Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2018Allein zwischen zwei Welten
Der Islam als Lebensmodell für Abgehängte? Esra Özyürek und Susanne Kaiser untersuchen Motive und Gefühlslage von Konvertiten
Ele fand im Islam die festen Werte, die sie in ihrem Leben so lange vermisst hatte: "Ich habe meine Erfüllung gefunden", sagt sie. Ihr Ideal ist eine Gesellschaft, in der sich jeder um den anderen kümmert. Der Imam Ferid glaubt, die Muslime müssten offensiv "für bestimmte Grundwerte einstehen" - zum Beispiel für ein konservatives Familienbild. Im Islam, in Religion generell sieht er "die wichtigste Quelle für Moral", ohne die die deutsche Gesellschaft auf die schiefe Bahn zu geraten drohe. Die tief verschleierte Mareike sagt, das Wichtigste sei für sie, "Allah nicht zu enttäuschen". Was die Leute über sie dächten, sei ihr egal. Und Aamal, die erst vor kurzem Muslimin geworden ist, macht sich ununterbrochen Gedanken darüber, ob sie die islamischen Regeln auch lückenlos befolgt: "Denn der Satan in mir ist sehr stark."
Nächstenliebe, familiärer und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Frömmigkeit, Gottesfurcht - das sind Werte, die zum Islam konvertierte Deutsche hochhalten und die für sie den Islam ausmachen. Dabei verstehen sie sich zugleich auch als Deutsche und vorbildliche Bürger - bei allen Schwierigkeiten, die sie in und mit diesem Land haben. Die öffentliche Wahrnehmung von Konvertiten ist ganz anders: "Hundertfünfzigprozentige" Muslime seien sie, übertrieben strenggläubig. Tatsächlich besaßen salafistische Gemeinden in den vergangenen Jahren eine besondere Anziehungskraft auf Neumuslime. Ihnen schlägt Misstrauen entgegen, zumal immer wieder von Konvertiten die Rede ist, die sich Terrorgruppen angeschlossen haben. Zum Islam konvertierte Deutsche rühren aber an noch fundamentalere Ängste in der Mehrheitsgesellschaft: Aus deren Sicht, schreibt die Soziologin Esra Özyürek, würden sie "zum sichtbarsten Anzeichen dafür, dass der Islam dabei ist, Europas Geist, Lebensweise und Kultur zu beherrschen". In diesem Sinne ist der Konvertit ein Verräter - an Deutschland und dessen christlich-abendländischer Kultur.
Das bekommen viele von ihnen zu spüren. Konvertiten sind oft einsam. Mareike, die in einer Kleinstadt im Südwesten Deutschlands lebt, etwa sagt, ihre "beste Freundin" lebe in Berlin. Ihr persönlich begegnet ist die junge Muslimin freilich noch nie. Ihre Freundschaft besteht im Internet. Ben, ein weiterer Konvertit, wird von seiner Familie geschnitten, seine Mutter hat seit seiner Hinwendung zum Islam vor zehn Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Dabei gefällt ihnen am Islam doch gerade die Betonung der Gemeinschaftlichkeit. Ironischerweise sind sie auch von Seiten türkisch- und arabischstämmiger Muslime mit Vorbehalten konfrontiert.
Die Erfahrungswelten konvertierter Deutscher sind extrem unterschiedlich, sie alle eint jedoch, dass sie sich anders zu ihrer Religion positionieren müssen als gebürtige Muslime: Sie können nicht einfach "den Islam leben", wie sie ihn von Kindheit an kennengelernt haben, sondern müssen bewusst Entscheidungen treffen, welcher der vielen Auslegungen sie folgen. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, aus der sie herausgetreten sind. Welche individuellen Lösungen Neumuslime angesichts dieser doppelten Herausforderung gefunden haben, beschreiben zwei neue Bücher mit unterschiedlichen Zugriffen: Während Esra Özyüreks "Deutsche Muslime - muslimische Deutsche" die Arbeit einer ethnologisch arbeitenden Soziologin ist, geht die Journalistin Susanne Kaiser in "Die neuen Muslime" auf die Geschichten von vier jüngeren Konvertiten ein.
Beide Autorinnen haben in der Auswahl ihrer Fallbeispiele, denen die hier zitierten Stimmen entstammen, nicht danach gestrebt, alle Extrempositionen abzudecken. Gerade deshalb erhält man in der Zusammenschau beider Bücher einen guten Eindruck von den Vorstellungen "durchschnittlicher" Konvertiten - so es solche überhaupt gibt.
Özyürek weist dabei auf ein überraschendes Phänomen hin: Viele deutsche Konvertiten strebten danach, sich vom Islam der Türken oder Araber abzugrenzen - sie "lieben den Islam (. . .), aber gebürtigen Muslimen aus Deutschland oder anderen Ländern mit Liebe zu begegnen, fällt ihnen nicht immer leicht". Stattdessen konstruierten sie einen gereinigten, "vernünftigen" Islam, der einerseits postnational sein, andererseits besonders gut zum Deutschsein passen soll. Sie beziehen sich dafür etwa auf die Ideale der Aufklärung, führen Goethe und Lessing als Vorbilder an, "um zugleich ein besserer Deutscher und ein besserer Muslim zu werden". Özyürek sieht darin eine Reaktion auf die "rassifizierte" Feindseligkeit gegenüber gebürtigen Muslimen in Deutschland, die sich auch auf Konvertiten erstreckt.
Dass die Konvertiten einen "universalistischen Islam" konstruieren, hält die in London lehrende Anthropologin gleichwohl für "eurozentristisch". Denn dies schreibe den angeblichen Gegensatz eines rationalen europäischen beziehungsweise deutschen Geistes und eines weniger vernünftigen "orientalischen" Wesens fort. Auf diesen Thesen hat Özyürek ihre ursprünglich 2015 auf Englisch erschienene Studie aufgebaut. Ungeachtet mancher Redundanzen erklärt sie darin differenziert die Lebenssituation von Konvertiten und beschreibt etwa auch, warum der Islam nach der Wiedervereinigung gerade auf Ostdeutsche Faszination ausübte: Er bot ihnen, so dachten sie, einen Ausweg aus ihrer Marginalisierung als Bürger zweiter Klasse.
Auch auf die Anziehungskraft des Salafismus geht sie ein. Um einen Ausweg aus Entfremdung und Identitätskrisen gehe es bei Konvertiten weniger, glaubt Özyürek, eher kämen viele der Charakteristika salafistischer Gemeinden - Missionsdrang, Buchstabengläubigkeit, Ablehnung "nationaler" Traditionen sowie herkömmlicher religiöser Hierarchien - ihrem Orientierungsbedürfnis nach der Konversion entgegen. "Salafistische Moscheen sind die einzigen muslimischen Orte in Deutschland, an denen Frömmigkeit mehr zählt als Herkunft oder Abstammung", schreibt sie. Es ist freilich die Frage, ob Özyürek dies heute nicht anders sehen würde, denn ihre Feldforschung fand zwischen 2006 und 2013 statt. Mittlerweile gibt es kleine liberale Gemeinden, die versuchen, den eben formulierten Anspruch zu erfüllen.
Dennoch liest man mit Özyüreks theoretisch gewendeten Betrachtungen im Hinterkopf Susanne Kaisers Buch mit noch mehr Gewinn. Die vier Protagonisten kommen bei der Journalistin ausführlich zu Wort, wenn auch über das ganze Buch verteilt, so dass man bisweilen ein wenig den Faden verliert. Kaiser ordnet die Lebensgeschichten dafür gut in gesellschaftliche Zusammenhänge ein - bisweilen mit überraschenden Pointen, etwa wenn sie auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Familien- und Gesellschaftsbild konservativer Muslime und dem der Neuen Rechten hinweist.
Zugleich macht sie Selbstwidersprüche sichtbar. So preist Ele, die in Armut und schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, das strenge islamische Familien- und Rollenmodell - dem sie selbst keineswegs entspricht als geschiedene, alleinerziehende Mutter. Und Ben, der Anwalt war, bevor er seines Lebens als "Egosau" überdrüssig wurde, ausstieg und im Islam Erlösung fand, redet mit Vorliebe über sich und seine persönliche Beziehung zu Gott. An diesen Beispielen wird deutlich, warum der Islam gerade denjenigen ein überzeugendes Lebensmodell anzubieten vermag, die in der neoliberalen Leistungsgesellschaft auf der Strecke geblieben sind: Er biete "entlastende Sicherheit", schreibt Kaiser, weil er zum einen über feste Strukturen und Abläufe verfüge, zum anderen die moralische Überlegenheit einer "ausgewählten Elite" vermittle.
Was er dafür einfordert, ist Selbstdisziplin. Spannend sind die Passagen, in denen Kaiser die "Selbsterziehung zur Frömmigkeit" beschreibt, die gerade Neumuslime betreiben, um den Islam zum Zentrum ihres Lebens zu machen - durch die täglichen Gebete, durch Speise- und Kleidungsvorschriften. Es ist eine ironische Volte, dass diese glaubenspraktische Selbstdisziplinierung letztlich wieder in eine neoliberale Philosophie der Selbstoptimierung mündet: "Sie wollen sich ständig weiter optimieren, sei es auch in der frommen Lebensführung und nicht als Arbeitskraft", so Kaiser.
Vorschnelle Urteile über Konvertiten verbieten sich - selbst im Falle der Wahhabitin Mareike gelingt es Kaiser, herauszuarbeiten, dass sich hinter ihrer Verschleierung, in der viele eine patriarchale Unterdrückung erkennen, eine Strategie der Selbstermächtigung verbirgt: Durch ihre religiöse Strenge gelinge es Mareike immer wieder spielend, "sich in eine Position der moralischen Überlegenheit zu bringen", und die nutze sie aus. Was nicht heißt, dass es keine Ängste und Irritationen gibt. Es sei tragisch, so Kaiser, dass gerade Konvertiten mit ihrer großen Offenheit für mehrere Kulturen oft von beiden Seiten ausgeschlossen würden.
CHRISTIAN MEIER
Esra Özyürek: "Deutsche Muslime - muslimische Deutsche". Begegnungen mit Konvertiten zum Islam.
Aus dem Englischen von Felix Kurz. Springer Verlag, Wiesbaden 2018. 192 S., geb., 22,99 [Euro].
Susanne Kaiser: "Die neuen Muslime". Warum junge Menschen zum Islam konvertieren.
Promedia Verlag, Wien 2018.
192 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Islam als Lebensmodell für Abgehängte? Esra Özyürek und Susanne Kaiser untersuchen Motive und Gefühlslage von Konvertiten
Ele fand im Islam die festen Werte, die sie in ihrem Leben so lange vermisst hatte: "Ich habe meine Erfüllung gefunden", sagt sie. Ihr Ideal ist eine Gesellschaft, in der sich jeder um den anderen kümmert. Der Imam Ferid glaubt, die Muslime müssten offensiv "für bestimmte Grundwerte einstehen" - zum Beispiel für ein konservatives Familienbild. Im Islam, in Religion generell sieht er "die wichtigste Quelle für Moral", ohne die die deutsche Gesellschaft auf die schiefe Bahn zu geraten drohe. Die tief verschleierte Mareike sagt, das Wichtigste sei für sie, "Allah nicht zu enttäuschen". Was die Leute über sie dächten, sei ihr egal. Und Aamal, die erst vor kurzem Muslimin geworden ist, macht sich ununterbrochen Gedanken darüber, ob sie die islamischen Regeln auch lückenlos befolgt: "Denn der Satan in mir ist sehr stark."
Nächstenliebe, familiärer und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Frömmigkeit, Gottesfurcht - das sind Werte, die zum Islam konvertierte Deutsche hochhalten und die für sie den Islam ausmachen. Dabei verstehen sie sich zugleich auch als Deutsche und vorbildliche Bürger - bei allen Schwierigkeiten, die sie in und mit diesem Land haben. Die öffentliche Wahrnehmung von Konvertiten ist ganz anders: "Hundertfünfzigprozentige" Muslime seien sie, übertrieben strenggläubig. Tatsächlich besaßen salafistische Gemeinden in den vergangenen Jahren eine besondere Anziehungskraft auf Neumuslime. Ihnen schlägt Misstrauen entgegen, zumal immer wieder von Konvertiten die Rede ist, die sich Terrorgruppen angeschlossen haben. Zum Islam konvertierte Deutsche rühren aber an noch fundamentalere Ängste in der Mehrheitsgesellschaft: Aus deren Sicht, schreibt die Soziologin Esra Özyürek, würden sie "zum sichtbarsten Anzeichen dafür, dass der Islam dabei ist, Europas Geist, Lebensweise und Kultur zu beherrschen". In diesem Sinne ist der Konvertit ein Verräter - an Deutschland und dessen christlich-abendländischer Kultur.
Das bekommen viele von ihnen zu spüren. Konvertiten sind oft einsam. Mareike, die in einer Kleinstadt im Südwesten Deutschlands lebt, etwa sagt, ihre "beste Freundin" lebe in Berlin. Ihr persönlich begegnet ist die junge Muslimin freilich noch nie. Ihre Freundschaft besteht im Internet. Ben, ein weiterer Konvertit, wird von seiner Familie geschnitten, seine Mutter hat seit seiner Hinwendung zum Islam vor zehn Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Dabei gefällt ihnen am Islam doch gerade die Betonung der Gemeinschaftlichkeit. Ironischerweise sind sie auch von Seiten türkisch- und arabischstämmiger Muslime mit Vorbehalten konfrontiert.
Die Erfahrungswelten konvertierter Deutscher sind extrem unterschiedlich, sie alle eint jedoch, dass sie sich anders zu ihrer Religion positionieren müssen als gebürtige Muslime: Sie können nicht einfach "den Islam leben", wie sie ihn von Kindheit an kennengelernt haben, sondern müssen bewusst Entscheidungen treffen, welcher der vielen Auslegungen sie folgen. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, aus der sie herausgetreten sind. Welche individuellen Lösungen Neumuslime angesichts dieser doppelten Herausforderung gefunden haben, beschreiben zwei neue Bücher mit unterschiedlichen Zugriffen: Während Esra Özyüreks "Deutsche Muslime - muslimische Deutsche" die Arbeit einer ethnologisch arbeitenden Soziologin ist, geht die Journalistin Susanne Kaiser in "Die neuen Muslime" auf die Geschichten von vier jüngeren Konvertiten ein.
Beide Autorinnen haben in der Auswahl ihrer Fallbeispiele, denen die hier zitierten Stimmen entstammen, nicht danach gestrebt, alle Extrempositionen abzudecken. Gerade deshalb erhält man in der Zusammenschau beider Bücher einen guten Eindruck von den Vorstellungen "durchschnittlicher" Konvertiten - so es solche überhaupt gibt.
Özyürek weist dabei auf ein überraschendes Phänomen hin: Viele deutsche Konvertiten strebten danach, sich vom Islam der Türken oder Araber abzugrenzen - sie "lieben den Islam (. . .), aber gebürtigen Muslimen aus Deutschland oder anderen Ländern mit Liebe zu begegnen, fällt ihnen nicht immer leicht". Stattdessen konstruierten sie einen gereinigten, "vernünftigen" Islam, der einerseits postnational sein, andererseits besonders gut zum Deutschsein passen soll. Sie beziehen sich dafür etwa auf die Ideale der Aufklärung, führen Goethe und Lessing als Vorbilder an, "um zugleich ein besserer Deutscher und ein besserer Muslim zu werden". Özyürek sieht darin eine Reaktion auf die "rassifizierte" Feindseligkeit gegenüber gebürtigen Muslimen in Deutschland, die sich auch auf Konvertiten erstreckt.
Dass die Konvertiten einen "universalistischen Islam" konstruieren, hält die in London lehrende Anthropologin gleichwohl für "eurozentristisch". Denn dies schreibe den angeblichen Gegensatz eines rationalen europäischen beziehungsweise deutschen Geistes und eines weniger vernünftigen "orientalischen" Wesens fort. Auf diesen Thesen hat Özyürek ihre ursprünglich 2015 auf Englisch erschienene Studie aufgebaut. Ungeachtet mancher Redundanzen erklärt sie darin differenziert die Lebenssituation von Konvertiten und beschreibt etwa auch, warum der Islam nach der Wiedervereinigung gerade auf Ostdeutsche Faszination ausübte: Er bot ihnen, so dachten sie, einen Ausweg aus ihrer Marginalisierung als Bürger zweiter Klasse.
Auch auf die Anziehungskraft des Salafismus geht sie ein. Um einen Ausweg aus Entfremdung und Identitätskrisen gehe es bei Konvertiten weniger, glaubt Özyürek, eher kämen viele der Charakteristika salafistischer Gemeinden - Missionsdrang, Buchstabengläubigkeit, Ablehnung "nationaler" Traditionen sowie herkömmlicher religiöser Hierarchien - ihrem Orientierungsbedürfnis nach der Konversion entgegen. "Salafistische Moscheen sind die einzigen muslimischen Orte in Deutschland, an denen Frömmigkeit mehr zählt als Herkunft oder Abstammung", schreibt sie. Es ist freilich die Frage, ob Özyürek dies heute nicht anders sehen würde, denn ihre Feldforschung fand zwischen 2006 und 2013 statt. Mittlerweile gibt es kleine liberale Gemeinden, die versuchen, den eben formulierten Anspruch zu erfüllen.
Dennoch liest man mit Özyüreks theoretisch gewendeten Betrachtungen im Hinterkopf Susanne Kaisers Buch mit noch mehr Gewinn. Die vier Protagonisten kommen bei der Journalistin ausführlich zu Wort, wenn auch über das ganze Buch verteilt, so dass man bisweilen ein wenig den Faden verliert. Kaiser ordnet die Lebensgeschichten dafür gut in gesellschaftliche Zusammenhänge ein - bisweilen mit überraschenden Pointen, etwa wenn sie auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Familien- und Gesellschaftsbild konservativer Muslime und dem der Neuen Rechten hinweist.
Zugleich macht sie Selbstwidersprüche sichtbar. So preist Ele, die in Armut und schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, das strenge islamische Familien- und Rollenmodell - dem sie selbst keineswegs entspricht als geschiedene, alleinerziehende Mutter. Und Ben, der Anwalt war, bevor er seines Lebens als "Egosau" überdrüssig wurde, ausstieg und im Islam Erlösung fand, redet mit Vorliebe über sich und seine persönliche Beziehung zu Gott. An diesen Beispielen wird deutlich, warum der Islam gerade denjenigen ein überzeugendes Lebensmodell anzubieten vermag, die in der neoliberalen Leistungsgesellschaft auf der Strecke geblieben sind: Er biete "entlastende Sicherheit", schreibt Kaiser, weil er zum einen über feste Strukturen und Abläufe verfüge, zum anderen die moralische Überlegenheit einer "ausgewählten Elite" vermittle.
Was er dafür einfordert, ist Selbstdisziplin. Spannend sind die Passagen, in denen Kaiser die "Selbsterziehung zur Frömmigkeit" beschreibt, die gerade Neumuslime betreiben, um den Islam zum Zentrum ihres Lebens zu machen - durch die täglichen Gebete, durch Speise- und Kleidungsvorschriften. Es ist eine ironische Volte, dass diese glaubenspraktische Selbstdisziplinierung letztlich wieder in eine neoliberale Philosophie der Selbstoptimierung mündet: "Sie wollen sich ständig weiter optimieren, sei es auch in der frommen Lebensführung und nicht als Arbeitskraft", so Kaiser.
Vorschnelle Urteile über Konvertiten verbieten sich - selbst im Falle der Wahhabitin Mareike gelingt es Kaiser, herauszuarbeiten, dass sich hinter ihrer Verschleierung, in der viele eine patriarchale Unterdrückung erkennen, eine Strategie der Selbstermächtigung verbirgt: Durch ihre religiöse Strenge gelinge es Mareike immer wieder spielend, "sich in eine Position der moralischen Überlegenheit zu bringen", und die nutze sie aus. Was nicht heißt, dass es keine Ängste und Irritationen gibt. Es sei tragisch, so Kaiser, dass gerade Konvertiten mit ihrer großen Offenheit für mehrere Kulturen oft von beiden Seiten ausgeschlossen würden.
CHRISTIAN MEIER
Esra Özyürek: "Deutsche Muslime - muslimische Deutsche". Begegnungen mit Konvertiten zum Islam.
Aus dem Englischen von Felix Kurz. Springer Verlag, Wiesbaden 2018. 192 S., geb., 22,99 [Euro].
Susanne Kaiser: "Die neuen Muslime". Warum junge Menschen zum Islam konvertieren.
Promedia Verlag, Wien 2018.
192 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Christian Meier rät Susanne Kaisers Buch über die neuen Muslime, also zum Islam konvertierte junge Menschen, ergänzend zu Esra Özyüreks Studie über muslimische Deutsche zu lesen. Denn dort, wo Özyürek theoretisch erläutert, lässt die Journalisten vier ProtagonistInnen persönlich zu Wort kommen, informiert der Kritiker, der hier etwa Ele lauscht, die, aufgewachsen in Armut und schwierigen familiären Verhältnissen, gerade das strenge islamische Familien- und Rollenmodell schätzt. Interessiert liest Meier darüber hinaus nicht nur, wie jene neuen Muslime sich zur "Frömmigkeit" selbst erziehen, sondern er erfährt auch, wie ähnlich das Familien- und Gesellschaftsbild konservativer Muslime mitunter jenem der Neuen Rechten ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH