist, kommt der Autor regelmäßig auf dessen Schicksal zurück und schildert an seinem Beispiel die Strapazen und das Leid derer, die im vergangenen Jahr auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht von ihren Heimatländern aus in Richtung Europa aufbrachen.
Bei al-Souki ist es das Assad-Regime, das den Familienvater zur Flucht aus Damaskus zwingt. Kingsley beschreibt, wie der ehemalige Beamte mit seiner Familie zuerst eine vorläufige Bleibe in Ägypten findet, von wo aus er schließlich allein die gefährliche Reise über das Mittelmeer wagt, mit dem Ziel, nach Schweden zu gelangen, um von dort Frau und Kinder nachzuholen - immer in der Hoffnung, diesen endlich eine sichere Zukunft bieten zu können. Beständig wechselt der Autor in dieser Erzählung zwischen Mikro- und Makroperspektive und gewährt dem Leser dadurch Einblick in die Herausforderungen und Gefahren, mit denen sich Flüchtlinge wie al-Souki auf ihrer Reise konfrontiert sehen, während er gleichzeitig präzise und bar jeder ideologischen Voreingenommenheit beschreibt, wie es zur Krise kommen konnte und warum der Strom an Flüchtlingen so schnell auch nicht versiegen wird.
In den Fokus rücken bei dieser Analyse nicht nur der krisengeschüttelte Mittelmeerraum, sondern auch Länder jenseits der Sahara, die zu Quellen eines Massenexodus geworden sind - nicht, wie oft behauptet, aus wirtschaftlichen Gründen, sondern, wie Kingsley feststellt, weil das Leben in Ländern wie Eritrea unerträglich geworden ist und Flucht meist die einzige Option darstellt, die vielen Menschen noch bleibt.
Wenig überraschend, spart Kingsley in seinem Buch auch nicht an Kritik für viele Maßnahmen, angefangen bei den Zäunen auf der Balkan-Route bis hin zur verstärkten Grenzsicherung im Mittelmeer, die von Europas Politik ersonnen wurden, um der Lage Herr zu werden. Europas Flüchtlingspolitik hält er für gescheitert.
Der einzige Wermutstropfen bei der Lektüre sind die Stellen, an denen bemerkbar wird, dass "Die neue Odyssee" offenbar in großer Eile zusammengestellt wurde und deshalb hin und wieder nicht wie aus einem Guss wirkt - ein angesichts der Fülle an Einblicken jedoch vernachlässigbarer Malus.
FELIX SIMON
Patrick Kingsley: "Die neue Odyssee". Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise.
Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller. Verlag C. H. Beck, München 2016. 332 S., Abb., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eindrucksvoll: Patrick Kingsley schreibt eine Geschichte der Flüchtlingskrise, die Nahaufnahmen mit Analysen kombiniert
"Permanent Uppehällstillständ". Gewöhnlich besteht die Klimax eines Buches nicht aus zwei schwedischen Wörtern auf der letzten Seite vor dem Epilog. Bei Patrick Kingsleys "Die neue Odyssee" ist genau das der Fall. Schon für den Leser sind sie eine Erleichterung, doch mehr noch für den Syrer Haschem al-Souki, markieren sie doch das Ende einer langen Reise, die ihn von Syrien über Ägypten nach Italien und schließlich an den Rand Europas, in eine schwedische Kleinstadt nordwestlich von Stockholm. geführt hat. "Permanent Uppehällstillständ" steht für "unbefristete Aufenthaltserlaubnis", und so erfährt der Leser nach mehr als dreihundert Seiten endlich, dass zumindest al-Soukis Irrfahrt ein vergleichsweise "glückliches" Ende genommen hat.
Patrick Kingsley ist mit "Die neue Odyssee" ein bemerkenswertes Buch gelungen. Geschickt verwebt er Reportagen und Erfahrungsberichte mit Hintergrundinformationen zu einer umfassenden Bestandsaufnahme über die Ursachen und Auswirkungen der größten Migrationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg, einer Bestandsaufnahme, die die Flüchtlingskrise nicht nur als abstraktes Problem begreift, sondern vor allem aus der Sicht derjenigen schildert, die direkt involviert sind: Flüchtlinge, Menschenschmuggler, Behörden, Anwohner und nicht zuletzt die freiwilligen Helfer. Beachtenswert an dem Buch ist jedoch auch seine Entstehungsgeschichte. Nach seinem Bachelorabschluss in Cambridge mehr durch Zufall im Journalismus gelandet, wurde Kingsley mit nur dreiundzwanzig Jahren Ägypten-Korrespondent für den britischen "Guardian", bevor er Anfang 2015 zum ersten Migrationskorrespondenten der Zeitung ernannt wurde - sein Buch ist das Ergebnis dieser einmaligen Position.
Kingsleys größte schriftstellerische Leistung ist dabei, dass es ihm gelingt, aus dem Chaos ein übersichtliches Bild zu gewinnen und gleichzeitig auch Licht auf jene Aspekte der Krise zu werfen, die in den Medien und Talkshowrunden eher selten und wenn überhaupt meist nur auf einem von Halbwahrheiten durchsetzten Stammtischniveau zum Tragen kommen. So revidiert Kingsley in einem eigenen Kapitel das eindimensionale Bild der Menschenschmuggler als international agierende Menschenhändler zugunsten einer weitaus komplexeren Sicht der Dinge, während er an anderer Stelle die Anstrengungen der italienischen Küstenwache beschreibt, die trotz knapper Mittel mehr leistet, als vielfach nach außen dringt.
Als verbindende Klammer und roter Faden dient ihm immer wieder die Flucht des Syrers Haschem al-Souki, den Kingsley über weite Strecken begleitet hat. Auch wenn al-Souki nur eine von mehreren Figuren in dem Buch ist, kommt der Autor regelmäßig auf dessen Schicksal zurück und schildert an seinem Beispiel die Strapazen und das Leid derer, die im vergangenen Jahr auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht von ihren Heimatländern aus in Richtung Europa aufbrachen.
Bei al-Souki ist es das Assad-Regime, das den Familienvater zur Flucht aus Damaskus zwingt. Kingsley beschreibt, wie der ehemalige Beamte mit seiner Familie zuerst eine vorläufige Bleibe in Ägypten findet, von wo aus er schließlich allein die gefährliche Reise über das Mittelmeer wagt, mit dem Ziel, nach Schweden zu gelangen, um von dort Frau und Kinder nachzuholen - immer in der Hoffnung, diesen endlich eine sichere Zukunft bieten zu können. Beständig wechselt der Autor in dieser Erzählung zwischen Mikro- und Makroperspektive und gewährt dem Leser dadurch Einblick in die Herausforderungen und Gefahren, mit denen sich Flüchtlinge wie al-Souki auf ihrer Reise konfrontiert sehen, während er gleichzeitig präzise und bar jeder ideologischen Voreingenommenheit beschreibt, wie es zur Krise kommen konnte und warum der Strom an Flüchtlingen so schnell auch nicht versiegen wird.
In den Fokus rücken bei dieser Analyse nicht nur der krisengeschüttelte Mittelmeerraum, sondern auch Länder jenseits der Sahara, die zu Quellen eines Massenexodus geworden sind - nicht, wie oft behauptet, aus wirtschaftlichen Gründen, sondern, wie Kingsley feststellt, weil das Leben in Ländern wie Eritrea unerträglich geworden ist und Flucht meist die einzige Option darstellt, die vielen Menschen noch bleibt.
Wenig überraschend, spart Kingsley in seinem Buch auch nicht an Kritik für viele Maßnahmen, angefangen bei den Zäunen auf der Balkan-Route bis hin zur verstärkten Grenzsicherung im Mittelmeer, die von Europas Politik ersonnen wurden, um der Lage Herr zu werden. Europas Flüchtlingspolitik hält er für gescheitert.
Der einzige Wermutstropfen bei der Lektüre sind die Stellen, an denen bemerkbar wird, dass "Die neue Odyssee" offenbar in großer Eile zusammengestellt wurde und deshalb hin und wieder nicht wie aus einem Guss wirkt - ein angesichts der Fülle an Einblicken jedoch vernachlässigbarer Malus.
FELIX SIMON
Patrick Kingsley: "Die neue Odyssee". Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise.
Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller. Verlag C. H. Beck, München 2016. 332 S., Abb., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine atemberaubende Reportage"
Lukas Hammerstein, Bayern 2 Jazz & Politik, 20. August 2016
"Patrick Kingsley hat ein großes, beeindruckendes Mosaik von Flüchtlingsgeschichten zusammengetragen, fein beobachtet und geschickt miteinander verbunden"
Robert Probst, Süddeutsche Zeitung, 5. September 2016
"Kingsley erzählt von den einzelnen Menschen im Strom der Migranten und hat doch das Ganze im Blick"
Holger Heimann, NZZ am Sonntag, 28. August 2016
"Brillante Reportage über die Migration"
Marc Reichwein, Die Welt, 14. Mai 2016
Lukas Hammerstein, Bayern 2 Jazz & Politik, 20. August 2016
"Patrick Kingsley hat ein großes, beeindruckendes Mosaik von Flüchtlingsgeschichten zusammengetragen, fein beobachtet und geschickt miteinander verbunden"
Robert Probst, Süddeutsche Zeitung, 5. September 2016
"Kingsley erzählt von den einzelnen Menschen im Strom der Migranten und hat doch das Ganze im Blick"
Holger Heimann, NZZ am Sonntag, 28. August 2016
"Brillante Reportage über die Migration"
Marc Reichwein, Die Welt, 14. Mai 2016