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Als im November 1989 die Mauer fiel, begann ein Großexperiment kontinentalen Ausmaßes: Die ehemaligen Staaten des "Ostblocks" wurden binnen kurzer Zeit auf eine neoliberale Ordnung getrimmt und dem Regime der Privatisierung und Liberalisierung unterworfen. Philipp Ther war vor Ort, als die Menschen damals in Prag auf die Straße gingen, später lebte er mehrere Jahre in Tschechien, Polen und der Ukraine. In diesem Buch legt er eine umfassende zeithistorische Analyse der neuen Ordnung auf dem alten Kontinent vor - und zwar erstmals in gesamteuropäischer Perspektive. Angereichert durch persönliche…mehr

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Produktbeschreibung
Als im November 1989 die Mauer fiel, begann ein Großexperiment kontinentalen Ausmaßes: Die ehemaligen Staaten des "Ostblocks" wurden binnen kurzer Zeit auf eine neoliberale Ordnung getrimmt und dem Regime der Privatisierung und Liberalisierung unterworfen. Philipp Ther war vor Ort, als die Menschen damals in Prag auf die Straße gingen, später lebte er mehrere Jahre in Tschechien, Polen und der Ukraine. In diesem Buch legt er eine umfassende zeithistorische Analyse der neuen Ordnung auf dem alten Kontinent vor - und zwar erstmals in gesamteuropäischer Perspektive. Angereichert durch persönliche Erfahrungen, rekapituliert Ther den Verlauf der "verhandelten Revolutionen". Er zeigt, dass der Umbau der mittel- und osteuropäischen Ökonomien auch auf Länder im Westen zurückwirkte, die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung interpretiert er z. B. als "nachholende Modernisierung".

Ther räumt mit einigen Mythen rund um "1989" auf und zieht eine Zwischenbilanz, die für breite Diskussionen sorgen wird: Was funktionierte besser - radikale Schocktherapien oder schrittweise Reformen? Welche Lehren lassen sich im Hinblick auf die gegenwärtige Krise der südeuropäischen Länder ziehen? Und warum wurde Berlin wirtschaftlich von Städten wie Warschau oder Prag überholt?
Autorenporträt
Ther, Philipp
Philipp Ther, geboren 1967, ist ein deutscher Sozial- und Kulturhistoriker. Nach Stationen u. a. an der FU Berlin, der Viadrina in Frankfurt/Oder, an der Harvard University und am European University Institute in Florenz ist er seit 2010 Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Seine Bücher Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa (2011), Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa (2014) und Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (2017) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent u. a. mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2015. 2019 erhielt Philipp Ther den Wittgenstein-Preis, den höchstdotierten Wissenschaftspreis Österreichs.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Philipp Thers "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" hat den Rezensenten György Dalos sehr beeindruckt. Das Buch ist schön geschrieben, akribisch recherchiert und logisch einwandfrei in seinen Argumenten, so der Rezensent. Ther beschreibt die Geschichte des neoliberalen Europa seit dem Jahr 1989, dessen Umbrüche er auf die unbeabsichtigten Folgen der Reformen Gorbatschows zurückführt, berichtet Dalos. Es folgt eine genaue Untersuchung der sich wandelnden Ökonomien und politischen Strukturen der Ostblockstaaten, ihres Verhältnisses zum Westen, der Migration, der Finanzkrise und ihrer Folgen bis hin zum aktuellen Konflikt zwischen Putins Russland und der Ukraine, fasst der Rezensent zusammen, der mit der Lektüre mehr als zufrieden ist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014

Mit dem Sonderzug am Abgrund entlang

Historischer Weitblick, ökonomische Kurzsichtigkeit: Philipp Ther bilanziert die Versäumnisse in der jüngsten Geschichte Europas - und vernachlässigt den Westen des Kontinents.

Von Kim Christian Priemel

Mit dem Neoliberalismus ist es ein wenig wie mit der Pornographie, über die der amerikanische Verfassungsrichter Potter Stewart einmal sagte, er könne sie nicht definieren, erkenne sie aber, wenn er sie sehe. Der in Wien lehrende Osteuropa-Historiker Philipp Ther löst das Problem auf doppelt elegante Weise - einmal metaphorisch, wenn er neoliberales Denken als "funkelnden Expresszug, der Wachstum und Wohlstand verspricht", beschreibt; zum anderen analytisch, indem er in begrifflicher Unschärfe und konzeptioneller Anpassungsfähigkeit einen Schlüssel zur neoliberalen Hegemonie erkennt.

Der Zug nahm in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht zuletzt deswegen so rapide Fahrt auf, weil Zielort, Route und Reisekomfort nicht beliebig, aber doch situativ definierbar waren. Thers Band über "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" ist das famose Logbuch dieser langen Zugfahrt entlang des Abgrundes. Es setzt ein mit der Desintegration der staatssozialistischen Diktaturen seit den späten siebziger Jahren und vollzieht dann im Panoramablick, der große Linien ebenso wie lokale Unterschiede herausarbeitet, die Revolutionen der Jahre 1989 bis 1991 nach.

Deren überwiegend friedlichen Verlauf erklärt Ther teils aus dem bildungsbürgerlichen Sozialprofil der zentralen Akteure, teils aus der Unterschätzung durch die buchstäblich alten Eliten. Der Fahrplan, dem die neuen Demokratien in den neunziger Jahren folgten, war der des Washington Consensus (der, wie Ther klarstellt, nie konsensual war) und seines Dreiklanges aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, mithin ein Rückbau des Staates, in dem sich nicht nur die antikommunistische, sondern ebenso die antisozialdemokratische Stoßrichtung neoliberaler Vordenker spiegelt.

Dieser Zeitgeist prägte die Jahre des Umbruchs, mal in schrittweisen Reformen, mal in Gestalt der berüchtigten Schocktherapie des polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz, doch an allen postsozialistischen Schauplätzen hoffte man, auf den Wohlstandszug aufzuspringen. Wie eklatant Balcerowicz die kalkulierte Krise unterschätzte, ist bekannt, und auch an das tschechische Privatisierungsdesaster mag man sich hierzulande noch erinnern. Doch tut man aus deutscher Sicht gut daran, mit einer gehörigen Portion Demut auf die Schwierigkeiten der Nachbarn zu blicken.

Denn die radikalste Form der Schocktherapie findet Ther in der ehemaligen DDR, die über Nacht um ihre Währung und einen erheblichen Teil ihrer Kapitalien gebracht, dann nachhaltig deindustrialisiert wurde. Der in diesen Tagen wieder vielfach gefeierte historische Weitblick Helmut Kohls ging mit ökonomischer Kurzsichtigkeit, wenn nicht Ignoranz einher. Täuschte darüber zunächst der Reichtum der Bundesrepublik hinweg, die sich enorme Transferleistungen und das Treuhandfiasko leisten konnte, schlugen die Wiedervereinigungskosten doch bald auf die Sozialkassen durch und führten geradewegs in die westliche "Kotransformation", konkret: in die Agenda-Politik der rot-grünen Koalition.

Deren politische Vorbilder verortet Ther wiederum im neoliberalen Verheißungsdiskurs und, gewissermaßen eine Umdrehung weiter, in der Anleihe bei jenen osteuropäischen Staaten, die mit geschleiften Sozialsystemen, Einheitssteuersätzen und weit offenen Kapitalmärkten zu den Lieblingen der internationalen Finanzszene geworden waren.

Das ist keineswegs despektierlich oder gar, mit Blick auf die Abstürze Lettlands oder Sloweniens seit 2008, triumphalistisch gemeint. In einem Kapitel über die osteuropäischen Hauptstädte Berlin, Bratislava, Budapest, Prag, Warschau und Wien - erzählerisch wie analytisch das Herzstück der Studie - zeichnet Ther eindrucksvoll nach, wie verschieden die Neuerfindung der Metropolen nach 1990 verlief, und kontrastiert das kreative, in die Zukunft gewandte Warschau mit einem nicht nur architektonisch historistischen Berlin, das den Zug verpasste.

Statt sich nach Osten zu öffnen, pflegte man den überkommenen Sonderstatus des Westteils und fand auf die Abwicklung des Ost-Berliner Industriestandorts keine Antwort - übrigens auch, weil im Bankenskandal der Diepgen-Ära Milliarden versenkt wurden, gegen die sich die BER-Posse beinahe bescheiden ausnimmt. Die Schwierigkeiten, sich auf die neue Zeit einzustellen, hätten jedoch keineswegs bei den als "Jammerossis" Verunglimpften, tatsächlich aber überdurchschnittlich mobilen und anpassungsbereiten ehemaligen Brüdern und Schwestern gelegen, sondern bei einer bundesdeutschen Bevölkerung, die vor allem wollte, dass alles so weiterging wie bisher.

Von verpassten Chancen spricht Ther mehrfach, und an diesen Stellen gerät die zeithistorische Darstellung zum Plädoyer dafür, die osteuropäischen Transformationsleistungen zu würdigen - für sich und in ihren Auswirkungen auf ganz Europa. Kenntnisarme, aber meinungsstarke Kommentatoren wie Helmut Schmidt standen (und stehen) demnach repräsentativ für eine Mischung aus Ignoranz und Überheblichkeit westlich des früheren Eisernen Vorhanges, wenn es um den abzuwickelnden "Ostblock" ging.

Polenwitze zur Primetime begleiteten die Schließung sogenannter Polenmärkte und finden heute eine Entsprechung in vulgären Finanzmarktkürzeln à la PIGS für die finanziell schwer angeschlagenen Mittelmeerstaaten. Thers Kritik fällt an solchen Stellen wohltuend deutlich aus und unterstreicht, dass verbreitete Ängste ernst zu nehmen nicht gleichbedeutend damit ist, jenen nach dem Mund zu reden, die sie schüren, ob Haider oder Orbán, UKIP oder AfD.

Auf außenpolitischer Ebene gelten seine Sympathien erkennbar jenen, die die ukrainischen Reformer schon 2004/5 unterstützten; die deutsche Regierung schneidet entsprechend schlecht ab. Überraschend gut hingegen kommt die Europäische Union weg. Anders als der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck, der Brüssel kürzlich als Neoliberalisierungsagentur geißelte, betont Ther die großen Erfolge der europäischen Kohäsionspolitik sowohl für die Armutsbekämpfung als auch für die demokratische Stabilisierung - Ungarn gleichsam zum Trotz.

Dank zahlreicher klarer, anregender und überaus aktueller Bewertungen wird die Lektüre von Thers Buch auch dann nicht langweilig, wenn man den Eindruck hat, Ähnliches aus der Tagespresse zu erfahren oder doch zumindest erfahren zu können, wenn man so polyglott wäre wie der Autor. Die Aktualität hat indes in zweierlei Hinsicht ihren Preis.

Eine Geschichte des neoliberalen Europas, wie sie der Untertitel verspricht, bietet der Band zum einen deswegen nicht, weil abseits Deutschlands und Österreichs der Westen des Subkontinents im Grunde nicht auftaucht. Die wiederholt gezogenen Vergleichslinien zur gegenwärtigen Krisenpolitik sind zwar instruktiv, ersetzen aber nicht den breiteren Blick. Entsprechend ausgeblendet bleiben historisch weiter zurückreichende Perspektiven, die danach fragen, wie viel dessen, was Ther als kotransformative Effekte beschreibt - Stichwort Sozialkassen -, auf ältere Entwicklungen zurückgeht.

Zum anderen bleibt die Frage offen, wie viel Geschichtsschreibung in einer solchen Gegenwartsgeschichte eigentlich steckt. Gerade weil Ther das neoliberale Unausweichlichkeits-Narrativ in Frage stellt und konkrete Entscheidungen benennbarer Akteure betont, möchte man doch mehr über das Wie und Warum dieser Entscheidungen, über die Erfahrungen und Erwartungen der Entscheidenden wissen. Allein, dafür fehlen (noch) die Quellen, und so dominieren im Index die Orte, nicht die Menschen. Natürlich weiß Ther darum und warnt eingangs selbst vor der möglichen Kurzlebigkeit seiner Befunde. Für heute aber ist sein Buch allen Fahrgästen zu empfehlen.

Philipp Ther: "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent". Eine Geschichte des neoliberalen Europa.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 432 S., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014

Hallo
Europa!
Revolution, Neoliberalismus, Krise:
Philipp Ther erhellt die „neue Ordnung“
VON JENS BISKY
Im Jahr, in dem die polnische Opposition die kommunistische Partei an den runden Tisch zwang, in dem der 1958 erhängte Imre Nagy in Budapest feierlich beigesetzt wurde, in dem in Leipzig Zehntausende „Wir sind das Volk“ skandierten und in Prag „Havel na hrad“, verfasste der Ökonom John Williamson einen neoliberalen Dekalog. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das US-Finanzministerium hatten sich an der Festschreibung der zehn ökonomischen Gebote im „Washington Consensus“ beteiligt. Ursprünglich für die inflationsgepeinigten Länder Südamerikas gedacht, prägte der „Konsens“ bald auch die Umgestaltung der postkommunistischen Länder Osteuropas, die Transformation der Plan- in Marktwirtschaften. Im Mittelpunkt stand die Dreieinigkeit von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Zwar hieß es, dass im vormals sowjetisch dominierten Osten bald alles so werden würde wie im Westen, doch waren die neoliberalen Strategien dort – mit Ausnahme Großbritanniens – kaum erprobt worden. „Schocktherapie“ wurde die grundstürzende Liberalisierung in Polen genannt.
  Beide Geschichten werden gern getrennt erzählt: erst die heroische der Revolutionen, dann die zähe, von Arbeitslosigkeit, Armut, Enttäuschungen begleitete des ökonomischen Umbaus. Die säuberliche Scheidung in der Erinnerung bringt es mit sich, dass interessante Details lediglich als Kuriosa erscheinen. Zwei Beispiele aus Polen: Der Meisterdenker der Schocktherapie, Leszek Balcerowicz, konnte in den Siebzigern – damals war er noch Mitglied der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei – dank eines Stipendiums in den USA studieren und dort mit neoliberalen Lehren vertraut werden, bevor er als Vizepremier und Finanzminister der ersten nicht-kommunistischen Regierung Polen mit dem „Balcerowicz-Plan“ eine neoliberale, übrigens sehr erfolgreiche Radikalkur verordnete. Aleksander Kwaśniewski saß 1989 als Vertreter der Kommunisten am runden Tisch, 1995 gewann er die Präsidentschaftswahlen gegen Lech Wałęsa. Unter Kwaśniewski wurden die Wirtschaftsreformen modifiziert und korrigiert, aber grundsätzlich doch fortgesetzt; er führte Polen in die Nato und in die EU.
  Ähnliche Fälle buchenswerter Kontinuitäten und Diskontinuitäten lassen sich aus jedem der Transformationsländer berichten. Sie wären in ein Gesamtbild dessen einzuordnen, was wir, was Europa in den zurückliegenden fünfundzwanzig bis dreißig Jahren erlebt haben. Eben das ermöglicht Philipp Thers „Geschichte des neoliberalen Europa“. Ther lehrt Geschichte in Wien, er hat den Osten des Kontinents seit 1977 immer wieder bereist. In zehn Kapiteln versucht er nun eine Bilanz, von den gescheiterten Reformbemühungen in den sozialistischen Ländern bis hin zur gegenwärtigen Misere des europäischen Südens, dem ja wiederum mit neoliberalen Rezepten aufgeholfen werden soll.
  Der Autor verbirgt seine Reserve gegenüber den Dogmen von der Effizienz der Märkte und der Rationalität der Marktteilnehmer nicht, seine Darstellung unterscheidet sich jedoch wohltuend von der rechthaberischen Fundamentalkritik am Neoliberalismus, die dessen Hegemonie, dessen Verführungskraft und dessen Erfolge noch nie recht erklären konnte. Ther fragt lieber nach der Wirklichkeit, nach den Unterschieden zwischen markigen Reformreden, der Reklame mit Blick auf die Finanzmärkte, und der tatsächlichen Politik. Er interessiert sich für Paradoxien, nicht beabsichtigte Folgen und vergleicht die in Polen, Bulgarien, Ungarn, der Ukraine und Ostdeutschland doch sehr unterschiedlichen Ergebnisse einer insgesamt als neoliberal etikettierten Politik.
  Die Zeit scheint zu sein reif für eine Historisierung der jüngsten Vergangenheit: der Neoliberalismus, pragmatisch definiert durch Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, hat seinen Zenit überschritten; die Überzeugung, dass Marktwirtschaft und Demokratie notwendig und überall zusammengehören, wankt; Polen hat ein Wirtschaftswunder erlebt, in Griechenland entfaltet der Schock bislang kaum therapeutische Wirkungen. Thers historische Synthese ist zum Glück für Leser die Darstellung eines Zeitgenossen, reich an Material, urteilsstark und daher immer wieder Widerspruch provozierend.
  Neoliberale Argumente besaßen nach 1989 einige Verführungskraft. Versprochen war eine grundsätzliche Modernisierung, so wie ja auch der Staatssozialismus immer die Überwindung von Rückständigkeit verheißen hatte. Selber entscheiden, effizienter wirtschaften, besser leben – waren das nicht Ziele des europäischen Revolutionsjahres gewesen? Welch hoher Preis zu zahlen war, ahnte anfangs kaum einer. In Polen betrug die Inflation 1989 etwa 640 Prozent, unter Balcerowicz sank sie auf 60 Prozent im Jahr 1991. Die monatlichen Einkommen fielen auf oft unter 100 Mark.
  Ostdeutschland erlitt die schnellste Deindustrialisierung, hier allerdings kompensiert durch Einkommenssteigerungen dank des Umtausches im Verhältnis 1:1 und durch vergleichsweise großzügige Sozialleistungen. Arbeitslosigkeit wurde nahezu überall zum massenhaften Schicksal, doch begann die Wirtschaft von Mitte der Neunzigerjahre an in den Transformationsländern rasch zu wachsen. Überall aber kam es zu einer scharfen Scheidung zwischen prosperierenden urbanen Zentren und armen, von demografischer Auszehrung bedrohten Landstrichen
  Ther versteht es, Statistiken klug zu kommentieren. Er zeigt, wie erfolgreich Strukturhilfeprogramme der EU für alle waren. Auch wenn offiziell oft marktradikale Töne angeschlagen wurden, wirkte die EU-Politik ausgleichend, Ungleichheiten mildernd. Auch die Behauptung, hohe Sozialleistungen würden Wachstum hemmen, kann mit guten Gründen zurückgewiesen werden. Besser gelang der Umbau von Staat, Wirtschaft und Kultur dort, wo ein starker Staat vorhanden war, die Verwaltung funktionierte, wo Entscheidungen auf demokratischem Wege korrigiert werden konnten. Gegenbeispiele liefern Russland und die Ukraine.
  Aufschlussreich ist Thers Vergleich der Metropolen Berlin und Warschau. Warum war die Wirtschaftskraft der polnischen Hauptstadt von 2007 an größer als die der deutschen, obwohl an der Spree Umstände und Voraussetzungen doch vielfach günstiger erschienen? Ein Grund dürfte gewesen sein, dass in Warschau eine kräftige „Transformation von unten“ wenn schon nicht gefördert, so doch auch nicht behindert wurde. Hunderttausende machten sich selbständig, eröffneten Kioske, handelten auf Basaren. Die Entwicklung hatte bereits in der Volksrepublik Polen begonnen, die West-Berliner hatten sie früh auf dem Polenmarkt auf dem Potsdamer Platz kennenlernen können. Doch man fürchtete sich, erschwerte die Geschäfte, schürte Ressentiments und vertrieb die Händler. In Grenzorten an der Oder und der Neiße lief der Handel weiter, und so schwer Schätzungen in diesem Falle sind, einen Teil der dort 1996 umgesetzten sieben Milliarden Mark hätte Berlin gewiss gut gebrauchen können. Aber dafür war man sich ja zu vornehm. In Wien ließ man die Händler gewähren und profitierte entsprechend.
  Die Geschichten einer „Transformation von unten“ legen wichtige politische Fragen nahe: Wenn Marktwirtschaft und Demokratie zusammengehören, dann wäre über Partizipation im Kapitalismus zu reden, dann sind die vielen Kleinunternehmer und Selbständigen entscheidende und zu unterstützende Akteure. Das negative Beispiel dazu bietet der oligarchische Kapitalismus. Zugleich spricht einiges für Thers Annahme einer „Kotransformation“ der Länder, die schon aufgrund ihrer Geografie unmittelbar von den Transformationen in den vormaligen RGW-Ländern betroffen waren: Österreich etwa, auch Finnland und selbstverständlich Deutschland, das mit der Agenda 2010 Modernisierung nachholen musste. Im Süden war der Druck geringer, und das dürfte einer der Gründe für die derzeitigen ökonomischen Schwierigkeiten sein. Während allerdings im postkommunistischen Raum vor allem die Alten den Preis zahlen mussten, sind es in Südeuropa überwiegend die Jungen.
  Dieses elektrisierende Buch ist kein Plädoyer für Schocktherapien, eröffnet aber die Möglichkeit, aus den Erfahrungen und Krisen der zu Ende gehenden Periode zu lernen, zu schauen, wie es Lettland oder Tschechien, Italien oder Deutschland mit Investoren, Fremdwährungskrediten, Mobilitätshindernissen, Zuwanderungsängsten erging. Wer dieses Wissen ignoriert, der wird früher oder später hilflos und hektisch agieren müssen. Thers abwägende Bilanz zeichnet eindrücklich das Bild eines Kontinents, der nach dem Prinzip kommunizierender Röhren zu verstehen ist. Entwicklungen an einem Ort haben früher oder später Folgen für die anderen.
  „Hallo Europa“, schloss 1989 der Sprecher des slowakischen Bürgerforums eine Rede im österreichischen Hainburg. Das hieß, Europa normativ verstehen. Im alten Westen ist darauf mit mal intellektuellem, mal populistischem Abwehrzauber reagiert worden. Die Rezeptionsgeschichte der 89er Revolutionen war vielfach – Ther nennt bedrückende Beispiele – die Geschichte einer „Nicht-Rezeption“. 25 Jahre nach dem Mauerfall kann sich diese Borniertheit keiner mehr leisten, auch das gehört zur neuen Ordnung Europas.
Kiosk und Basar waren
Schauplätze wie Symbole einer
Transformation von unten
Philipp Ther:
Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen
Europa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
432 Seiten, 26,95 Euro.
Das Buch erscheint am 20. Oktober.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Dieses komplizierte Geschehen schildert Ther akribisch, präzise, stilistisch schön und logisch."
György Dalos, DIE ZEIT 01.10.2014
»Das Buch, das der Wiener Historiker Phillpp Ther über Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent geschrieben hat, öffnet tatsächlich die Augen.« boll Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20150315