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Seit über dreißig Jahren erfindet und erzählt Ljudmila Petruschewskaja, Mutter von drei Kindern , Märchen. Nach dem vielbeachteten Band "Der Mann, der wie eine Rose roch" - dessen Qualität, wie die FAZ urteilte, "besonders in der knappen Präzision" der "liebevoll ausgearbeiteten" Texte lag - hat sie nun aus ihrem unerschöpflichen Märchenfundus erneut eine Auswahl zusammengestellt.

Produktbeschreibung
Seit über dreißig Jahren erfindet und erzählt Ljudmila Petruschewskaja, Mutter von drei Kindern , Märchen. Nach dem vielbeachteten Band "Der Mann, der wie eine Rose roch" - dessen Qualität, wie die FAZ urteilte, "besonders in der knappen Präzision" der "liebevoll ausgearbeiteten" Texte lag - hat sie nun aus ihrem unerschöpflichen Märchenfundus erneut eine Auswahl zusammengestellt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.1998

Marianne hieß mal Anne
Ausgangspunkt Alltag: Ljudmila Petruschewskajas Märchen

Juri Trifonow, bis dahin Autor von Büchern, die ins gewohnte Bild paßten, legte mit "Wohnungstausch" 1969 die erste seiner Moskauer Geschichten vor, die in eine trübe Atmosphäre getaucht waren. Sie zeigten flügellosen Alltag, in dem sich die Moskauer Mittelschicht tummelte, Ingenieure und Angestellte, Halbstudierte und Halbmächtige. Die wollten nicht stolz auf Arbeitsergebnisse verweisen, sie wollten durch legale und illegale Beziehungen ihre viel zu kleine Wohnfläche vergrößern, sich die begehrten Importartikel nicht durch Anstehen erkämpfen müssen, und so herrschten Muffigkeit, Kleinlichkeit, Gezänk.

Im gleichen Jahr 1969 veröffentlichte Natalja Baranskaja, eine Generation älter als Trifonow, ihre Geschichte mit dem ganz programmatischen Titel "Woche für Woche", in der eine Frau die ewige Wiederkehr der gleichmäßigen Abläufe erlebt, mit schweren Einkaufstaschen und vollen Bussen und einem ruppigen und schwachen Ehemann; die eigene Fähigkeit zu herausragenden beruflichen Leistungen, zu denen sie sich hingezogen fühlt, verkommt - nicht durch tragische Zuspitzung, sondern durch das Gleichmaß eines flügellosen Lebens.

Noch einmal das gleiche Jahr 1969: von Georgi Semjonow erschien "Abends nach dem Regen", eine Geschichte, in der das Unspektakuläre, das eine Suche nach dem Sinn des Lebens nicht zuläßt, fast ganz durch die Naturstimmung ausgedrückt wird. Tristesse. Die Richtung setzte sich durch, auch wenn sie heftig bekämpft wurde, und es ist kein Zufall, daß vor allem Frauen, die noch immer die Bedrückungen des Alltags intensiver empfinden müssen als ihre Männer, jetzt zu Wort kamen: Viktoria Tokarewa und Tatjana Tolstaja (die Enkelin des Schriftstellers Alexei Tolstoi), Irina Grekowa (eine gestandene Mathematikprofessorin) - und, als eine der Talentiertesten, Ljudmila Petruschewskaja.

Auch sie hatte es schwer, gedruckt zu werden, wie die anderen auch. Sie trat gleichzeitig als Dramatikerin und als Prosaautorin auf, Alexei Arbusow, der Patriarch des russischen Theaters, wünschte ihr 1979 einen guten Weg in der Literatur und auf der Bühne. Sie leistete Bedeutendes bei der Entdeckung eines neuen Weltbereichs: bei der Analyse der Empfindlichkeiten, Wünsche und der seelischen Gestörtheiten, die den Alltag in Breschnews stagnierendem Reich zunehmend bestimmten.

Solche im wesentlichen naturalistischen Perioden braucht jede Literatur immer wieder mal: Wenn sich die Haltlosigkeit gewohnter Deklarationen und Ideale herausstellt, schürfen talentierte Autoren eine Schicht tiefer nach der Wahrheit. Das Ermittelte stellt sich am besten in Geschichten dar, die nichts erzählen, selten von einer Handlungslinie bestimmt werden, sondern durch das Material selbst. Es geht dabei nicht um ein neues soziales Milieu, sondern um seelische Verhaltensweisen.

In der Geschichte der Weltliteratur sind solche naturalistischen Phasen nie von langer Dauer gewesen. Und wenngleich die Stagnation in Rußland noch nicht zu Ende ist, wird sich das wohl nicht fortsetzen. Schriftsteller wollen nicht bloß konstatieren, vielmehr sollen Gegenbilder den Sinn des Menschseins entschlüsseln. Geschichten sind zu erzählen, in denen die Zeitgenossen mit ihren oft verwunderlichen Verhaltensweisen sich irgendwohin bewegen, zum Staunen der Leser und oft genug auch der Autoren.

Die Märchen, die Ljudmila Petruschewskaja nun schon seit einiger Zeit schreibt, scheinen ein Weg zu sein, der zu solchen Gegenbildern führt. Das Verfahren wiederholt sich in den fünfzehn Märchengeschichten des Buchs: Der erste Satz bietet einen Einstieg in eine normale Alltagssituation, die das Milieu zänkischer Hausfrauen in Mehrfamilienwohnungen, Domino spielender Rentner im Hof und stupider Säufer an der Ecke erwarten läßt, doch schon der zweite Satz entführt uns ins Märchenhafte. Der Samowar kann nun mit dem Teekessel trefflich darüber streiten, wozu man auf der Welt ist, und die im Winter verlassene Datsche mit ihrem undichten Dach bietet nur den Hintergrund dafür.

Ein Mädchen kauft sich eine Sonnenbrille und stellt fest, daß es eine Zauberbrille ist, die unendlich vergrößert und auch ferne Welten erkennbar werden läßt. Mehr noch: Das Mädchen durchschaut alles besser in der zänkischen, kleinlichen Atmosphäre, sie vermag in Distanz zu ihr zu treten und sich ihr entgegenzustellen. Die Methode der Umkehrung wird zum herausgestellten Schreibverfahren - statt des Königs Lear mit seiner Tochter Cordelia erleben wir die Königin Lear mit ihrem Sohn Cordelius, und wir sehen, wie sie, eine Zeitlang nur, während eines Raubzuges auf dem "Kuhdamm", alles ganz anders machen will.

Wozu schreibt man Märchen? Um die Phantasie der Leser zu entwickeln? Um den eigenen Enkeln eine Freude zu machen? Um an eine heile, kindliche Welt zu erinnern, die anders war als dieses ewige, unerfreuliche Einerlei? Besonders gern führt unsere Autorin Zaubermotive ein - und die Welt der russischen Volksmärchen ist an Zaubermärchen ungewöhnlich reich -, die durch ihren Verfremdungseffekt die Verkehrtheiten einer Welt aufdecken, die von Menschen gemacht wurde, ihnen nun aber fremd geworden ist. Nur weil ein Zauberer, der schon siebzehnmal verheiratet war, bei der blonden Zwillingsschwester abgeblitzt war, verwandelte er sie beide, die blonde Marie und die schwarze Anne, in die entsetzlich dicke Marianne, der es dann beschieden ist, mit ihrem staunenswerten Auftreten am Tag viel Geld zu verdienen und sich des Nachts in melancholischem Tanz ihrer beiden Bestandteile miteinander an ihre Eltern, ihre Heimat, ihr eigentliches Leben zu erinnern. Das bringt ihre Lebensordnung gehörig durcheinander.

Besonders anstrengend war die Arbeit eines anderen Magiers, der einen Zauberspiegel herstellte. Die Schöne Helena, die als Meerschaumgeborene die feste Erde unseres Alltags betritt (zum Märchenmotiv treten gleich noch zwei große Menschheitslegenden), wird sich darin spiegeln und unsichtbar werden, und statt des menschenvernichtenden Krieges, der nach dem Erscheinen der Schönen Helena bisher immer ausgebrochen ist, wird eine phantastische Liebe möglich. Das Märchen kehrt die Verkehrtheiten der Märchen um. ROLAND OPITZ

Ljudmila Petruschewskaja: "Die neuen Abenteuer der Schönen Helena". Märchen für Erwachsene. Aus dem Russischen übersetzt von Antje Leetz. Berlin Verlag, Berlin 1998. 201 S., geb., 36,- DM.

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