Sexismus und Emanzipation - die Wurzeln der heutigen Diskussion liegen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im deutschen Kaiserreich gewinnen die Frauen an Einfluss und werden allmählich zu einem wichtigen Teil des öffentlichen Lebens. Sie sind erstmals berufstätig, sind Ärztinnen und Künstlerinnen, arbeiten in Büros und Postämtern und setzen sich für das Wahlrecht ein. Frauenvereine bringen Themen wie Sexualität und Scheidung zur Sprache. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs findet die soziale Revolution ihr vorläufiges Ende. Barbara Beuys beschreibt lebendig und anhand vieler Lebensbilder den Ausbruch der Frauen aus dem alten Geschlechtermodell. Eine große Erzählung von der Gesellschaft vor hundert Jahren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2014Aufstand der Bürgerinnen
Die Ladenmädchen der zwanziger Jahre waren nicht die ersten, die ins Kino gingen: Barbara Beuys zeigt, dass es die "neue Frau" schon viel länger gibt.
Von Nina Verheyen
Die "ideale ,neue Frau'" ist "ein weiblicher Vollmensch". Das erklärte Clara Zetkin 1899 in einem Vortrag vor Heidelberger Studenten, und diesem Ideal strebte sie auch selber nach. Die ausgebildete Lehrerin hatte in den 1880ern Jahren mit dem russischen Emigranten Ossip Zetkin ohne Trauschein in Paris gelebt und trug seither Zetkins Namen. Nach dem frühem Tod ihres Partners zog Clara Zetkin die gemeinsamen Kinder alleine groß, ihren Lebensunterhalt finanzierte sie als Übersetzerin, Herausgeberin, Autorin und durch Vortragsreisen. Den Heidelberger Studenten trat sie dann als frisch Vermählte gegenüber, denn 1898, mit Anfang vierzig, heiratete sie schließlich doch. Der Bräutigam, ein Kunststudent, war fast zwanzig Jahre jünger als die sozialistische Frauenrechtlerin. Zetkin übernahm den Namen ihres neuen Mannes nicht.
Über Clara Zetkin ist viel geschrieben worden, und das gilt erst recht für die deutsche Frauenbewegung des neunzehnten Jahrhunderts, ihre Organisationsgeschichte, Programmatik und Trägerschaft - zermürbende Flügelkämpfe nach innen, scharfe Kritik von außen und das aus heutiger Sicht befremdliche Konzept der "geistigen Mütterlichkeit" inbegriffen. Kaum eine Phase der modernen, deutschen Geschlechtergeschichte scheint ähnlich gut erforscht wie diese, und dass sich ein weiteres populäres Sachbuch zu den politisch bewegten Frauen des Kaiserreichs lohnt, mag auf den ersten Blick überraschen. Zudem stützt sich die Monographie von Barbara Beuys über "Die neuen Frauen. Revolution im Kaiserreich 1900-1914" ausschließlich auf publizierte Quellen und wissenschaftliche Literatur; im Detail, so ließe sich leicht einwenden, ist also alles bekannt.
Indes: Die Lektüre lohnt sich unbedingt. Denn während andere Studien die politischen Aktionen und Schriften der Frauenbewegung ins Zentrum rücken, welche nicht nur disparat, sondern im Vergleich zu den britischen Suffragetten auch verhältnismäßig zahm ausfielen, legt Beuys den Fokus auf die Lebensverläufe von Personen, die in der Frauenbewegung aktiv waren oder in deren Umfeld agierten.
So geht es um rund dreißig Pionierinnen auf verschiedenen Gebieten, von denen viele heute kaum noch bekannt sind - zum Beispiel Hermine Heusler-Edenhuizen, die 1901 als erste Frau an der Universität Bonn das medizinische Staatsexamen ablegte, ab 1909 in der Berliner "Klinik der weiblichen Ärzte" arbeitete und sich von ihrem Mann per Ehekontrakt das Recht garantieren ließ, "ihren Beruf in vollstem Umfang nach eigenstem freien Ermessen auszuüben".
Das Leben dieser Personen ist in Einzelbiographien zwar jeweils gut untersucht, damit aber auch voneinander abgelöst worden. In der Collage der Lebensverläufe wird eindrucksvoll deutlich: Trotz aller sozialen und politischen Differenzen teilten die Frauen das Ziel eines selbstbestimmten Lebens, das sie beruflich und privat erfüllen sollte. Das schloss mal den offenen Kampf um ein Studium und mal einen heimlichen Geliebten ein. Von Zurückhaltung war jedenfalls wenig spüren.
Damit trägt Beuys zur Neubewertung der Geschichte "neuer Frauen" bei - und zu deren Rückdatierung. Denn das Label der "neuen Frau" wird in der deutschen Geschichte oft auf den Wandel von Geschlechterverhältnissen in den zwanziger Jahre bezogen. Es verweist vor allem auf die kleinen Ladenmädchen, die mit selbstverdientem Geld ihre Kinotickets lösten, wie Siegfried Kracauer beschrieben hat.
Beuys erinnert nicht nur daran, dass schon im Kaiserreich die Zahl der weiblichen Angestellten und Kinogängerinnen stieg - ebenso wie die Zahl der von Frauen eingereichten Scheidungen. Sondern sie betont: Bereits in der Jahrhundertwende lebten in Deutschland Frauen, die sich programmatisch als "neue Frauen" begriffen, weil sie ihre Handlungsspielräume systematisch über das ihnen zugestandene Maß erweitern wollten. Diese Frauen trugen keinen Bubikopf, sondern in der Regel hochgesteckte Haare, viele waren verheiratet und hatten Kinder: Sie waren Bürgerinnen des neunzehnten Jahrhunderts.
Ihre Zahl stieg in den Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg dramatisch an. Der "Bund Deutscher Frauenvereine" zum Beispiel, 1894 als Dachverband gegründet, zählte 1900 immerhin 7000 Mitglieder, 1908 waren es rund 20 000. Ein Jahr später konstatierte August Bebel, man lebe "mitten in der sozialen Revolution", womit er die "Frauenbewegung" meinte, "die bürgerliche wie die proletarische".
Inwiefern Arbeiterinnen am Umbruch der Geschlechterverhältnisse beteiligt waren, lässt Beuys allerdings offen. Und ob weibliche Angestellte ähnlich programmatisch ihre Lebensentwürfe veränderten wie die Pionierinnen der Frauenbewegung, muss unbedingt bezweifelt werden. Dass das Buchcover eines der berühmten Fotos von Telefonistinnen in einem Fernsprechamt zeigt, ist jedenfalls irreführend. Zwischen den Buchdeckeln geht es vor allem um eine überschaubare Zahl von Bürgerinnen, deren sehr unterschiedliche Lebensgeschichten Beuys zu einer beeindruckenden "Erfolgsgeschichte" kompiliert, an die sie nun erinnern will.
Die Historikerin und erfolgreiche Sachbuchautorin geht dabei sehr deskriptiv vor und bemüht sich nicht um analytischen Tiefgang. Trotzdem ist die Lektüre dringend zu empfehlen. Denn die Darstellung ist ausgesprochen kenntnisreich, und Beuys präsentiert ihre Arbeit ohnehin weniger als nuancierte wissenschaftliche Studie denn als populäres, auch politisches Sachbuch, das ebenso unterhalten wie informieren soll.
Vor allem aber ist ihr Kernbefund überaus plausibel: Die Geschichte weiblicher Emanzipation im neunzehnten Jahrhundert ist tatsächlich allzu oft als Scheitern von bürgerlichen Damen beschrieben worden, die mit Arbeiterfrauen nicht konnten, in konventionellen Geschlechtervorstellungen halbherzig steckenblieben und ihre schließlich doch noch vereinten Kräfte dann ausgerechnet der kriegerischen Erhebung Deutschlands zur Verfügung stellten. Der Erste Weltkrieg war kein Motor weiblicher Emanzipation, das betont auch Beuys. Aber vorher war ein Leitbild "neuer Frauen" entstanden, das über diesen Krieg hinweg Schule machte - zum Glück.
Barbara Beuys: "Die neuen Frauen - Revolution im Kaiserreich 1900 - 1914".
Carl Hanser Verlag, München 2014. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ladenmädchen der zwanziger Jahre waren nicht die ersten, die ins Kino gingen: Barbara Beuys zeigt, dass es die "neue Frau" schon viel länger gibt.
Von Nina Verheyen
Die "ideale ,neue Frau'" ist "ein weiblicher Vollmensch". Das erklärte Clara Zetkin 1899 in einem Vortrag vor Heidelberger Studenten, und diesem Ideal strebte sie auch selber nach. Die ausgebildete Lehrerin hatte in den 1880ern Jahren mit dem russischen Emigranten Ossip Zetkin ohne Trauschein in Paris gelebt und trug seither Zetkins Namen. Nach dem frühem Tod ihres Partners zog Clara Zetkin die gemeinsamen Kinder alleine groß, ihren Lebensunterhalt finanzierte sie als Übersetzerin, Herausgeberin, Autorin und durch Vortragsreisen. Den Heidelberger Studenten trat sie dann als frisch Vermählte gegenüber, denn 1898, mit Anfang vierzig, heiratete sie schließlich doch. Der Bräutigam, ein Kunststudent, war fast zwanzig Jahre jünger als die sozialistische Frauenrechtlerin. Zetkin übernahm den Namen ihres neuen Mannes nicht.
Über Clara Zetkin ist viel geschrieben worden, und das gilt erst recht für die deutsche Frauenbewegung des neunzehnten Jahrhunderts, ihre Organisationsgeschichte, Programmatik und Trägerschaft - zermürbende Flügelkämpfe nach innen, scharfe Kritik von außen und das aus heutiger Sicht befremdliche Konzept der "geistigen Mütterlichkeit" inbegriffen. Kaum eine Phase der modernen, deutschen Geschlechtergeschichte scheint ähnlich gut erforscht wie diese, und dass sich ein weiteres populäres Sachbuch zu den politisch bewegten Frauen des Kaiserreichs lohnt, mag auf den ersten Blick überraschen. Zudem stützt sich die Monographie von Barbara Beuys über "Die neuen Frauen. Revolution im Kaiserreich 1900-1914" ausschließlich auf publizierte Quellen und wissenschaftliche Literatur; im Detail, so ließe sich leicht einwenden, ist also alles bekannt.
Indes: Die Lektüre lohnt sich unbedingt. Denn während andere Studien die politischen Aktionen und Schriften der Frauenbewegung ins Zentrum rücken, welche nicht nur disparat, sondern im Vergleich zu den britischen Suffragetten auch verhältnismäßig zahm ausfielen, legt Beuys den Fokus auf die Lebensverläufe von Personen, die in der Frauenbewegung aktiv waren oder in deren Umfeld agierten.
So geht es um rund dreißig Pionierinnen auf verschiedenen Gebieten, von denen viele heute kaum noch bekannt sind - zum Beispiel Hermine Heusler-Edenhuizen, die 1901 als erste Frau an der Universität Bonn das medizinische Staatsexamen ablegte, ab 1909 in der Berliner "Klinik der weiblichen Ärzte" arbeitete und sich von ihrem Mann per Ehekontrakt das Recht garantieren ließ, "ihren Beruf in vollstem Umfang nach eigenstem freien Ermessen auszuüben".
Das Leben dieser Personen ist in Einzelbiographien zwar jeweils gut untersucht, damit aber auch voneinander abgelöst worden. In der Collage der Lebensverläufe wird eindrucksvoll deutlich: Trotz aller sozialen und politischen Differenzen teilten die Frauen das Ziel eines selbstbestimmten Lebens, das sie beruflich und privat erfüllen sollte. Das schloss mal den offenen Kampf um ein Studium und mal einen heimlichen Geliebten ein. Von Zurückhaltung war jedenfalls wenig spüren.
Damit trägt Beuys zur Neubewertung der Geschichte "neuer Frauen" bei - und zu deren Rückdatierung. Denn das Label der "neuen Frau" wird in der deutschen Geschichte oft auf den Wandel von Geschlechterverhältnissen in den zwanziger Jahre bezogen. Es verweist vor allem auf die kleinen Ladenmädchen, die mit selbstverdientem Geld ihre Kinotickets lösten, wie Siegfried Kracauer beschrieben hat.
Beuys erinnert nicht nur daran, dass schon im Kaiserreich die Zahl der weiblichen Angestellten und Kinogängerinnen stieg - ebenso wie die Zahl der von Frauen eingereichten Scheidungen. Sondern sie betont: Bereits in der Jahrhundertwende lebten in Deutschland Frauen, die sich programmatisch als "neue Frauen" begriffen, weil sie ihre Handlungsspielräume systematisch über das ihnen zugestandene Maß erweitern wollten. Diese Frauen trugen keinen Bubikopf, sondern in der Regel hochgesteckte Haare, viele waren verheiratet und hatten Kinder: Sie waren Bürgerinnen des neunzehnten Jahrhunderts.
Ihre Zahl stieg in den Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg dramatisch an. Der "Bund Deutscher Frauenvereine" zum Beispiel, 1894 als Dachverband gegründet, zählte 1900 immerhin 7000 Mitglieder, 1908 waren es rund 20 000. Ein Jahr später konstatierte August Bebel, man lebe "mitten in der sozialen Revolution", womit er die "Frauenbewegung" meinte, "die bürgerliche wie die proletarische".
Inwiefern Arbeiterinnen am Umbruch der Geschlechterverhältnisse beteiligt waren, lässt Beuys allerdings offen. Und ob weibliche Angestellte ähnlich programmatisch ihre Lebensentwürfe veränderten wie die Pionierinnen der Frauenbewegung, muss unbedingt bezweifelt werden. Dass das Buchcover eines der berühmten Fotos von Telefonistinnen in einem Fernsprechamt zeigt, ist jedenfalls irreführend. Zwischen den Buchdeckeln geht es vor allem um eine überschaubare Zahl von Bürgerinnen, deren sehr unterschiedliche Lebensgeschichten Beuys zu einer beeindruckenden "Erfolgsgeschichte" kompiliert, an die sie nun erinnern will.
Die Historikerin und erfolgreiche Sachbuchautorin geht dabei sehr deskriptiv vor und bemüht sich nicht um analytischen Tiefgang. Trotzdem ist die Lektüre dringend zu empfehlen. Denn die Darstellung ist ausgesprochen kenntnisreich, und Beuys präsentiert ihre Arbeit ohnehin weniger als nuancierte wissenschaftliche Studie denn als populäres, auch politisches Sachbuch, das ebenso unterhalten wie informieren soll.
Vor allem aber ist ihr Kernbefund überaus plausibel: Die Geschichte weiblicher Emanzipation im neunzehnten Jahrhundert ist tatsächlich allzu oft als Scheitern von bürgerlichen Damen beschrieben worden, die mit Arbeiterfrauen nicht konnten, in konventionellen Geschlechtervorstellungen halbherzig steckenblieben und ihre schließlich doch noch vereinten Kräfte dann ausgerechnet der kriegerischen Erhebung Deutschlands zur Verfügung stellten. Der Erste Weltkrieg war kein Motor weiblicher Emanzipation, das betont auch Beuys. Aber vorher war ein Leitbild "neuer Frauen" entstanden, das über diesen Krieg hinweg Schule machte - zum Glück.
Barbara Beuys: "Die neuen Frauen - Revolution im Kaiserreich 1900 - 1914".
Carl Hanser Verlag, München 2014. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Julia Brummert findet es ein wenig erschreckend, mit wie vielen der Themen, die für die Frauenbewegung am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts aktuell waren, sich Frauen heutzutage immer noch herumschlagen müssen. Es ist aber sicherlich nicht Barbara Beuys' Hauptverdienst, solche Parallelen herauszustellen, so die Rezensentin. In "Die neuen Frauen" entwirft die Autorin ein sehr komplexes Bild einer äußerst heterogenen Bewegung, deren Anhängerinnen es je nach gesellschaftlicher Verortung um sehr Unterschiedliches ging, erklärt Brummert. Auch hält Beuys sich nicht mit Kritik zurück, wenn es um die Zusammenarbeit des Bunds für Frauenvereine mit dem Bund für Rassenhygiene und den nationalistischen Bewegungen geht, lobt die Rezensentin. All diesen Fragen nähert sich Beuys über die Lebensgeschichten diverser Protagonistinnen der Bewegung jener Jahre, unter ihnen zum Beispiel Alice Salomon, Clara Zetkin, Clara Immerwahr und Henriette Fürth, so Brummert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ganz nebenbei räumt Beuys in ihrem unterhaltsam und spannend geschriebenen Buch auch mit einem Vorurteil auf, das besagt, der Erste Weltkrieg hätte die Emanzipation angeschoben, weil er mehr Frauen in Männerberufe gebracht habe." Edelgard Abenstein, Deutschlandradio, 10.04.14
"Barbara Beuys entfaltet ein fulminantes Panorama der ersten deutschen Frauenbewegung... Nicht nur Historiker sollten dieses lesenswerte Buch deswegen unbedingt als Standardwerk schätzen." Ulrike Westhoff, Deuschlandfunk, 03.03.14
"Ein absolut lesenswertes Werk." Heike Krause-Leipoldt, Lesart, Januar 2014
"Beuys liefert dem Leser fundierte historische Hintergrundinformationen und lässt ihn tief in die Lebenswelt der Frauen eintauchen." Britta Heitmann, Preußische Allgemeine Zeitung, 14.06.14
"Barbara Beuys entfaltet ein fulminantes Panorama der ersten deutschen Frauenbewegung... Nicht nur Historiker sollten dieses lesenswerte Buch deswegen unbedingt als Standardwerk schätzen." Ulrike Westhoff, Deuschlandfunk, 03.03.14
"Ein absolut lesenswertes Werk." Heike Krause-Leipoldt, Lesart, Januar 2014
"Beuys liefert dem Leser fundierte historische Hintergrundinformationen und lässt ihn tief in die Lebenswelt der Frauen eintauchen." Britta Heitmann, Preußische Allgemeine Zeitung, 14.06.14