Die Literatur der Welt ist in Bewegung: Als Ergebnis der Entkolonialisierung der 60er- und der Globalisierung der letzten 30 Jahre ist eine völlig neue, nicht-westliche Literatur entstanden, die zumeist von Migranten und Sprachwechslern aus ehemaligen Kolonien und Krisenregionen geschrieben wird. Nomadische Autoren erzählen farbig und prall, reflektiert und in den unterschiedlichsten Tönen Geschichten über gemischte Herkünfte und hybride Identitäten, transnationale Wanderungen und schwierige Integrationen. Sigrid Löffler stellt ihre wichtigsten Repräsentanten vor, ordnet ihre Werke bestechend und klug in die großen politisch-kulturellen Konfliktfelder der Gegenwart ein, von V.S. Naipaul, Salman Rushdie, Michael Ondaatje und J.M. Coetzee bis zu Aleksandar Hemon, Teju Cole und Gary Shteyngart.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2013Die ungelösten Rätsel der neuen Weltliteratur
Globalisierung und Migration haben nicht nur die Welt, sondern auch die Weltliteratur verändert. Sigrid Löffler wagt eine Bestandsaufnahme.
Von Hubert Spiegel
Niemand konnte ahnen, was die Ankunft dieses Schiffes für die Zukunft der Literatur bedeuten würde. Als die "Empire Windrush" am 22. Juni 1948 in England anlegte, hatte sie nicht nur 493 Passagiere aus Jamaika an Bord, die sich als die ersten westindischen Immigranten auf der Suche nach Arbeit und bescheidenem Wohlstand ins Herz des Commonwealth aufgemacht hatten, sondern auch das Potential zu einem Konflikt, der bis heute nicht beigelegt werden konnte, wie ein einziger Blick in ein Flüchtlingslager wie Lampedusa zeigt. Denn damals, nur drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zeichnete sich nicht nur weltweit das langsame Erlöschen der Kolonialherrschaft ab, sondern sie hörte auch auf, eine Einbahnstraße zu sein: Die Kolonisierten machten sich auf den Weg in die Heimat ihrer Kolonisatoren. Sie kamen als geladene Gäste, deren Arbeitskraft gebraucht wurde, aber empfangen wurden sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung wie Eindringlinge. Diese traumatische Erfahrung, die sich millionenfach wiederholen sollte, hatte gewaltige Folgen. Auch für die Literatur.
Im April 1948 war in einer Tageszeitung auf Jamaika eine Anzeige erschienen, in der Arbeitswilligen nicht nur ein Job, sondern auch eine günstige Überfahrt nach England in Aussicht gestellt wurde. Aber rasch zeigte sich, dass die Immigranten als Angehörige des Commonwealth zwar in der Regel einen britischen Pass besaßen und somit keinerlei Einwanderungsbeschränkungen unterlagen, ansonsten aber keinesfalls als gleichberechtigte Bewohner des britischen Empire betrachtet wurden. Nicht wenige der Zuwanderer hatten im Krieg für König und Vaterland gekämpft, aber nun wurden sie angefeindet, gedemütigt, als unliebsame Konkurrenten behandelt und nicht selten aus rassistischen Motiven attackiert. London, die legendäre Metropole, von der kaum ein Zuwanderer eine realistische Vorstellung besessen hatte, erwies sich als kalter und feindseliger Moloch, dem der Krieg Wunden geschlagen hatte, in denen sich die Abstiegsängste der britischen Nation festsetzten wie Blutegel. Das war die Situation, in die sich die Passagiere der "Empire Windrush" versetzt sahen wie nach ihnen Millionen anderer. Das erste literarische Werk, das diese Situation zu seinem Thema machte, erschien 1956 und ist bis heute nichts ins Deutsche übersetzt worden: Sam Selvons "The Lonely Londoners".
Es dauerte weiter dreißig Jahre, bis mit dem späteren Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul ein Schriftsteller die prägende Formel für eines der traumatischen Schlüsselerlebnisse der Migration gefunden hatte: "Das Rätsel der Ankunft". Naipauls gleichnamiges Buch erschien 1987 im Original und noch im selben Jahr in deutscher Übersetzung.
Selvon, der aus Trinidad stammte, schilderte in seiner "tragikomischen Chronik" die Erfahrungen seiner Schicksalsgefährten, die in "The Lonely Londoners" nicht als Opfer ungünstiger Umstände und einer feindseligen Umgebung erscheinen, sondern als findige und anpassungsfähige Überlebenskünstler. Eine Generation später hat sich Naipaul von einer solchen Gegenüberstellung verabschiedet und versucht sich in seinem Buch an einer "Synthese der Welten und Kulturen, die mich geformt haben".
Die Entkolonialisierung muss als entscheidendes Element gelten, das zur Entstehung einer neuartigen literarischen Strömung beigetragen hat, die keineswegs auf Großbritannien beschränkt geblieben ist. Andere Faktoren kamen hinzu: Kriege, Vertreibung, Diktaturen, Wirtschaftskrisen und Hungersnöte, ethnische Konflikte, die Globalisierung mit all ihren Konsequenzen. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hat diesem komplexen Phänomen nun eine umfangreiche Studie gewidmet: "Die neue Weltliteratur und ihre Erzählung" ist der Versuch, einen Überblick über jenen Teil der internationalen Literatur zu geben, der von Autoren verfasst wurde, die Migranten und Sprachwechsler sind, also ihre Heimat verlassen haben und ihre Bücher oft genug in einer Sprache verfassen, die nicht ihre Muttersprache ist. Entwurzelung, Entfremdung, Traditionsbruch und Kulturwechsel, Einsamkeit und Ablehnung sind die großen Themen dieser Bücher, deren Vielfalt in der Tat so groß ist, dass niemand für sich in Anspruch nehmen kann, diese "immense und weiter vor sich hin explodierende Materialmenge zu überblicken, geschweige denn zu meistern", wie Sigrid Löffler in ihrem Einleitungskapitel schreibt.
Aber wie geht man vor, wenn man es mit einer solchen Fülle des Materials zu tun hat und mit einer kaum zu überblickenden Anzahl wichtiger oder doch zumindest interessanter Autoren? Sigrid Löffler verfährt zunächst historisch-chronologisch, indem sie mit der Ankunft der ersten jamaikanischen Zuwanderer in England im Jahr 1948 beginnt und dann die drei großen Einwanderungswellen skizziert, mit denen England in der Nachkriegszeit konfrontiert war. Im Anschluss daran bringt sie Einzelporträts, etwa des Somaliers Nuruddin Farah, untersucht die Rolle, die Toronto und New York als klassische "Arrival Cities" zum Beispiel für jüdische Autoren aus der ehemaligen Sowjetunion spielen, und wendet sich im letzten Teil des Buches "Bürgerkriegen und Zerfallsgeschichten" zu, die an den Beispielen des Libanons und des ehemaligen Jugoslawiens verhandelt werden. Löfflers Schwerpunkt liegt also zunächst eindeutig auf "jenen Literaturen, die in den Ruinen des British Empire entstanden sind und von diesen - zumeist traumatischen - Hinterlassenschaften künden".
Diese Beschränkung ist verständlich, hat aber zur Folge, dass der nicht weniger spannende Bereich der frankophonen Literatur ausgeklammert wird, also Autoren wie Senghor, Glissant oder Marie N'Diaye keine Berücksichtigung finden. Und auch wenn Deutschland keine Kolonialmacht von der Bedeutung Englands und Frankreichs war, so gehören doch seit etlichen Jahren Autoren zur deutschsprachigen Literatur, die wie Naipaul oder Rushdie zu den "Sprachwechslern" und "Luftwurzlern" gezählt werden können. Dass Sigrid Löffler, die doch für ein deutschsprachiges Publikum schreibt, Autoren wie Terézia Mora, Feridun Zaimoglu, Sherko Fatah, Ilija Trojanow oder Emine Sevgi Özdamar kein eigenes Kapitel wert sind, ist mehr als bedauerlich.
Doch es bleiben immerhin rund fünfzig Schriftsteller und ihre Werke, die hier beschrieben und eingeordnet werden: Moderne Klassiker wie Doris Lessing, Chinua Achebe, J. M. Coetzee, V. S. Naipaul und Salman Rushdie, postmoderne Autoren wie Hanif Kureishi und Mohammed Hanif, in Deutschland noch immer zu wenig bekannte Schriftsteller wie der Inder Kiran Nagarkar, und schließlich die junge Generation, deren Angehörige mit dem postkolonialen Diskurs abgeschlossen haben und stattdessen wie Mohsin Hamid, Teju Cole und Taiye Selasi einem modernen Kosmopolitismus anhängen, der durchaus elitäre Züge aufweist. Sigrid Löffler stellt sie vor, skizziert ihre Entwicklung, referiert ihre Werke und zeigt gelegentlich, wie etwa im Fall der in Nigeria aufgewachsenen und heute teilweise in den Vereinigten Staaten lebenden Chimamanda Ngozi Adichie, auch die Traditionslinien auf, denen die Autoren verpflichtet sind.
Weil sie nicht einen Autor nach dem anderen abhandelt, geht es mitunter sprunghaft und nicht selten auch redundant zu. Wertungen und klare Urteile bleiben die Ausnahme, in der Fülle der Details verschwimmen die großen Linien, die gezogen werden müssten. So wird die Lektüre nach höchst anregendem Beginn schon nach halber Strecke zu einer freudlosen und auch ein wenig mühsamen Angelegenheit.
Sigrid Löfflers Literaturkenntnisse sind ohne Zweifel beeindruckend, und Respekt gebietet auch der Mut, mit dem sie sich an ihren Gegenstand gemacht hat. Eine profunde, für breitere Leserkreise geschriebene Auseinandersetzung mit dem Thema der "neuen Weltliteratur" war überfällig und hat auf ihren Autor gewartet. Doch Löfflers Buch weist zu viele offenkundige Mängel auf. Je unübersichtlicher das Feld, desto wichtiger ist es, die Grundbegriffe zu klären, mit denen es beackert werden soll. Wird der von Goethe geprägte Begriff "Weltliteratur" heute wirklich so eindeutig verwendet, dass man kein Wort über ihn verlieren muss? Wären nicht seitenlange Inhaltsangaben zu den Werken Doris Lessings entbehrlicher gewesen als eine kurze Einführung in die postkoloniale Literaturtheorie? Ist es nicht ein wenig fahrlässig, einen Begriff wie den der "Hybridität" so unbekümmert zu verwenden, dass nicht einmal ein Hinweis auf seine Herkunft und seinen umstrittenen Gebrauch für nötig erachtet wird?
Ein Ärgernis ist die erstaunliche Anzahl von Binsenweisheiten. So heißt es etwa in der Einleitung: "England ist heute nicht mehr, was es vor sechzig Jahren war." Für welches Land der Welt würde dieser Satz nicht gelten? Irritieren muss auch die zum Teil gedankenlos wirkende Übernahme überholter Sprachmuster: Wenn "arme Schlucker aus Übersee" in ihren "dünnen Tropen-Klamotten" darauf warten, dass es endlich Sommer wird und die englischen Mädchen "ihre Sommerfähnchen hissen und bereit sind, sich im Hyde Park mit hübschen Boys aus der Karibik in die Büsche zu schlagen", ist das eine Anhäufung altbackener Klischees, die man im Zusammenhang dieses Buches wahrlich nicht erwartet hätte.
Man muss es leider so deutlich sagen: So verheißungsvoll Sigrid Löffler ihr Vorhaben im Einleitungskapitel ankündigt, so enttäuschend ist oft dessen Umsetzung. Angekündigt wird die Kartografierung von Literaturlandschaften, "doch so, dass sie in Literaturerzählungen überführt werden. Literaturgeschichte wird in Form von Literaturgeschichten dargestellt, wobei der kulturelle Resonanzraum immer mit anklingt. Der Kontext zu den Texten wird mit angesprochen. Und die Politik liefert die Hintergrundgeräusche." Wie das klingt, zeigt sich zum Beispiel auf Seite 61, wenn Salman Rushdies mühsamer Weg zu einer "überlegenen kosmopolitischen Gelassenheit" skizziert wird und es heißt: "Die 1980er Jahre waren das Jahrzehnt Margaret Thatchers. Unter ihrer Regierung hatten Zuwanderer wenig zu lachen." Ein wenig mehr Hintergrundgeräusch hätte es da schon sein dürfen.
Sigrid Löffler: "Die neue Weltliteratur und ihre Erzähler".
C. H. Beck Verlag, München 2013. 344 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Globalisierung und Migration haben nicht nur die Welt, sondern auch die Weltliteratur verändert. Sigrid Löffler wagt eine Bestandsaufnahme.
Von Hubert Spiegel
Niemand konnte ahnen, was die Ankunft dieses Schiffes für die Zukunft der Literatur bedeuten würde. Als die "Empire Windrush" am 22. Juni 1948 in England anlegte, hatte sie nicht nur 493 Passagiere aus Jamaika an Bord, die sich als die ersten westindischen Immigranten auf der Suche nach Arbeit und bescheidenem Wohlstand ins Herz des Commonwealth aufgemacht hatten, sondern auch das Potential zu einem Konflikt, der bis heute nicht beigelegt werden konnte, wie ein einziger Blick in ein Flüchtlingslager wie Lampedusa zeigt. Denn damals, nur drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zeichnete sich nicht nur weltweit das langsame Erlöschen der Kolonialherrschaft ab, sondern sie hörte auch auf, eine Einbahnstraße zu sein: Die Kolonisierten machten sich auf den Weg in die Heimat ihrer Kolonisatoren. Sie kamen als geladene Gäste, deren Arbeitskraft gebraucht wurde, aber empfangen wurden sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung wie Eindringlinge. Diese traumatische Erfahrung, die sich millionenfach wiederholen sollte, hatte gewaltige Folgen. Auch für die Literatur.
Im April 1948 war in einer Tageszeitung auf Jamaika eine Anzeige erschienen, in der Arbeitswilligen nicht nur ein Job, sondern auch eine günstige Überfahrt nach England in Aussicht gestellt wurde. Aber rasch zeigte sich, dass die Immigranten als Angehörige des Commonwealth zwar in der Regel einen britischen Pass besaßen und somit keinerlei Einwanderungsbeschränkungen unterlagen, ansonsten aber keinesfalls als gleichberechtigte Bewohner des britischen Empire betrachtet wurden. Nicht wenige der Zuwanderer hatten im Krieg für König und Vaterland gekämpft, aber nun wurden sie angefeindet, gedemütigt, als unliebsame Konkurrenten behandelt und nicht selten aus rassistischen Motiven attackiert. London, die legendäre Metropole, von der kaum ein Zuwanderer eine realistische Vorstellung besessen hatte, erwies sich als kalter und feindseliger Moloch, dem der Krieg Wunden geschlagen hatte, in denen sich die Abstiegsängste der britischen Nation festsetzten wie Blutegel. Das war die Situation, in die sich die Passagiere der "Empire Windrush" versetzt sahen wie nach ihnen Millionen anderer. Das erste literarische Werk, das diese Situation zu seinem Thema machte, erschien 1956 und ist bis heute nichts ins Deutsche übersetzt worden: Sam Selvons "The Lonely Londoners".
Es dauerte weiter dreißig Jahre, bis mit dem späteren Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul ein Schriftsteller die prägende Formel für eines der traumatischen Schlüsselerlebnisse der Migration gefunden hatte: "Das Rätsel der Ankunft". Naipauls gleichnamiges Buch erschien 1987 im Original und noch im selben Jahr in deutscher Übersetzung.
Selvon, der aus Trinidad stammte, schilderte in seiner "tragikomischen Chronik" die Erfahrungen seiner Schicksalsgefährten, die in "The Lonely Londoners" nicht als Opfer ungünstiger Umstände und einer feindseligen Umgebung erscheinen, sondern als findige und anpassungsfähige Überlebenskünstler. Eine Generation später hat sich Naipaul von einer solchen Gegenüberstellung verabschiedet und versucht sich in seinem Buch an einer "Synthese der Welten und Kulturen, die mich geformt haben".
Die Entkolonialisierung muss als entscheidendes Element gelten, das zur Entstehung einer neuartigen literarischen Strömung beigetragen hat, die keineswegs auf Großbritannien beschränkt geblieben ist. Andere Faktoren kamen hinzu: Kriege, Vertreibung, Diktaturen, Wirtschaftskrisen und Hungersnöte, ethnische Konflikte, die Globalisierung mit all ihren Konsequenzen. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hat diesem komplexen Phänomen nun eine umfangreiche Studie gewidmet: "Die neue Weltliteratur und ihre Erzählung" ist der Versuch, einen Überblick über jenen Teil der internationalen Literatur zu geben, der von Autoren verfasst wurde, die Migranten und Sprachwechsler sind, also ihre Heimat verlassen haben und ihre Bücher oft genug in einer Sprache verfassen, die nicht ihre Muttersprache ist. Entwurzelung, Entfremdung, Traditionsbruch und Kulturwechsel, Einsamkeit und Ablehnung sind die großen Themen dieser Bücher, deren Vielfalt in der Tat so groß ist, dass niemand für sich in Anspruch nehmen kann, diese "immense und weiter vor sich hin explodierende Materialmenge zu überblicken, geschweige denn zu meistern", wie Sigrid Löffler in ihrem Einleitungskapitel schreibt.
Aber wie geht man vor, wenn man es mit einer solchen Fülle des Materials zu tun hat und mit einer kaum zu überblickenden Anzahl wichtiger oder doch zumindest interessanter Autoren? Sigrid Löffler verfährt zunächst historisch-chronologisch, indem sie mit der Ankunft der ersten jamaikanischen Zuwanderer in England im Jahr 1948 beginnt und dann die drei großen Einwanderungswellen skizziert, mit denen England in der Nachkriegszeit konfrontiert war. Im Anschluss daran bringt sie Einzelporträts, etwa des Somaliers Nuruddin Farah, untersucht die Rolle, die Toronto und New York als klassische "Arrival Cities" zum Beispiel für jüdische Autoren aus der ehemaligen Sowjetunion spielen, und wendet sich im letzten Teil des Buches "Bürgerkriegen und Zerfallsgeschichten" zu, die an den Beispielen des Libanons und des ehemaligen Jugoslawiens verhandelt werden. Löfflers Schwerpunkt liegt also zunächst eindeutig auf "jenen Literaturen, die in den Ruinen des British Empire entstanden sind und von diesen - zumeist traumatischen - Hinterlassenschaften künden".
Diese Beschränkung ist verständlich, hat aber zur Folge, dass der nicht weniger spannende Bereich der frankophonen Literatur ausgeklammert wird, also Autoren wie Senghor, Glissant oder Marie N'Diaye keine Berücksichtigung finden. Und auch wenn Deutschland keine Kolonialmacht von der Bedeutung Englands und Frankreichs war, so gehören doch seit etlichen Jahren Autoren zur deutschsprachigen Literatur, die wie Naipaul oder Rushdie zu den "Sprachwechslern" und "Luftwurzlern" gezählt werden können. Dass Sigrid Löffler, die doch für ein deutschsprachiges Publikum schreibt, Autoren wie Terézia Mora, Feridun Zaimoglu, Sherko Fatah, Ilija Trojanow oder Emine Sevgi Özdamar kein eigenes Kapitel wert sind, ist mehr als bedauerlich.
Doch es bleiben immerhin rund fünfzig Schriftsteller und ihre Werke, die hier beschrieben und eingeordnet werden: Moderne Klassiker wie Doris Lessing, Chinua Achebe, J. M. Coetzee, V. S. Naipaul und Salman Rushdie, postmoderne Autoren wie Hanif Kureishi und Mohammed Hanif, in Deutschland noch immer zu wenig bekannte Schriftsteller wie der Inder Kiran Nagarkar, und schließlich die junge Generation, deren Angehörige mit dem postkolonialen Diskurs abgeschlossen haben und stattdessen wie Mohsin Hamid, Teju Cole und Taiye Selasi einem modernen Kosmopolitismus anhängen, der durchaus elitäre Züge aufweist. Sigrid Löffler stellt sie vor, skizziert ihre Entwicklung, referiert ihre Werke und zeigt gelegentlich, wie etwa im Fall der in Nigeria aufgewachsenen und heute teilweise in den Vereinigten Staaten lebenden Chimamanda Ngozi Adichie, auch die Traditionslinien auf, denen die Autoren verpflichtet sind.
Weil sie nicht einen Autor nach dem anderen abhandelt, geht es mitunter sprunghaft und nicht selten auch redundant zu. Wertungen und klare Urteile bleiben die Ausnahme, in der Fülle der Details verschwimmen die großen Linien, die gezogen werden müssten. So wird die Lektüre nach höchst anregendem Beginn schon nach halber Strecke zu einer freudlosen und auch ein wenig mühsamen Angelegenheit.
Sigrid Löfflers Literaturkenntnisse sind ohne Zweifel beeindruckend, und Respekt gebietet auch der Mut, mit dem sie sich an ihren Gegenstand gemacht hat. Eine profunde, für breitere Leserkreise geschriebene Auseinandersetzung mit dem Thema der "neuen Weltliteratur" war überfällig und hat auf ihren Autor gewartet. Doch Löfflers Buch weist zu viele offenkundige Mängel auf. Je unübersichtlicher das Feld, desto wichtiger ist es, die Grundbegriffe zu klären, mit denen es beackert werden soll. Wird der von Goethe geprägte Begriff "Weltliteratur" heute wirklich so eindeutig verwendet, dass man kein Wort über ihn verlieren muss? Wären nicht seitenlange Inhaltsangaben zu den Werken Doris Lessings entbehrlicher gewesen als eine kurze Einführung in die postkoloniale Literaturtheorie? Ist es nicht ein wenig fahrlässig, einen Begriff wie den der "Hybridität" so unbekümmert zu verwenden, dass nicht einmal ein Hinweis auf seine Herkunft und seinen umstrittenen Gebrauch für nötig erachtet wird?
Ein Ärgernis ist die erstaunliche Anzahl von Binsenweisheiten. So heißt es etwa in der Einleitung: "England ist heute nicht mehr, was es vor sechzig Jahren war." Für welches Land der Welt würde dieser Satz nicht gelten? Irritieren muss auch die zum Teil gedankenlos wirkende Übernahme überholter Sprachmuster: Wenn "arme Schlucker aus Übersee" in ihren "dünnen Tropen-Klamotten" darauf warten, dass es endlich Sommer wird und die englischen Mädchen "ihre Sommerfähnchen hissen und bereit sind, sich im Hyde Park mit hübschen Boys aus der Karibik in die Büsche zu schlagen", ist das eine Anhäufung altbackener Klischees, die man im Zusammenhang dieses Buches wahrlich nicht erwartet hätte.
Man muss es leider so deutlich sagen: So verheißungsvoll Sigrid Löffler ihr Vorhaben im Einleitungskapitel ankündigt, so enttäuschend ist oft dessen Umsetzung. Angekündigt wird die Kartografierung von Literaturlandschaften, "doch so, dass sie in Literaturerzählungen überführt werden. Literaturgeschichte wird in Form von Literaturgeschichten dargestellt, wobei der kulturelle Resonanzraum immer mit anklingt. Der Kontext zu den Texten wird mit angesprochen. Und die Politik liefert die Hintergrundgeräusche." Wie das klingt, zeigt sich zum Beispiel auf Seite 61, wenn Salman Rushdies mühsamer Weg zu einer "überlegenen kosmopolitischen Gelassenheit" skizziert wird und es heißt: "Die 1980er Jahre waren das Jahrzehnt Margaret Thatchers. Unter ihrer Regierung hatten Zuwanderer wenig zu lachen." Ein wenig mehr Hintergrundgeräusch hätte es da schon sein dürfen.
Sigrid Löffler: "Die neue Weltliteratur und ihre Erzähler".
C. H. Beck Verlag, München 2013. 344 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013Die Einwanderung der Auswanderer
Very british: Sigrid Löffler porträtiert „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ –
aber sie beschränkt sich dabei weitgehend auf die englischsprachige Literatur
VON INA HARTWIG
Wenn eine herausragende Literaturkritikerin von so spitzer Feder wie Sigrid Löffler sich der „neuen Weltliteratur“ widmet, horcht man auf. Das Thema ist gut gewählt. Seit Jahren beobachtet man eine Autorengeneration, die geprägt ist durch weltweite Wanderungsbewegung. Löffler spricht von der „migrantischen Moderne“, der sie Autoren mit Wurzeln in den früheren Commonwealth-Ländern genauso zurechnet wie jene, die aus den Bürgerkriegsregionen wie Irak, Libanon oder dem zerfallenden Jugoslawien stammen. Die einen gehören einer neuen globalen, polyglotten Elite an, mit akademischem Elternhaus, Studium an den efeubewachsenen Universitäten der USA, und einem angenehmen Pendelleben zwischen den Kontinenten; sie erfüllen die Kriterien des „Kosmopoliten“.
Auf der anderen Seite finden sich jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion, die der Zufall in eines der großen westlichen Einwandererländer – meist die USA oder Kanada – spült, wo deren Kinder dann die Landessprache aufsaugen. Auf der unteren Stufe in dieser Weltenwandererhierarchie stehen die Kriegsflüchtlinge; mit etwas Glück landen sie in Ländern, die den Nachkommen die Chance geben, aufzusteigen in der neuen Heimat. Der Sprachwechsel, konstatiert Löffler denn auch, kennzeichne die meisten der von ihr behandelten Autoren.
Und hier beginnen schon die Fragen: Was macht den Sprachwechsel, der immer schon zur Literatur gehörte, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, zu einem Kennzeichen der „neuen Weltliteratur“? Um es gleich zu sagen: Der Begriff ist zu hoch gehängt, aus zwei Gründen. Zum einen, weil die meisten der von Löffler behandelten Erzähler gar nicht durchweg so "groß" sind, wie der Untertitel verspricht. (Viele haben überhaupt erst einen Roman veröffentlicht.) Zum zweiten, weil hier nur ein Ausschnitt gezeigt wird, der durch die „globale Verkehrssprache“, das Englische, definiert und damit begrenzt ist.
Auch wenn es heißt, „ein Gesamtüberblick“ sei „weder angestrebt noch möglich“, weckt der Titel „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ eben genau diese Erwartung, und die wird leider enttäuscht. Hinzu kommt das methodisch schwer zu lösende Problem, wie die neue, post-postkoloniale Migration sich von der Generation der Klassiker des Postkolonialismus absetze. Löffler lässt viele etablierte, um nicht zu sagen weltberühmte Namen Revue passieren; von dem Südafrikaner J.M. Coetzee, der in Rhodesien geborenen Doris Lessing und dem aus Trinidad stammenden V.S. Naipaul – drei Nobelpreisträger, die ihre kolonisierten Herkunftsländer als junge Erwachsene Richtung England verließen, wo sie die ersten schmerzhaften Ankunftserfahrungen machten – bis zum indisch-britischen Salman Rushdie, dem Somalier Nurrudin Farrah und dem Kenianer Ngugi wa Thiong’o. Bei diesen internationalen Stars darf man von „großen“ Autoren sprechen, deren Lektürerlebnisse allerdings, um nur Coetzees schockartige Entdeckung Becketts zu nennen, womöglich prägender für ihre Schriftstellerwerdung waren als die Migrationserfahrung als solche. Nebenbei, auch Beckett war ein Sprachenwechsler.
Ausgerechnet Sigrid Löffler, deren glänzende, furchtlose Polemiken legendär sind, wirkt diesmal seltsam eingeschüchtert. Ihre Zusammenfassungen kleben am Stoff und der Biographie des Autors und vermitteln nur selten den poetischen Reiz oder die literarische Qualität der vorgestellten Werke. Es wirkt, als ließen die Grausamkeiten und die schreiende Ungerechtigkeit, die der Kolonialismus mit sich brachte und in seinen Nachwirkungen weiterhin bringt, die Kritikerin förmlich moralisch in die Knie gehen. So gewinnt man den Eindruck, die „neue Weltliteratur“ diene vor allem der Verarbeitung persönlicher Schicksale und der Illustration verzweifelter politischer Situationen.
Es gibt, glücklicherweise, Ausnahmen. Eine solche ist der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole, dessen Debüt „Open City“ auch hierzulande sehr beachtet wurde; wohlweislich hat der 1975 in den USA geborene, in Lagos aufgewachsene, heute in Brooklyn lebende Autor seinen afrikanischen Geburtsnamen abgelegt. Unter dem Nom de plume Cole hat er ziemlich cool mit nur einem Roman die internationale Literaturszene erobert: Erzählt wird eine Flanerie durch New York, die unter der Oberfläche der Stadtbegehung durch Julius, einem gebildeten Mahler-Liebhaber und angehenden Psychiater mit nigerianisch-deutschem Background, beunruhigende Schichten sichtbar werden lässt; die Sklavengeschichte der Stadt genauso wie Julius’ eigene, jedoch vergessene gewalttätige Vorgeschichte.
Als „Hommage an New York und als Plädoyer für die Unendlichkeit kultureller Differenz, die diese Stadt ermöglicht“ deutet Löffler den Roman, ohne dem Rätsel seines Erfolgs damit auf den Grund zu gehen. Ob Cole nun ein herausragender Vertreter einer neuen hybriden Identität ist, die sich selbstbewusst gegen den Chauvinismus der alten Kolonialmächte und Nationalstaaten abgrenzt, oder ein melancholischer Kosmopolit der globalen Gegenwart: Mit „Open City“ hat er einen Coup gelandet, weil er an die Hauptströme der europäisch-amerikanischen Literaturgeschichte andockt: an die Tradition der Selbsterkundung in der großen modernen Stadt.
Ähnliches gilt für die französische Autorin Marie NDiaye, auch sie eines der interessantesten literarischen Talente der Gegenwart. Dass sie bei Löffler gar nicht vorkommt, ist eigentlich unverzeihlich. Die Tochter eines Senegalesen und einer Französin, deren Roman „Drei starke Frauen“ 2009 den Prix Goncourt erhielt, greift mit ihren filigranen, traurigen afrikanischen Frauengeschichten auf den psychologischen Roman von Madame de la Fayette bis Flaubert zurück. Im klassischen Repertoire kühn zu wildern, um gegenwärtige Migrations- und Fluchtgeschichten zu erzählen, das ist das eigentlich Spannende.
Und Marie NDiaye ist gewiss eine „größere“ Autorin als die selbsternannte „Afropolitin“ Taiye Selasi, deren Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ unlängst in Deutschland als Sensation verkauft wurde; und deren kalkuliertes Selbstbewusstsein sogar Löffler auf die Nerven fällt. Warum wiederum unter den wenigen deutschsprachigen Autoren ausgerechnet Sherko Fatah, der gebürtige Ostberliner einer deutschen Mutter und eines irakisch-kurdischen Vaters, ausführlich gewürdigt wird (und nicht die Sprachwechslerinnen Terézia Mora und Olga Martynowa), leuchtet nur mit Mühe ein.
Irgendwann bricht die nach Konfliktregionen geordnete Darstellung einfach ab. Ein Resümee, eine originelle, weiterführende Verknüpfung der Hauptmotive fehlt. Das ist schade, da man theoretisch hungrig gehalten wird. Die Referenzen erschöpfen sich bald zwischen Kwame Anthony Appiahs Studie über den „Kosmopoliten“ und Doug Saunders „Die neue Völkerwanderung – Arrival City“. Dazwischen, angelehnt an Tzvetan Todorov, wird behauptet, die neuen Erzählungen machten „uns unsere eigene Patchwork-Identität als universale Gegebenheit bewusst.“ Ach, really?
Ansonsten gilt die Fixierung auf englischsprachige Literatur, die zudem bereits ins Deutsche übersetzt wurde. Dass in den Literaturangaben die Übersetzer ins Deutsche komplett fehlen, ist schon kein Fauxpas mehr, sondern vielleicht ein fernes Echo des untergegangenen Commonwealth, das die eigene Sprache eben doch für die wichtigste der Welt hält.
Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. C. H. Beck Verlag, München 2013. 344 Seiten, 19,95 Euro.
Der Sprachwechsel gehört seit je
zur Literatur – was macht ihn zum
Zeichen „neuer Weltliteratur“?
Wo speist die Lektüre, wo ihre
Migrationserfahrung das
Schreiben der Autoren?
Schauplätze der „neuen Weltliteratur“: ein
Second-Hand-Buchmarkt in Neu Delhi und London
nach dem Ende des Empire. FOTO: PRAKASH SINGH/AFP, DPA/PA
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Very british: Sigrid Löffler porträtiert „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ –
aber sie beschränkt sich dabei weitgehend auf die englischsprachige Literatur
VON INA HARTWIG
Wenn eine herausragende Literaturkritikerin von so spitzer Feder wie Sigrid Löffler sich der „neuen Weltliteratur“ widmet, horcht man auf. Das Thema ist gut gewählt. Seit Jahren beobachtet man eine Autorengeneration, die geprägt ist durch weltweite Wanderungsbewegung. Löffler spricht von der „migrantischen Moderne“, der sie Autoren mit Wurzeln in den früheren Commonwealth-Ländern genauso zurechnet wie jene, die aus den Bürgerkriegsregionen wie Irak, Libanon oder dem zerfallenden Jugoslawien stammen. Die einen gehören einer neuen globalen, polyglotten Elite an, mit akademischem Elternhaus, Studium an den efeubewachsenen Universitäten der USA, und einem angenehmen Pendelleben zwischen den Kontinenten; sie erfüllen die Kriterien des „Kosmopoliten“.
Auf der anderen Seite finden sich jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion, die der Zufall in eines der großen westlichen Einwandererländer – meist die USA oder Kanada – spült, wo deren Kinder dann die Landessprache aufsaugen. Auf der unteren Stufe in dieser Weltenwandererhierarchie stehen die Kriegsflüchtlinge; mit etwas Glück landen sie in Ländern, die den Nachkommen die Chance geben, aufzusteigen in der neuen Heimat. Der Sprachwechsel, konstatiert Löffler denn auch, kennzeichne die meisten der von ihr behandelten Autoren.
Und hier beginnen schon die Fragen: Was macht den Sprachwechsel, der immer schon zur Literatur gehörte, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, zu einem Kennzeichen der „neuen Weltliteratur“? Um es gleich zu sagen: Der Begriff ist zu hoch gehängt, aus zwei Gründen. Zum einen, weil die meisten der von Löffler behandelten Erzähler gar nicht durchweg so "groß" sind, wie der Untertitel verspricht. (Viele haben überhaupt erst einen Roman veröffentlicht.) Zum zweiten, weil hier nur ein Ausschnitt gezeigt wird, der durch die „globale Verkehrssprache“, das Englische, definiert und damit begrenzt ist.
Auch wenn es heißt, „ein Gesamtüberblick“ sei „weder angestrebt noch möglich“, weckt der Titel „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ eben genau diese Erwartung, und die wird leider enttäuscht. Hinzu kommt das methodisch schwer zu lösende Problem, wie die neue, post-postkoloniale Migration sich von der Generation der Klassiker des Postkolonialismus absetze. Löffler lässt viele etablierte, um nicht zu sagen weltberühmte Namen Revue passieren; von dem Südafrikaner J.M. Coetzee, der in Rhodesien geborenen Doris Lessing und dem aus Trinidad stammenden V.S. Naipaul – drei Nobelpreisträger, die ihre kolonisierten Herkunftsländer als junge Erwachsene Richtung England verließen, wo sie die ersten schmerzhaften Ankunftserfahrungen machten – bis zum indisch-britischen Salman Rushdie, dem Somalier Nurrudin Farrah und dem Kenianer Ngugi wa Thiong’o. Bei diesen internationalen Stars darf man von „großen“ Autoren sprechen, deren Lektürerlebnisse allerdings, um nur Coetzees schockartige Entdeckung Becketts zu nennen, womöglich prägender für ihre Schriftstellerwerdung waren als die Migrationserfahrung als solche. Nebenbei, auch Beckett war ein Sprachenwechsler.
Ausgerechnet Sigrid Löffler, deren glänzende, furchtlose Polemiken legendär sind, wirkt diesmal seltsam eingeschüchtert. Ihre Zusammenfassungen kleben am Stoff und der Biographie des Autors und vermitteln nur selten den poetischen Reiz oder die literarische Qualität der vorgestellten Werke. Es wirkt, als ließen die Grausamkeiten und die schreiende Ungerechtigkeit, die der Kolonialismus mit sich brachte und in seinen Nachwirkungen weiterhin bringt, die Kritikerin förmlich moralisch in die Knie gehen. So gewinnt man den Eindruck, die „neue Weltliteratur“ diene vor allem der Verarbeitung persönlicher Schicksale und der Illustration verzweifelter politischer Situationen.
Es gibt, glücklicherweise, Ausnahmen. Eine solche ist der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole, dessen Debüt „Open City“ auch hierzulande sehr beachtet wurde; wohlweislich hat der 1975 in den USA geborene, in Lagos aufgewachsene, heute in Brooklyn lebende Autor seinen afrikanischen Geburtsnamen abgelegt. Unter dem Nom de plume Cole hat er ziemlich cool mit nur einem Roman die internationale Literaturszene erobert: Erzählt wird eine Flanerie durch New York, die unter der Oberfläche der Stadtbegehung durch Julius, einem gebildeten Mahler-Liebhaber und angehenden Psychiater mit nigerianisch-deutschem Background, beunruhigende Schichten sichtbar werden lässt; die Sklavengeschichte der Stadt genauso wie Julius’ eigene, jedoch vergessene gewalttätige Vorgeschichte.
Als „Hommage an New York und als Plädoyer für die Unendlichkeit kultureller Differenz, die diese Stadt ermöglicht“ deutet Löffler den Roman, ohne dem Rätsel seines Erfolgs damit auf den Grund zu gehen. Ob Cole nun ein herausragender Vertreter einer neuen hybriden Identität ist, die sich selbstbewusst gegen den Chauvinismus der alten Kolonialmächte und Nationalstaaten abgrenzt, oder ein melancholischer Kosmopolit der globalen Gegenwart: Mit „Open City“ hat er einen Coup gelandet, weil er an die Hauptströme der europäisch-amerikanischen Literaturgeschichte andockt: an die Tradition der Selbsterkundung in der großen modernen Stadt.
Ähnliches gilt für die französische Autorin Marie NDiaye, auch sie eines der interessantesten literarischen Talente der Gegenwart. Dass sie bei Löffler gar nicht vorkommt, ist eigentlich unverzeihlich. Die Tochter eines Senegalesen und einer Französin, deren Roman „Drei starke Frauen“ 2009 den Prix Goncourt erhielt, greift mit ihren filigranen, traurigen afrikanischen Frauengeschichten auf den psychologischen Roman von Madame de la Fayette bis Flaubert zurück. Im klassischen Repertoire kühn zu wildern, um gegenwärtige Migrations- und Fluchtgeschichten zu erzählen, das ist das eigentlich Spannende.
Und Marie NDiaye ist gewiss eine „größere“ Autorin als die selbsternannte „Afropolitin“ Taiye Selasi, deren Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ unlängst in Deutschland als Sensation verkauft wurde; und deren kalkuliertes Selbstbewusstsein sogar Löffler auf die Nerven fällt. Warum wiederum unter den wenigen deutschsprachigen Autoren ausgerechnet Sherko Fatah, der gebürtige Ostberliner einer deutschen Mutter und eines irakisch-kurdischen Vaters, ausführlich gewürdigt wird (und nicht die Sprachwechslerinnen Terézia Mora und Olga Martynowa), leuchtet nur mit Mühe ein.
Irgendwann bricht die nach Konfliktregionen geordnete Darstellung einfach ab. Ein Resümee, eine originelle, weiterführende Verknüpfung der Hauptmotive fehlt. Das ist schade, da man theoretisch hungrig gehalten wird. Die Referenzen erschöpfen sich bald zwischen Kwame Anthony Appiahs Studie über den „Kosmopoliten“ und Doug Saunders „Die neue Völkerwanderung – Arrival City“. Dazwischen, angelehnt an Tzvetan Todorov, wird behauptet, die neuen Erzählungen machten „uns unsere eigene Patchwork-Identität als universale Gegebenheit bewusst.“ Ach, really?
Ansonsten gilt die Fixierung auf englischsprachige Literatur, die zudem bereits ins Deutsche übersetzt wurde. Dass in den Literaturangaben die Übersetzer ins Deutsche komplett fehlen, ist schon kein Fauxpas mehr, sondern vielleicht ein fernes Echo des untergegangenen Commonwealth, das die eigene Sprache eben doch für die wichtigste der Welt hält.
Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. C. H. Beck Verlag, München 2013. 344 Seiten, 19,95 Euro.
Der Sprachwechsel gehört seit je
zur Literatur – was macht ihn zum
Zeichen „neuer Weltliteratur“?
Wo speist die Lektüre, wo ihre
Migrationserfahrung das
Schreiben der Autoren?
Schauplätze der „neuen Weltliteratur“: ein
Second-Hand-Buchmarkt in Neu Delhi und London
nach dem Ende des Empire. FOTO: PRAKASH SINGH/AFP, DPA/PA
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Katharina Granzin hatte sich von Sigrid Löfflers "Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler" mehr erwartet, zum einen, weil sie die Autorin als Herausgeberin der Zeitschrift "Literaturen" sehr schätzt, zum andern, weil der Titel so vollmundig Großes verspricht. Wäre sie ohne Erwartungen an dieses Buch gegangen, wahrscheinlich hätte es ihr gefallen, vermutet die Rezensentin, die Zusammenfassungen der Bücher von etwa V.S. Naipaul oder Ngugi wa Thiong'o fand sie schließlich alle sehr schön. Aber Granzin vermisst den roten Faden: weder führt Löffler aus, was das Spezifische dieser "neuen Literatur" sei, noch gibt sie einen angemessenen Überblick über so etwas wie eine "Literatur mit migrantischem Hintergrund", wenn es denn nur darum ging, erklärt die Rezensentin. Für ein stimmiges Buch hätten Verlag und Autorin mehr tun müssen als "Literaturen"-Manuskripte "an den Rändern zu tackern", meint Granzin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es ist ein notwendiges, geradezu fälliges und überfälliges Buch. Ich werde die "Weltliteratur" zu meinen Nachschlagewerken stellen und jedes Mal, wenn ich es benutze, dankbare Stoßseufzer senden. Ihre Konzeption, die angloamerikanische Migrationsliteratur exemplarisch darzustellen, ist so richtig. Die Phänomene sind dort im Unterschied zu unseren relativ verspäteten Verhältnissen bereits voll ausgebildet. Werke wie das Naipauls lassen sich schon im Überblick betrachten und damit das ganze Spektrum der Verwerfungen studieren, die sie beobachtet." -- Sybille Cramer, Jurorin der SWR-Bestenliste 16.12.2013
"Ich habe gerade die Lektüre [des] Buches beendet und dabei erstens ein großes Vergnügen gehabt und zweitens sehr viel gelernt, ja mehr als das, eine Erweiterung meines Horizonts erfahren, meines Weltwissens. Das Vergnügen verdankt sich ihrer sicheren Darstellungs- und Benennungskunst und das Gelernte ihrer fabelhaften Belesenheit und Fähigkeit, das Gelesene in Erkanntes und Begriffenes zu überführen. Das Buch ist wichtig, notwendig und kommt zur richtigen Zeit. Eine Pioniertat. Vor ihr hat sich niemand auf dieses Terrain gewagt. Ich jedenfalls möchte dafür danken." -- Sybille Knauss, Schriftstellerin ("Fremdling") 20.12.2013
"Ich habe gerade die Lektüre [des] Buches beendet und dabei erstens ein großes Vergnügen gehabt und zweitens sehr viel gelernt, ja mehr als das, eine Erweiterung meines Horizonts erfahren, meines Weltwissens. Das Vergnügen verdankt sich ihrer sicheren Darstellungs- und Benennungskunst und das Gelernte ihrer fabelhaften Belesenheit und Fähigkeit, das Gelesene in Erkanntes und Begriffenes zu überführen. Das Buch ist wichtig, notwendig und kommt zur richtigen Zeit. Eine Pioniertat. Vor ihr hat sich niemand auf dieses Terrain gewagt. Ich jedenfalls möchte dafür danken." -- Sybille Knauss, Schriftstellerin ("Fremdling") 20.12.2013