Deutschland ist aus seiner Behaglichkeit gerissen worden. Die «Flüchtlingskrise» hat die Grundprobleme unserer Gesellschaft sichtbar gemacht und gezeigt, dass das alte Deutschland unwiderruflich vergangen ist.
Herfried und Marina Münkler betten die aktuelle Situation - jenseits der Aufgeregtheiten der Tagespolitik - in den historischen Zusammenhang ein und weisen darauf hin, dass Wanderungs- und Fluchtbewegungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Deutschland hat sich immer wieder - mit neuen Menschen - neu aufgestellt. Das wird auch heute nicht ohne Brüche und Probleme abgehen: Mächtige, oft divergierende Kräfte werden in der deutschen Gesellschaft freigesetzt. Wie können sie beherrscht werden, was muss man tun, damit wir ihnen nicht wehrlos gegenüberstehen? Herfried und Marina Münkler benennen die Risiken und Gefahren präzise und realistisch; gleichzeitig zeigen sie aber auch die großen Chancen auf, die sich uns bieten.
Die neuen Deutschen - das sind wir. Nur wenn wir die Grundfragen klären, in welchem Land wir leben wollen, wie es sich verändern soll und wie nicht, kann dieser größte Umbruch seit der Wiedervereinigung gelingen.
Herfried und Marina Münkler betten die aktuelle Situation - jenseits der Aufgeregtheiten der Tagespolitik - in den historischen Zusammenhang ein und weisen darauf hin, dass Wanderungs- und Fluchtbewegungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Deutschland hat sich immer wieder - mit neuen Menschen - neu aufgestellt. Das wird auch heute nicht ohne Brüche und Probleme abgehen: Mächtige, oft divergierende Kräfte werden in der deutschen Gesellschaft freigesetzt. Wie können sie beherrscht werden, was muss man tun, damit wir ihnen nicht wehrlos gegenüberstehen? Herfried und Marina Münkler benennen die Risiken und Gefahren präzise und realistisch; gleichzeitig zeigen sie aber auch die großen Chancen auf, die sich uns bieten.
Die neuen Deutschen - das sind wir. Nur wenn wir die Grundfragen klären, in welchem Land wir leben wollen, wie es sich verändern soll und wie nicht, kann dieser größte Umbruch seit der Wiedervereinigung gelingen.
Dieses Buch leistet, was eigentlich die Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre. Der Spiegel
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Pragmatismus ist nun mal nicht ohne eine gehörige Portion ungemütlichen Realismus zu haben, glaubt Rezensent Jan Feddersen, und auch Herfried und Marina Münkler scheinen das so zu sehen. Ihre politische Streitschrift zu Migration und Integration ist durchaus nicht ohne Optimismus, aber keine Erbauungsschrift, sondern vor allem auf eines angelegt, befindet Feddersen: aufs Gelingen. Mit klugen Thesen, praktischen Vorschlägen und realistischen Lösungsansätzen liefern sie seiner Ansicht nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Debatte, sondern ermutigen und treiben zum Handeln an. Da kann Feddersen nur applaudieren - und anpacken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2016Fremde und Selbstbild
Die Flüchtlingsfrage polarisiert. Doch die Politik weicht drängenden Fragen zur Einwanderung aus.
Da kommt das kühl analysierende Buch von Marina und Herfried Münkler gerade recht
VON ANDREAS ZIELCKE
Jeder, der sich heute mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt, stößt auf drei Kernfragen: Welche Rolle spielt der humanitäre Aspekt für die Aufnahme von Flüchtlingen? In welchem Maß sind Industriestaaten wie Deutschland aus demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen? Inwiefern fällt die Frage nationaler oder kultureller Identität ins Gewicht, vor allem bei Zuwanderern aus islamischen Regionen?
Kein Einwanderungskonzept bekommt diese konträren Perspektiven widerspruchsfrei auf die Reihe. Selbst wer alles auf die nur scheinbar rein pragmatische Frage zuspitzt, welche Mengen von Flüchtlingen wir „verkraften“ und integrieren können, muss klären, welcher der drei Perspektiven er de facto den Vorrang einräumt. „Wir schaffen das“ ist die Parole des humanitären Affekts, der keine Obergrenzen kennt. Der Ruf nach einer Einwanderungspolitik, die den Zustrom nach dem Bedarf des Arbeitsmarkts steuert, aber auch deckelt, gehorcht der zweiten Sichtweise, dem ökonomischen Kalkül. Und für alle, die wegen massenhafter Zuwanderung den Verlust nationaler oder kultureller Identität befürchten, kann die Eingangsschleuse gar nicht eng genug sein.
Wie bei jedem Zielkonflikt zwischen unverträglichen Prioritäten ist auch dieser weder moralphilosophisch noch technokratisch zu lösen. Zu lösen ist er nur politisch. Bislang allerdings weicht die deutsche Politik der grundsätzlichen Debatte aus, auch wenn alles Drumherumdrücken um das heiße Eisen nicht hilft, die Polarisierung des Landes über die wachsende Zahl von Fremden zu dämpfen. Im Gegenteil, das Verdrängen macht das Eisen nur heißer und die AfD nur größer.
Da kommt der über weite Strecken kühl und besonnen analysierende Anstoß zu dieser Debatte von Marina und Herfried Münkler gerade recht. Dass sie ihr Buch unter den Titel „Die neuen Deutschen“ stellen, heißt zuallererst, dass dieses Land seinen Werten nur treu bleiben kann, wenn es im Zuge der Immigration auch sein Selbstbild in Bewegung bringt.
Das erinnert an Tomasi di Lampedusas viel zitierte Weisheit im „Leopard“ („Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern“) und trifft auch hier den Punkt. Dass allerdings das Flüchtlingsproblem nur einen Ausschnitt dieser Weisheit abdeckt, weil der Veränderungsdruck auf alles Nationale ohnehin durch Globalisierung, Klimawandel, Europa, Internationalisierung der Kultur, Kosmopolitisierung et cetera unwiderstehlich ist, spart das Buch aus. Migration ist so gesehen nur das ausdrucksstärkste Bewegungsbild des laufenden Selbstwandels aller Nationalstaaten.
Das Buch ist ein Kompositum, dem die unterschiedlichen Handschriften der beiden Autoren anzumerken sind – sie, die Dresdner Literaturwissenschaftlerin, aber auch im schulischen Umgang mit Flüchtlingskindern erfahrene Lehrerin; er, der bekannte Berliner Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. Die stilistische Flexibilität schadet freilich schon deshalb nicht, weil natürlich auch dieses Buch die drei zentrifugalen Kernfragen nicht auf einen narrativen Nenner bringen kann.
Darum wechselt es nicht nur den Blickwinkel je nach behandelter Problematik, sondern gelegentlich auch den rhetorischen Modus von akademisch abgeklärter Beschreibung hin zum Plädoyer. Dieser letztere Modus, die moralische Tonart, ist zwar im Buch die Ausnahme. Doch wenn es sich den Fluchtgründen zuwendet und hier exemplarisch den extremen Grausamkeiten, vor denen so viele Flüchtlinge aus Syrien fliehen, ist gegen appellative Folgerungen nichts einzuwenden:
„Bis zum dramatischen Anschwellen der Flüchtlingsströme war in Europa das angestrengte Wegschauen die vorherrschende Reaktion. Man kann darin eine besondere Form von Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit sehen. Im Katalog der Laster ist die Hartherzigkeit die kleine Schwester der Grausamkeit . . . Die Verpflichtung, den Flüchtlingen als Opfern von Grausamkeit zu helfen, ist umso größer, je weniger Schritte vorher unternommen wurden, diese Grausamkeiten zu beenden.“
Dass gerade humanitäre (militärische) Interventionen auf Realismus verpflichtet sind, um ungewollte desaströse Folgen wie jene in Libyen zu vermeiden, betonen die Autoren selbst. Realismus verlangt selbstverständlich auch die hiesige Aufnahme von Zuwandernden, die Mord und Totschlag entfliehen. Allerdings weicht auch dieses Buch der Krux aus, dass aus dem Moralgebot, aufnehmen zu sollen, nicht der Schluss folgt, aufnehmen zu können. Immerhin entschärft sich dieses Dilemma zumindest hierzulande, solange die wohlhabende Bundesrepublik trotz der Menge der bisher eintreffenden Bürgerkriegsflüchtlinge nicht wirklich an ihre Kapazitätsgrenzen stößt.
Mag man, wie die Autoren, unterstellen, dass das humanitäre Gebot auf „Not- und Ausnahmesituationen“ der Katastrophenflüchtlinge beschränkt ist, so gilt ihre Aufmerksamkeit umso ausführlicher der zweiten Kernfrage, dem Zusammenhang von Immigration, Arbeitsmarkt und Wohlstand. Hier holen sie weit in der Geschichte aus und veranschaulichen besonders am klassischen Stadt-Land-Gefälle, wie urbane und dann industrielle Zentren stets unter zu geringer „biologischer Reproduktion“ litten und diesen Mangel durch Zuzug aus agrarischen und weniger entwickelten Zonen („soziale Reproduktion“) auszugleichen pflegten.
Die Prämisse, dass der deutsche Wohlstand und das „gute Leben“ nur durch Zuwanderung aufrechtzuerhalten ist, hat es jedoch in mehrfacher Hinsicht in sich. Nicht nur, weil sie auch als Brückenargument für jene gilt, die aus Gründen des vermeintlichen Identitätsschutzes prinzipiell für Abschottung sind, aber ungern die Prosperität des Landes dahinschwinden sehen wollen. Vielmehr auch, weil hier komplexe ökonomische Unterstellungen eingehen: Vertragen sich die akuten Anforderungen des Arbeitsmarkts überhaupt mit den langfristigen Anforderungen des demografisch immer prekärer werdenden Rentensystems?
Besteht der Sog auf externe Arbeitskräfte auch künftig fort trotz unaufhaltsamer Umstellung der Ökonomie auf Automatisierung und Digitalisierung? Um welche hiesigen, nicht exportierbaren Arbeitsplätze geht es bei Immigranten, wenn das unternehmerische Kapital auch in ihre Herkunftsländer wandern kann? Sind das nicht, außer dem Segment der hochbegehrten Facharbeiter, hauptsächlich die unterbezahlten Diener-, Pflege-und saisonalen Aushilfskräfte, die ein neofeudales System zementieren? Und in größerer Perspektive: Was folgt für die Arbeitsmigration, wenn der heutige Wohlstand auf einem ökologischen Auslaufmodell beruht?
Das so dringend benötige Einwanderungsgesetz, um das sich die Politik hartnäckig drückt, müsste anspruchsvoll und flexibel genug sein, um in diesen Problemfeldern reagieren zu können. Dem Buch, das keine wirtschaftswissenschaftliche Studie ist, kann man nicht vorwerfen, dass es die Fragen, die der „ökokomische Imperativ“ für die Immigration und für die wirtschaftliche und soziale Struktur aufwirft, allenfalls ankratzen kann. Einen Punkt benennen sie wiederholt, nämlich die Vorbehalte, die seit je Gewerkschaften gegen zuwandernde Arbeitskräfte hegen.
Sehr viel ertragreicher sind die soziologischen Exkurse im Buch. Auch sie blenden in die Geschichte zurück und geben dem aktuellen Flüchtlingsproblem, das ja nicht nur hier, sondern in allen Länder Hysterien auslöst, eine geradezu entspannende historische Tiefendimension. Im Zentrum steht die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen „Grenze“ und grenzüberschreitenden (Bevölkerungs-)„Strömen“, also des ewigen Widerspiels zwischen stationärer und fluider, zwischen heimatverbundener und nomadischer Gesellschaft.
Dabei fällt nicht unter den Tisch, dass den meist erzwungenen nomadischen Flüchtlingsexistenzen heute eine internationale Elite mit ihrem ganz eigenen, freiwilligen nomadischen Dasein gegenübersteht, in ständiger Bewegung zwischen den Machtzentren dieser Welt. Man hätte diesen „neo-liberalen Nomadismus“ auch als Beispiel einer problematischen Parallelgesellschaft erfassen können. Das tun die beiden Autoren zwar nicht, aber ihre Untersuchung der Parallelgesellschaften gehört mit zum Besten und Differenziertesten, was man in letzter Zeit hierzu lesen kann.
Was aber hat es nun mit den „neuen Deutschen“ auf sich? Die Autoren sind klug genug, sich erst gar nicht auf eine Definition des „Deutschen“ einzulassen. Das Neue, soweit es denn tatsächlich erst noch neu zu schaffen ist, läuft auf zwei Maximen hinaus: Zum einen muss das Land den Flüchtlingen, ob aus Armut oder Kriegsnot hierhergekommen, als offene Gesellschaft begegnen. Das ist die Absage an alle Propheten einer ethnischen oder sonst wie „identitären“ Nation. Dass die Offenheit eine zweiseitige Angelegenheit ist, die Alteingesessene und Neuankömmlinge betrifft, ist die unausweichliche, aber im Falle des Gelingens produktive Dialektik, an der jede Integration in Deutschland auszurichten ist. Offenheit ist nicht gleichzusetzen mit offener Grenze – nicht zuletzt deshalb, weil keine kulturellen Faktoren importiert werden dürfen, die (wie die Unterdrückung von Frauen) eben dieser Freiheit und Offenheit widersprechen.
Die andere, abschließende Maxime lautet: „Der entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz sein.“ Gemeint ist hier nicht nur, dass sich jeder, auch jeder Alteingesessene, an das gesetzliche Regelwerk des Landes zu halten hat; gemeint ist auch nicht nur ein politisch verstandener Verfassungspatriotismus.
Gemeint ist eine normativ aufgeladene „Identitätszuschreibung“, ein rechtliches, politisches und soziales Anforderungsprofil, das als einziges geeignet ist, Einheimische und Neue freiheitlich zu integrieren: das Grundgesetz als Norm- und Handlungsmodell. Mehr als Stichworte liefert das Buch dafür nicht, so lässt es nur ahnen, wohin die Reise führen muss. Bei allem Zweckoptimismus macht es aber klar: Legen sich nicht beide Seiten ins Zeug, kann die Integration jederzeit scheitern.
Die Autoren wechseln nicht
nur den Blickwinkel, sondern
auch den rhetorischen Modus
„Der Identitätsmarker der
Deutschen muss das Bekenntnis
zum Grundgesetz sein.“
Herfried Münkler,
Marina Münkler,
Die neuen Deutschen.
Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Berlin 2016,
316 Seiten, 19,95 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Kanzlerin Angela Merkel im September 2015 in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau.Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Flüchtlingsfrage polarisiert. Doch die Politik weicht drängenden Fragen zur Einwanderung aus.
Da kommt das kühl analysierende Buch von Marina und Herfried Münkler gerade recht
VON ANDREAS ZIELCKE
Jeder, der sich heute mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt, stößt auf drei Kernfragen: Welche Rolle spielt der humanitäre Aspekt für die Aufnahme von Flüchtlingen? In welchem Maß sind Industriestaaten wie Deutschland aus demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen? Inwiefern fällt die Frage nationaler oder kultureller Identität ins Gewicht, vor allem bei Zuwanderern aus islamischen Regionen?
Kein Einwanderungskonzept bekommt diese konträren Perspektiven widerspruchsfrei auf die Reihe. Selbst wer alles auf die nur scheinbar rein pragmatische Frage zuspitzt, welche Mengen von Flüchtlingen wir „verkraften“ und integrieren können, muss klären, welcher der drei Perspektiven er de facto den Vorrang einräumt. „Wir schaffen das“ ist die Parole des humanitären Affekts, der keine Obergrenzen kennt. Der Ruf nach einer Einwanderungspolitik, die den Zustrom nach dem Bedarf des Arbeitsmarkts steuert, aber auch deckelt, gehorcht der zweiten Sichtweise, dem ökonomischen Kalkül. Und für alle, die wegen massenhafter Zuwanderung den Verlust nationaler oder kultureller Identität befürchten, kann die Eingangsschleuse gar nicht eng genug sein.
Wie bei jedem Zielkonflikt zwischen unverträglichen Prioritäten ist auch dieser weder moralphilosophisch noch technokratisch zu lösen. Zu lösen ist er nur politisch. Bislang allerdings weicht die deutsche Politik der grundsätzlichen Debatte aus, auch wenn alles Drumherumdrücken um das heiße Eisen nicht hilft, die Polarisierung des Landes über die wachsende Zahl von Fremden zu dämpfen. Im Gegenteil, das Verdrängen macht das Eisen nur heißer und die AfD nur größer.
Da kommt der über weite Strecken kühl und besonnen analysierende Anstoß zu dieser Debatte von Marina und Herfried Münkler gerade recht. Dass sie ihr Buch unter den Titel „Die neuen Deutschen“ stellen, heißt zuallererst, dass dieses Land seinen Werten nur treu bleiben kann, wenn es im Zuge der Immigration auch sein Selbstbild in Bewegung bringt.
Das erinnert an Tomasi di Lampedusas viel zitierte Weisheit im „Leopard“ („Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern“) und trifft auch hier den Punkt. Dass allerdings das Flüchtlingsproblem nur einen Ausschnitt dieser Weisheit abdeckt, weil der Veränderungsdruck auf alles Nationale ohnehin durch Globalisierung, Klimawandel, Europa, Internationalisierung der Kultur, Kosmopolitisierung et cetera unwiderstehlich ist, spart das Buch aus. Migration ist so gesehen nur das ausdrucksstärkste Bewegungsbild des laufenden Selbstwandels aller Nationalstaaten.
Das Buch ist ein Kompositum, dem die unterschiedlichen Handschriften der beiden Autoren anzumerken sind – sie, die Dresdner Literaturwissenschaftlerin, aber auch im schulischen Umgang mit Flüchtlingskindern erfahrene Lehrerin; er, der bekannte Berliner Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. Die stilistische Flexibilität schadet freilich schon deshalb nicht, weil natürlich auch dieses Buch die drei zentrifugalen Kernfragen nicht auf einen narrativen Nenner bringen kann.
Darum wechselt es nicht nur den Blickwinkel je nach behandelter Problematik, sondern gelegentlich auch den rhetorischen Modus von akademisch abgeklärter Beschreibung hin zum Plädoyer. Dieser letztere Modus, die moralische Tonart, ist zwar im Buch die Ausnahme. Doch wenn es sich den Fluchtgründen zuwendet und hier exemplarisch den extremen Grausamkeiten, vor denen so viele Flüchtlinge aus Syrien fliehen, ist gegen appellative Folgerungen nichts einzuwenden:
„Bis zum dramatischen Anschwellen der Flüchtlingsströme war in Europa das angestrengte Wegschauen die vorherrschende Reaktion. Man kann darin eine besondere Form von Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit sehen. Im Katalog der Laster ist die Hartherzigkeit die kleine Schwester der Grausamkeit . . . Die Verpflichtung, den Flüchtlingen als Opfern von Grausamkeit zu helfen, ist umso größer, je weniger Schritte vorher unternommen wurden, diese Grausamkeiten zu beenden.“
Dass gerade humanitäre (militärische) Interventionen auf Realismus verpflichtet sind, um ungewollte desaströse Folgen wie jene in Libyen zu vermeiden, betonen die Autoren selbst. Realismus verlangt selbstverständlich auch die hiesige Aufnahme von Zuwandernden, die Mord und Totschlag entfliehen. Allerdings weicht auch dieses Buch der Krux aus, dass aus dem Moralgebot, aufnehmen zu sollen, nicht der Schluss folgt, aufnehmen zu können. Immerhin entschärft sich dieses Dilemma zumindest hierzulande, solange die wohlhabende Bundesrepublik trotz der Menge der bisher eintreffenden Bürgerkriegsflüchtlinge nicht wirklich an ihre Kapazitätsgrenzen stößt.
Mag man, wie die Autoren, unterstellen, dass das humanitäre Gebot auf „Not- und Ausnahmesituationen“ der Katastrophenflüchtlinge beschränkt ist, so gilt ihre Aufmerksamkeit umso ausführlicher der zweiten Kernfrage, dem Zusammenhang von Immigration, Arbeitsmarkt und Wohlstand. Hier holen sie weit in der Geschichte aus und veranschaulichen besonders am klassischen Stadt-Land-Gefälle, wie urbane und dann industrielle Zentren stets unter zu geringer „biologischer Reproduktion“ litten und diesen Mangel durch Zuzug aus agrarischen und weniger entwickelten Zonen („soziale Reproduktion“) auszugleichen pflegten.
Die Prämisse, dass der deutsche Wohlstand und das „gute Leben“ nur durch Zuwanderung aufrechtzuerhalten ist, hat es jedoch in mehrfacher Hinsicht in sich. Nicht nur, weil sie auch als Brückenargument für jene gilt, die aus Gründen des vermeintlichen Identitätsschutzes prinzipiell für Abschottung sind, aber ungern die Prosperität des Landes dahinschwinden sehen wollen. Vielmehr auch, weil hier komplexe ökonomische Unterstellungen eingehen: Vertragen sich die akuten Anforderungen des Arbeitsmarkts überhaupt mit den langfristigen Anforderungen des demografisch immer prekärer werdenden Rentensystems?
Besteht der Sog auf externe Arbeitskräfte auch künftig fort trotz unaufhaltsamer Umstellung der Ökonomie auf Automatisierung und Digitalisierung? Um welche hiesigen, nicht exportierbaren Arbeitsplätze geht es bei Immigranten, wenn das unternehmerische Kapital auch in ihre Herkunftsländer wandern kann? Sind das nicht, außer dem Segment der hochbegehrten Facharbeiter, hauptsächlich die unterbezahlten Diener-, Pflege-und saisonalen Aushilfskräfte, die ein neofeudales System zementieren? Und in größerer Perspektive: Was folgt für die Arbeitsmigration, wenn der heutige Wohlstand auf einem ökologischen Auslaufmodell beruht?
Das so dringend benötige Einwanderungsgesetz, um das sich die Politik hartnäckig drückt, müsste anspruchsvoll und flexibel genug sein, um in diesen Problemfeldern reagieren zu können. Dem Buch, das keine wirtschaftswissenschaftliche Studie ist, kann man nicht vorwerfen, dass es die Fragen, die der „ökokomische Imperativ“ für die Immigration und für die wirtschaftliche und soziale Struktur aufwirft, allenfalls ankratzen kann. Einen Punkt benennen sie wiederholt, nämlich die Vorbehalte, die seit je Gewerkschaften gegen zuwandernde Arbeitskräfte hegen.
Sehr viel ertragreicher sind die soziologischen Exkurse im Buch. Auch sie blenden in die Geschichte zurück und geben dem aktuellen Flüchtlingsproblem, das ja nicht nur hier, sondern in allen Länder Hysterien auslöst, eine geradezu entspannende historische Tiefendimension. Im Zentrum steht die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen „Grenze“ und grenzüberschreitenden (Bevölkerungs-)„Strömen“, also des ewigen Widerspiels zwischen stationärer und fluider, zwischen heimatverbundener und nomadischer Gesellschaft.
Dabei fällt nicht unter den Tisch, dass den meist erzwungenen nomadischen Flüchtlingsexistenzen heute eine internationale Elite mit ihrem ganz eigenen, freiwilligen nomadischen Dasein gegenübersteht, in ständiger Bewegung zwischen den Machtzentren dieser Welt. Man hätte diesen „neo-liberalen Nomadismus“ auch als Beispiel einer problematischen Parallelgesellschaft erfassen können. Das tun die beiden Autoren zwar nicht, aber ihre Untersuchung der Parallelgesellschaften gehört mit zum Besten und Differenziertesten, was man in letzter Zeit hierzu lesen kann.
Was aber hat es nun mit den „neuen Deutschen“ auf sich? Die Autoren sind klug genug, sich erst gar nicht auf eine Definition des „Deutschen“ einzulassen. Das Neue, soweit es denn tatsächlich erst noch neu zu schaffen ist, läuft auf zwei Maximen hinaus: Zum einen muss das Land den Flüchtlingen, ob aus Armut oder Kriegsnot hierhergekommen, als offene Gesellschaft begegnen. Das ist die Absage an alle Propheten einer ethnischen oder sonst wie „identitären“ Nation. Dass die Offenheit eine zweiseitige Angelegenheit ist, die Alteingesessene und Neuankömmlinge betrifft, ist die unausweichliche, aber im Falle des Gelingens produktive Dialektik, an der jede Integration in Deutschland auszurichten ist. Offenheit ist nicht gleichzusetzen mit offener Grenze – nicht zuletzt deshalb, weil keine kulturellen Faktoren importiert werden dürfen, die (wie die Unterdrückung von Frauen) eben dieser Freiheit und Offenheit widersprechen.
Die andere, abschließende Maxime lautet: „Der entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz sein.“ Gemeint ist hier nicht nur, dass sich jeder, auch jeder Alteingesessene, an das gesetzliche Regelwerk des Landes zu halten hat; gemeint ist auch nicht nur ein politisch verstandener Verfassungspatriotismus.
Gemeint ist eine normativ aufgeladene „Identitätszuschreibung“, ein rechtliches, politisches und soziales Anforderungsprofil, das als einziges geeignet ist, Einheimische und Neue freiheitlich zu integrieren: das Grundgesetz als Norm- und Handlungsmodell. Mehr als Stichworte liefert das Buch dafür nicht, so lässt es nur ahnen, wohin die Reise führen muss. Bei allem Zweckoptimismus macht es aber klar: Legen sich nicht beide Seiten ins Zeug, kann die Integration jederzeit scheitern.
Die Autoren wechseln nicht
nur den Blickwinkel, sondern
auch den rhetorischen Modus
„Der Identitätsmarker der
Deutschen muss das Bekenntnis
zum Grundgesetz sein.“
Herfried Münkler,
Marina Münkler,
Die neuen Deutschen.
Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Berlin 2016,
316 Seiten, 19,95 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Kanzlerin Angela Merkel im September 2015 in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau.Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2016Nun sag, wie hast du's mit der Integration?
Herfried und Marina Münkler suchen die neue deutsche Identität und können sie auch nicht finden
Das Ehepaar Herfried und Marina Münkler gehört dank der Allgegenwart des Ehemannes, des zur Zeit wohl bekanntesten deutschen Politologen, zu den medial führenden Intellektuellen in der Bundesrepublik. Davon auch selbst überzeugt zu sein, ist gewiss die Voraussetzung dafür, ein Buch mit dem Titel "Die neuen Deutschen" zu verfassen. Geht es doch allem Anschein nach um den Anspruch, ein altes Volk neu zu bestimmen. Als rechtfertigender Anlass für diese riesige Aufgabe ist die Zuwanderung von etwa einer Million Fremder willkommen, "die sich irgendwie mit den Alteingesessenen arrangieren werden", und es dabei mit einer deutschen Gesellschaft zu tun bekommen, die sich "neu definieren und eine veränderte Identität entwickeln muss".
Auch eine umfangreiche Darstellung kann Fehler im Sinne von fehlendem Scharfblick enthalten. Zwei aufeinanderfolgende Sätze auf Seite 12 lassen nichts Gutes auf den folgenden 320 Seiten erwarten: "Und immer [...] taucht offen oder insgeheim die Frage auf, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, sich all das zu ersparen, indem man Anfang September die Grenzen geschlossen und dafür gesorgt hätte, dass die Flüchtlinge irgendwo auf der Balkanroute gestoppt oder am Übersetzen auf die griechischen Inseln gehindert worden wären. Abgesehen davon, dass dies zu einer humanitären Katastrophe geführt hätte, wären so mit Sicherheit alle Erfolge zunichtegemacht worden, die die Europäer im zurückliegenden Jahrzehnt bei der Befriedung des mittleren Balkans erzielt haben."
So gewichtig diese Aussage daherkommt, so widersprüchlich ist sie und damit in der Summe falsch. Denn wären die Flüchtlinge "am Übersetzen auf die griechischen Inseln gehindert worden", so hätte es auf dem Balkan all die Turbulenzen nicht gegeben, die Mazedonien, Serbien und Kroatien mehr oder weniger ins Schlingern gebracht haben. Auch eine "humanitäre Katastrophe" wäre nicht eingetreten, wenn die Flüchtlinge "am Übersetzen" - also nicht lediglich daran, an der griechischen Küste an Land zu gehen - "gehindert worden wären". Wäre hingegen das Durchwinken die einzige Garantie zur Vermeidung einer "humanitären Katastrophe" gewesen, dann hätten schon die ständigen Forderungen der Bundeskanzlerin, das Schlepperwesen zu bekämpfen, gegen humanitäre Grundregeln verstoßen. Und erst recht passt der Befund nicht zu dem von Berlin beförderten europäisch-türkischen Vertrag, der gerade das "Übersetzen" verhindern soll.
Der Knackpunkt war ein anderer als die Sorge um die Stabilität auf dem Balkan. Das ganze Frühjahr über wusste die Bundesregierung, dass ein anschwellender Flüchtlingsstrom zu erwarten sei. Am 19. August 2015 wurde schließlich amtlich die Zahl 800000 prognostiziert - als ginge es um einen Sturm mit Windstärke 20. Doch nirgends machte "Die Macht in der Mitte" (so Münklers Buchtitel von 2015) Anstalten, "die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa" (so der anspruchsvolle Untertitel) wahrzunehmen und als Primus inter Pares sowohl für sich wie für die betroffenen EU- und Schengenstaaten Abwehrmaßnahmen zu treffen. Wer das Wort Abwehr gegenüber Menschen schrecklich findet, behilft sich seither mit der nebelhaften "Reduzierung der Zahlen" oder mit dem Wort "Obergrenze". Das Autorenpaar selbst schreibt in anderem Zusammenhang vom "kontinuierlichen Abfluss von Menschen".
Das Buch ist zu umfangreich und der Zeitdruck bei Verfassern und Gegenlesern war wohl zu groß, um nicht selbstformulierte Fallen und energische Schritte mitten in diese hinein zu enthalten. Weil die Münklers überzeugt sind, dass "kontinuierliche Zuwanderung als Ausgleich für eine defizitäre biologische Reproduktion" eine "historische Regel" sei, führen sie als Beleg die großen Städte in Mesopotamien und im Niltal an, die über dreitausend Jahre "stets auf Zuzug aus dem sie umgebenden Land angewiesen waren". Dies mag so sein, beweist aber nicht die Sinnhaftigkeit eines Zuzugs aus dreitausend Kilometer Entfernung in einem anderen, gar einem weltgeschichtlich einst und dereinst vielleicht wieder einmal konkurrierenden Kulturkreis.
Eine andere Stelle: "Die europäischen Regierungen sahen sich nicht imstande, in den Syrienkrieg, der geopolitisch betrachtet, ihr Problem war, eigenständig und ohne US-amerikanische Führung zu intervenieren." Was wäre gelöst gewesen, wenn sich die Europäer zu einer "Intervention" - mit welchen Mitteln, für welche (Bürger-)Kriegspartei, mit welchem Ziel? - "imstande" gesehen hätten? Eine halbe Seite weiter: "Angesichts dieses durchaus nachvollziehbaren Verzichts auf eine Intervention gab es eine erhöhte Verpflichtung der Europäer, den Flüchtlingen humanitär zu helfen." Dies mag verstehen, wer will. Hätten die Europäer eingegriffen, hätten sie den Krieg zumindest zunächst befeuert und damit viele Zivilisten zur Flucht veranlasst - welches Land hätte diese dann aufnehmen müssen, sozusagen weil es seinerseits auf eine Intervention verzichtet hatte? Müssten nicht nach dem Verursacherprinzip vielmehr all die Länder auch die Flüchtlinge aufnehmen, die sie militärisch verursacht haben? Die dem Humanismus verpflichteten europäischen Länder wären damit nicht aus ihren menschenrechtlichen Aufgaben entlassen, aber die Begründung wäre nicht so verquer.
Als Essenz des Buches sind wahrscheinlich die insgesamt elf "Imperative" einer mal "klugen", mal "vorausschauenden", mal "erfolgversprechenden", am häufigsten jedoch "erfolgsorientierten Integrationspolitik" gedacht. Sie umfassen - keineswegs völlig neue, nicht einmal wirklich handfeste - Empfehlungen zum Sprachunterricht sowie zum Umgang des Staates, der Wirtschaft und schließlich der Zivilgesellschaft mit den Neuankömmlingen.
Bei all dem aber lassen sie offen, was "Integration" heißen soll: Ist das Ziel erreicht, wenn eine Aufenthaltsgenehmigung und eines Tages eine Staatsbürgerschaftsurkunde vorliegen und ein Arbeitsplatz nachgewiesen wird? Gehört dazu nicht auch eine Haltung, eine persönliche Werteordnung in Vereinbarkeit mit der landesüblichen? Da sich das Verfasserehepaar nicht den Begriff der Leitkultur - weder in einer deutschen noch in einer europäischen Deutung - zu eigen machen will, erscheint Integration wie ein Marathonlauf, bei dem es gleichgültig ist, wo man am Ende angekommen ist.
Dass dies weder als Prognose noch als Zielbestimmung ausreicht, wird nach 283 Seiten nicht nur dem Leser, sondern offenbar auch Herfried und Marina Münkler klar. Daher verwenden sie die letzten sieben Seiten darauf, wie man "aus Fremden ,Deutsche'" macht, machen könnte oder gar sollte. Da werden plötzlich "fünf Merkmale des Deutschseins" aufgeführt. Das "erste Identitätsmerkmal" umfasst "Bereitschaft zur Selbstsorge" und "Leistungswillen in Bezug auf die Gesellschaft"; als zweites folgt "das Vertrauen, das er gegenüber der Gemeinschaft hat, ihm im Notfall beizuspringen". Als drittes wird genannt "die Überzeugung, dass religiöser Glaube und seine Ausübung eine Privatangelegenheit sind", als viertes "dass die Entscheidung für eine bestimmte Lebensform und die Wahl des Lebenspartners in das individuelle Ermessen eines jeden Einzelnen fällt".
"Der fünfte und entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein." Von der Sympathie zur deutschen Kultur, dem Verzicht auf öffentlich bekundeten Hass oder dem Wohlfühlen in der Europäischen Union war da noch gar nicht die Rede. Hätten die Verfasser die fünf Punkte in die Mitte ihres Textes gesetzt und auf hundertfünfzig Seiten die Wege aufgezeigt, wie die - beiderseitige - Integration zumindest der Integrationswilligen bis zur Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit vonstattengehen könnte, dann hätte es ein lesenswertes, sogar für Sachkenner und Fachleute nützliches Buch werden können.
GEORG PAUL HEFTY
Herfried Münkler/Marina Münkler: Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016. 336 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herfried und Marina Münkler suchen die neue deutsche Identität und können sie auch nicht finden
Das Ehepaar Herfried und Marina Münkler gehört dank der Allgegenwart des Ehemannes, des zur Zeit wohl bekanntesten deutschen Politologen, zu den medial führenden Intellektuellen in der Bundesrepublik. Davon auch selbst überzeugt zu sein, ist gewiss die Voraussetzung dafür, ein Buch mit dem Titel "Die neuen Deutschen" zu verfassen. Geht es doch allem Anschein nach um den Anspruch, ein altes Volk neu zu bestimmen. Als rechtfertigender Anlass für diese riesige Aufgabe ist die Zuwanderung von etwa einer Million Fremder willkommen, "die sich irgendwie mit den Alteingesessenen arrangieren werden", und es dabei mit einer deutschen Gesellschaft zu tun bekommen, die sich "neu definieren und eine veränderte Identität entwickeln muss".
Auch eine umfangreiche Darstellung kann Fehler im Sinne von fehlendem Scharfblick enthalten. Zwei aufeinanderfolgende Sätze auf Seite 12 lassen nichts Gutes auf den folgenden 320 Seiten erwarten: "Und immer [...] taucht offen oder insgeheim die Frage auf, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, sich all das zu ersparen, indem man Anfang September die Grenzen geschlossen und dafür gesorgt hätte, dass die Flüchtlinge irgendwo auf der Balkanroute gestoppt oder am Übersetzen auf die griechischen Inseln gehindert worden wären. Abgesehen davon, dass dies zu einer humanitären Katastrophe geführt hätte, wären so mit Sicherheit alle Erfolge zunichtegemacht worden, die die Europäer im zurückliegenden Jahrzehnt bei der Befriedung des mittleren Balkans erzielt haben."
So gewichtig diese Aussage daherkommt, so widersprüchlich ist sie und damit in der Summe falsch. Denn wären die Flüchtlinge "am Übersetzen auf die griechischen Inseln gehindert worden", so hätte es auf dem Balkan all die Turbulenzen nicht gegeben, die Mazedonien, Serbien und Kroatien mehr oder weniger ins Schlingern gebracht haben. Auch eine "humanitäre Katastrophe" wäre nicht eingetreten, wenn die Flüchtlinge "am Übersetzen" - also nicht lediglich daran, an der griechischen Küste an Land zu gehen - "gehindert worden wären". Wäre hingegen das Durchwinken die einzige Garantie zur Vermeidung einer "humanitären Katastrophe" gewesen, dann hätten schon die ständigen Forderungen der Bundeskanzlerin, das Schlepperwesen zu bekämpfen, gegen humanitäre Grundregeln verstoßen. Und erst recht passt der Befund nicht zu dem von Berlin beförderten europäisch-türkischen Vertrag, der gerade das "Übersetzen" verhindern soll.
Der Knackpunkt war ein anderer als die Sorge um die Stabilität auf dem Balkan. Das ganze Frühjahr über wusste die Bundesregierung, dass ein anschwellender Flüchtlingsstrom zu erwarten sei. Am 19. August 2015 wurde schließlich amtlich die Zahl 800000 prognostiziert - als ginge es um einen Sturm mit Windstärke 20. Doch nirgends machte "Die Macht in der Mitte" (so Münklers Buchtitel von 2015) Anstalten, "die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa" (so der anspruchsvolle Untertitel) wahrzunehmen und als Primus inter Pares sowohl für sich wie für die betroffenen EU- und Schengenstaaten Abwehrmaßnahmen zu treffen. Wer das Wort Abwehr gegenüber Menschen schrecklich findet, behilft sich seither mit der nebelhaften "Reduzierung der Zahlen" oder mit dem Wort "Obergrenze". Das Autorenpaar selbst schreibt in anderem Zusammenhang vom "kontinuierlichen Abfluss von Menschen".
Das Buch ist zu umfangreich und der Zeitdruck bei Verfassern und Gegenlesern war wohl zu groß, um nicht selbstformulierte Fallen und energische Schritte mitten in diese hinein zu enthalten. Weil die Münklers überzeugt sind, dass "kontinuierliche Zuwanderung als Ausgleich für eine defizitäre biologische Reproduktion" eine "historische Regel" sei, führen sie als Beleg die großen Städte in Mesopotamien und im Niltal an, die über dreitausend Jahre "stets auf Zuzug aus dem sie umgebenden Land angewiesen waren". Dies mag so sein, beweist aber nicht die Sinnhaftigkeit eines Zuzugs aus dreitausend Kilometer Entfernung in einem anderen, gar einem weltgeschichtlich einst und dereinst vielleicht wieder einmal konkurrierenden Kulturkreis.
Eine andere Stelle: "Die europäischen Regierungen sahen sich nicht imstande, in den Syrienkrieg, der geopolitisch betrachtet, ihr Problem war, eigenständig und ohne US-amerikanische Führung zu intervenieren." Was wäre gelöst gewesen, wenn sich die Europäer zu einer "Intervention" - mit welchen Mitteln, für welche (Bürger-)Kriegspartei, mit welchem Ziel? - "imstande" gesehen hätten? Eine halbe Seite weiter: "Angesichts dieses durchaus nachvollziehbaren Verzichts auf eine Intervention gab es eine erhöhte Verpflichtung der Europäer, den Flüchtlingen humanitär zu helfen." Dies mag verstehen, wer will. Hätten die Europäer eingegriffen, hätten sie den Krieg zumindest zunächst befeuert und damit viele Zivilisten zur Flucht veranlasst - welches Land hätte diese dann aufnehmen müssen, sozusagen weil es seinerseits auf eine Intervention verzichtet hatte? Müssten nicht nach dem Verursacherprinzip vielmehr all die Länder auch die Flüchtlinge aufnehmen, die sie militärisch verursacht haben? Die dem Humanismus verpflichteten europäischen Länder wären damit nicht aus ihren menschenrechtlichen Aufgaben entlassen, aber die Begründung wäre nicht so verquer.
Als Essenz des Buches sind wahrscheinlich die insgesamt elf "Imperative" einer mal "klugen", mal "vorausschauenden", mal "erfolgversprechenden", am häufigsten jedoch "erfolgsorientierten Integrationspolitik" gedacht. Sie umfassen - keineswegs völlig neue, nicht einmal wirklich handfeste - Empfehlungen zum Sprachunterricht sowie zum Umgang des Staates, der Wirtschaft und schließlich der Zivilgesellschaft mit den Neuankömmlingen.
Bei all dem aber lassen sie offen, was "Integration" heißen soll: Ist das Ziel erreicht, wenn eine Aufenthaltsgenehmigung und eines Tages eine Staatsbürgerschaftsurkunde vorliegen und ein Arbeitsplatz nachgewiesen wird? Gehört dazu nicht auch eine Haltung, eine persönliche Werteordnung in Vereinbarkeit mit der landesüblichen? Da sich das Verfasserehepaar nicht den Begriff der Leitkultur - weder in einer deutschen noch in einer europäischen Deutung - zu eigen machen will, erscheint Integration wie ein Marathonlauf, bei dem es gleichgültig ist, wo man am Ende angekommen ist.
Dass dies weder als Prognose noch als Zielbestimmung ausreicht, wird nach 283 Seiten nicht nur dem Leser, sondern offenbar auch Herfried und Marina Münkler klar. Daher verwenden sie die letzten sieben Seiten darauf, wie man "aus Fremden ,Deutsche'" macht, machen könnte oder gar sollte. Da werden plötzlich "fünf Merkmale des Deutschseins" aufgeführt. Das "erste Identitätsmerkmal" umfasst "Bereitschaft zur Selbstsorge" und "Leistungswillen in Bezug auf die Gesellschaft"; als zweites folgt "das Vertrauen, das er gegenüber der Gemeinschaft hat, ihm im Notfall beizuspringen". Als drittes wird genannt "die Überzeugung, dass religiöser Glaube und seine Ausübung eine Privatangelegenheit sind", als viertes "dass die Entscheidung für eine bestimmte Lebensform und die Wahl des Lebenspartners in das individuelle Ermessen eines jeden Einzelnen fällt".
"Der fünfte und entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein." Von der Sympathie zur deutschen Kultur, dem Verzicht auf öffentlich bekundeten Hass oder dem Wohlfühlen in der Europäischen Union war da noch gar nicht die Rede. Hätten die Verfasser die fünf Punkte in die Mitte ihres Textes gesetzt und auf hundertfünfzig Seiten die Wege aufgezeigt, wie die - beiderseitige - Integration zumindest der Integrationswilligen bis zur Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit vonstattengehen könnte, dann hätte es ein lesenswertes, sogar für Sachkenner und Fachleute nützliches Buch werden können.
GEORG PAUL HEFTY
Herfried Münkler/Marina Münkler: Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016. 336 S., 19,95 [Euro].
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