Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Hört auf mit dem militaristischen Quatsch!
Der Kriegshistoriker war kein Kriegstreiber: Hans Delbrücks Hauptwerk in einer Neuausgabe / Von Hans-Christof Kraus
Es bedeutet schon ein gewisses Wagnis, ein Werk mit diesem Titel heute neu herauszubringen, denn von "Kriegskunst" zu reden erscheint nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und mannigfacher späterer Konflikte auf den ersten Blick mehr als befremdlich. Und der Verfasser dieses monumentalen Werkes macht es einem nicht eben leichter, wenn er noch 1919 feststellte, die "Kriegskunst" sei tatsächlich "eine Kunst wie die Malerei, die Baukunst oder die Pädagogik, und das ganze kulturelle Dasein der Völker wird in hohem Grade bestimmt durch ihre Kriegsverfassungen, die wiederum mit der Technik des Krieges zusammenhängen". Gemeint ist aber eigentlich etwas anderes: "Kunst" kam auch für Delbrück von Können, hing mit Fähigkeit und Geschicklichkeit zusammen. Und mit dem Begriff der "Kriegskunst" umschrieb er nicht in erster Linie die Begabungen und Leistungen großer Strategen und Heerführer, sondern vor allem die Fähigkeit, Konflikte aus dem Blickpunkt einer verantwortlichen Politik nach Möglichkeit einzuhegen und so zu führen, daß Menschenverluste begrenzt, daß übergroße Schäden und langfristige Verwüstungen vermieden werden konnten. Denn Delbrück war tief von dem Grundsatz Clausewitz' geprägt, Krieg sei nur als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, niemals, unter keinen Umständen jedoch als Selbstzweck (und schon gar nicht in der alleinigen Verantwortlichkeit von Militärs) zu führen. Mit Ludendorff und Tirpitz hat er nach dem Ersten Weltkrieg öffentlich scharf abgerechnet.
In allem, was er unternahm, war Hans Delbrück ein Kämpfer aus Passion. Als Sproß einer angesehenen und weitverbreiteten Beamten- und Gelehrtenfamilie 1848 in Bergen auf Rügen geboren, studierte er Geschichte und wurde 1873 bei Henrich von Sybel mit einer mediävistischen Dissertation promoviert. Sein hierbei bewiesenes kritisches Temperament wandte er anschließend bereits früh auf die Militärgeschichte an. Als junger Leutnant hatte er 1870 am Krieg teilgenommen und gedachte die hierbei gewonnenen Erfahrungen auch methodisch zu reflektieren: Er erwählte sich die "Geschichte der Kriegskunst", die er nicht den Berufsmilitärs und den Historiographen des Generalstabs meinte überlassen zu können, zu seiner Lebensaufgabe.
Delbrück hatte bereits früh mit heftigen Widerständen zu kämpfen, denn nicht nur die Militärs, die sich ihr scheinbar ureigenes Gebiet von einem "Laien" (der "nur" aktiver Reserveoffizier war) nicht nehmen lassen wollten, sondern auch seine Kollegen machten ihm Schwierigkeiten. Nur mit Mühe konnte er sich mit seinen kriegsgeschichtlichen Studien 1881 in Berlin habilitieren, und erst 1896 erhielt er in der Nachfolge Heinrich von Treitschkes an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine ordentliche Professur. Doch als "begabter Intellektualist von gewaltiger Vitalität und größtem Selbstbewußtsein" (Friedrich Meinecke) setzte er sich durch. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit war er zeitweilig Landtags- und Reichstagsabgeordneter der Freikonservativen Partei, und fast drei Jahrzehnte lang gab er darüber hinaus eine der wichtigsten historisch-politischen Zeitschriften des Reiches heraus: die vor allem von hohen Beamten gelesenen, gemäßigt liberalen "Preußischen Jahrbücher".
Sein Hauptwerk schuf er unter vielen Mühen: Schon der alte Ranke hatte den Plan einer "Geschichte der Kriegskunst" abgelehnt, und Mommsen erklärte dem jungen Kollegen bei Entgegennahme des ersten, die Antike behandelnden Bandes rundheraus, "seine Zeit werde ihm doch wohl kaum erlauben, dieses Buch zu lesen". Doch Delbrück ließ sich auch durch diese Giganten der Gelehrsamkeit nicht einschüchtern und schon gar nicht verunsichern: "Neue Ideen haben sich durchzusetzen nicht nur gegen den zähen Widerstand des Überlieferten, sondern auch gegen das fast noch unbelehrbarere Mißverständnis."
So entstand in den Jahren 1900 bis 1919 im Geschützfeuer heftigster Kontroversen das vierbändige Hauptwerk, ein überaus eindrucksvolles Textgebirge von mehr als 2700 Druckseiten. Bereits in seinen früheren Publikationen, der Biographie Gneisenaus oder der vergleichenden Studie "Die Strategie des Perikles erläutert durch die Strategie Friedrichs des Großen", hatte Delbrück seine spezifische Methode der "Sachkritik" ausgebildet, die darin bestand, alle scheinbar autoritative Quellenüberlieferung kritisch in Frage zu stellen und dabei auch den Anachronismus, die direkte Konfrontation mit Gegenwartserfahrungen, keineswegs zu scheuen. Das betraf - neben geographischen Aspekten - zuerst und vor allem die Zahlenangaben antiker Heeresstärken, die er im Anschluß an Karl Julius Belochs demographische Forschungen radikal reduzierte.
Ein berühmtes Beispiel für die Anwendung der sachkritischen Methode ist die Rekonstruktion der Schlacht bei Marathon im ersten Band der "Geschichte der Kriegskunst". Herodots Bericht wird schon in den Zahlenangaben quellenkritisch derart zerpflückt, daß von der athenischen Heldengeschichte des Kampfes gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner kaum noch etwas übrigbleibt. Und der Lauf, mit dem sich die Athener, so Herodot, über eineinhalb Kilometer hinweg auf den Feind "gestürzt" hätten, wird unter Berufung auf das preußische Reglement (nach dessen Vorschrift mit Gepäck nicht länger als zwei Minuten gelaufen werden durfte) und mit Hinweis auf das Alter der athenischen Krieger wohl zu Recht ins Reich der Fabel verwiesen.
Dabei wurde gleich noch ein Fakultätskollege, der berühmte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, ins Visier genommen, der jegliche militärhistorische Einwände gegen Herodots Bericht als "Bagatellen" abgelehnt und hinzugefügt hatte, Artemis selbst habe den Athenern die Kraft zum Sieg gegeben. Dies tat der Verfasser der "Geschichte der Kriegskunst" als absurd ab. Es entstand eine jener sprichwörtlichen, von ihrem Helden geradezu lustvoll durchgefochtenen Delbrück-Kontroversen, denn natürlich wehrte sich der große Gräzist, unterstützt von Delbrücks Lieblingsgegner, dem Archäologen Johannes Kromayer, gegen diese Kritik - und wurde von Delbrück wiederum in den "Preußischen Jahrbüchern" mit einem dreißigseitigen Artikel als "Theologischer Philologe" vernichtend abgefertigt. Das war überaus kennzeichnend für diesen umtriebigen Mann, den sein früherer Gönner und späterer Gegner Treitschke ironisch als "Hans Tapps" zu titulieren pflegte und der sich nirgends wohler zu fühlen schien als inmitten einer Schar wirklicher oder auch nur potentieller Feinde.
Der Darstellung ist dies in allen vier Bänden auch immer wieder anzumerken. Wohl ohne Nietzsche gelesen zu haben, betrieb Delbrück tatsächlich "kritische Historie" im Sinne der zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung"; er betätigte sich als Legendenzerstörer, dem es darum ging, unwahrscheinliche Überlieferungen "quellenkritisch und sachlich aufzulösen und zu widerlegen", die sich nicht selten als "Wachstubengeschichten und Adjutantenklatsch" (eine typische Delbrück-Formulierung) herausstellten. Das hinderte ihn aber nicht daran, militärische Genies ausdrücklich und mit starken Worten zu rühmen - so etwa Hannibal und vor allem Caesar, den er als Gipfel der antiken Kriegskunst ebenso pries, wie Mommsen im dritten Band seiner "Römischen Geschichte" einst den Politiker Caesar in den Himmel gehoben hatte.
Der dem Mittelalter gewidmete dritte Band verliert sich mehr als die drei anderen im Detail, in einzelnen Schlachtschilderungen, denn vom Fortschritt der Taktik konnte hier in der Sicht des Autors keine Rede mehr sein. Das feudale Ritterheer wurde von Delbrück im Vergleich mit der griechisch-römischen Kriegskunst eher als Signum des Verfalls angesehen. Erst mit der Entstehung der Schweizer Infanterie in den Burgunderkriegen des späten vierzehnten Jahrhunderts erhielt, so seine These, die Entwicklung der Kriegskunst wieder Anschluß an einstige Höhen: "Wie in den Perserkriegen hat in den Burgunderkriegen das Fußvolk mit der blanken Waffe gesiegt über das Heer von Rittern und Schützen. Dieser Sieg muß alles wandeln." So also begann nach Delbrück militärgeschichtlich die Neuzeit.
Der vierte Band, der vom "Kriegswesen der Renaissance" bis zur "Epoche der Volksheere", also bis zu den Revolutions- und Befreiungskriegen, reicht, nimmt eine heftige Kontroverse wieder auf, die Delbrück als junger Gelehrter initiiert hatte: Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Vernichtungs- und Ermattungsstrategie sowie speziell um die Frage, ob Friedrich der Große (wie die Historiker des Generalstabes behaupteten) Vernichtungsstratege in der Vorläuferschaft Napoleons oder (so Delbrück) einer der letzten Vertreter der Ermattungsstrategie gewesen sei.
Was das erste anbetraf, so berief er sich, wohl zu Recht, auf Clausewitz, der diese Differenzierung bereits im Ansatz entwickelt, aber noch nicht ausgeführt und erläutert hatte: Unter gewissen Bedingungen und unter dem Druck äußerer Umstände sei die Hauptform kriegerischer Aktion, die Vernichtung oder Niederwerfung des Gegners in der Schlacht, nicht immer zu verwirklichen. Ein Feldherr in solcher Lage müsse zur Ermattungsstrategie greifen, den Gegner durch kleinere taktische Überfälle, gewagte Manöver, durch Schädigung seiner Wirtschaft, durch Blockaden, partielle Landbesetzung und anderes in die Enge treiben und zum Friedensschluß veranlassen. So stellte Delbrück den großen "Vernichtungsstrategen" Alexander, Caesar und Napoleon die "Ermattungsstrategen" Perikles, Wallenstein, Gustav Adolf und vor allem Friedrich den Großen gegenüber.
Daraus entwickelte sich der "Strategiestreit", in dessen Verlauf die profiliertesten Historiker unter den Militärs, die Generale Colmar von der Goltz und Friedrich von Bernhardi, ihren Konkurrenten mit großer Schärfe attackierten. Denn Delbrück hatte gleich gegen zwei Tabus verstoßen: zum einen gegen das seinerzeit geheiligte militärische Dogma von der Vernichtungsstrategie, und zum anderen schien er am Ruhm des "großen Friedrich" dadurch gekratzt zu haben, daß er ihm das scheinbar "unheroische" Etikett des Ermattungsstrategen aufklebte. Diese - mit einer aus dem Blickwinkel der Gegenwart kaum verständlichen Heftigkeit geführte - Kontroverse war nicht weniger typisch für das wissenschaftspolitische Klima des Wilhelminismus als etwa der "Historikerstreit" der achtziger Jahre für das der alten Bundesrepublik. Delbrück konnte sich mit seiner These allerdings gegen die Meinungsführer jener Zeit nicht vollständig durchsetzen, und auch aus heutiger Sicht wird man wohl zugeben müssen, daß sich bei Friedrich beide taktisch-strategischen Elemente finden lassen.
Es ist kennzeichnend für Delbrücks Werk - und hierin liegt ein wichtiges Element seiner Aktualität -, daß er sich von Spezialisten nicht einschüchtern ließ: Den Militärs, die seine Kompetenz in Frage stellten, hielt er entgegen, auch vom Kunsthistoriker verlange niemand, daß er Bilder male oder Statuen erschaffe. Auch bestand er darauf, daß Militärgeschichte als Teil gesamtgeschichtlicher Bemühungen zu betreiben sei, denn "alle Einzel-Geschichten fließen zusammen in der Universal-Geschichte und befruchten sich gegenseitig". Mit diesem Ziel einer integralen Historie rechtfertigte er die Existenz und die Bedeutung einer eigenständigen Militärgeschichte. Und nicht zuletzt kam es ihm darauf an, niemals im militärischen Detail steckenzubleiben, denn nur "die Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen Taktik, Strategie, Staatsverfassung und Politik wirft ihr Licht auf den Zusammenhang der Universalgeschichte".
Genau hierin ist und bleibt die "Geschichte der Kriegskunst" ein immer noch vorbildliches Werk. Auch wenn sich die Militärgeschichte unserer Tage völlig zu Recht anderen, früher vernachlässigten Gebieten zuwendet - etwa den Lebensbedingungen der einfachen Soldaten, dem Problem der Desertion, einer psychologisch vertieften Analyse des kriegerischen Phänomens "Gewalt" -, bleibt doch auch weiterhin das Ziel einer integrativen Geschichtsschreibung bestehen, die möglichst alle Aspekte des Militärischen im Zusammenhang sozialer und politischer Gegebenheiten und Entwicklungen analysieren und interpretieren sollte.
In diesem Sinne darf man den Verfasser der "Geschichte der Kriegskunst" weiterhin als einen der "letzten Klassiker der Geschichtsschreibung" ansehen, wie ihn Theodor Heuß 1948 in einem Artikel zum einhundertsten Geburtstag genannt hat. In anderer Hinsicht war er es sicher nicht. Als Stilist ist er mit Burckhardt und Ranke ebensowenig zu vergleichen wie mit Mommsen und Treitschke. Und der Militärhistoriker erlangte in seinen wissenschaftlichen Bemühungen auch nicht die quellenmäßig erschöpfende Genauigkeit solcher fußnotengespickter Werke wie etwa des "Deutschen Genossenschaftsrechts" seines Berliner Universitätskollegen Otto von Gierke.
Delbrücks Ziele waren bescheidener. Obwohl er zeitweilig, während des Ersten Weltkrieges, den Versuch unternahm, mit seinen großangelegten Analysen des Kriegsgeschehens (später in drei umfangreichen Bänden gesammelt) und im Kontakt zu führenden Militärs, etwa Falkenhayn, Einfluß auf die deutsche Strategie zu gewinnen (und hiermit scheiterte), legte es sein Hauptwerk, wie er selbst formulierte, nicht darauf an, "den Krieg zu lehren in lauter historischen Beispielen. Was die Geschichte für den praktischen Zweck etwa leisten könnte, das ist Sache des Militärs. Ich bin nichts als Historiker und wollte ein Werk für Geschichtsfreunde und ein Hilfsbuch für Historiker im Geiste Leopold Rankes schreiben." Mit diesen Worten endet das Vorwort zur ersten Auflage.
Heutige Spezialisten urteilen überwiegend positiv; so meinte Gordon Craig, es bestehe kein Zweifel, "daß die ,Geschichte der Kriegskunst' eines der besten Beispiele für die Anwendung der modernen Wissenschaft auf das Erbe der Vergangenheit bleiben wird. Wenn auch in Einzelheiten anfechtbar, steht der Hauptteil des Werkes unerschüttert." Und Andreas Hillgruper wertete das Werk als "große originelle Leistung", die in mehr als einer Hinsicht bahnbrechend gewirkt habe. Diese Einschätzungen bleiben gültig - auch dann, wenn manche Aspekte von Person und Werk der Gegenwart sehr fernstehen, so etwa der von heutigen Kritikern gerne monierte hegelianisch grundierte Kulturoptimismus Delbrücks oder auch die zuweilen etwas sehr vehement sich äußernde "protestantische" Wahrheitsattitüde, mit welcher der Historiker (dessen Schwager und engster Freund Adolf von Harnack war) vor sein Publikum zu treten pflegte.
Friedrich Meineckes abwägendes Urteil über den berühmten älteren Kollegen dürfte noch heute Bestand haben: "Delbrück ist in der Wissenschaft dadurch so ungemein fruchtbar geworden, daß man bei seinen kühnen und immer anregenden, oft aufregenden Thesen lernen mußte, scharf aufzupassen, wie weit man ihnen dankbar folgen könne, wie weit man sie abzulehnen habe." Und er fügte hinzu: "Die Zunft hat ihm nach meinem Gefühl nicht den Dank abgestattet, auf den ein solcher starker Einzelkämpfer, der gern seine eigenen Schlachten schlug, Anspruch hatte." Die längst fällige Neuauflage der "Geschichte der Kriegskunst" sollte zum Anlaß genommen werden, dieses Versäumnis nachzuholen.
Hans Delbrück: "Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte". Vier Bände. Einleitung zur Neuausgabe von Ulrich Raulff. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2000. LVI u. 720, VII u. 564, IX u. 793, XI u. 640 S., geb., in Kassette, 198,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kriegshistoriker war kein Kriegstreiber: Hans Delbrücks Hauptwerk in einer Neuausgabe / Von Hans-Christof Kraus
Es bedeutet schon ein gewisses Wagnis, ein Werk mit diesem Titel heute neu herauszubringen, denn von "Kriegskunst" zu reden erscheint nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und mannigfacher späterer Konflikte auf den ersten Blick mehr als befremdlich. Und der Verfasser dieses monumentalen Werkes macht es einem nicht eben leichter, wenn er noch 1919 feststellte, die "Kriegskunst" sei tatsächlich "eine Kunst wie die Malerei, die Baukunst oder die Pädagogik, und das ganze kulturelle Dasein der Völker wird in hohem Grade bestimmt durch ihre Kriegsverfassungen, die wiederum mit der Technik des Krieges zusammenhängen". Gemeint ist aber eigentlich etwas anderes: "Kunst" kam auch für Delbrück von Können, hing mit Fähigkeit und Geschicklichkeit zusammen. Und mit dem Begriff der "Kriegskunst" umschrieb er nicht in erster Linie die Begabungen und Leistungen großer Strategen und Heerführer, sondern vor allem die Fähigkeit, Konflikte aus dem Blickpunkt einer verantwortlichen Politik nach Möglichkeit einzuhegen und so zu führen, daß Menschenverluste begrenzt, daß übergroße Schäden und langfristige Verwüstungen vermieden werden konnten. Denn Delbrück war tief von dem Grundsatz Clausewitz' geprägt, Krieg sei nur als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, niemals, unter keinen Umständen jedoch als Selbstzweck (und schon gar nicht in der alleinigen Verantwortlichkeit von Militärs) zu führen. Mit Ludendorff und Tirpitz hat er nach dem Ersten Weltkrieg öffentlich scharf abgerechnet.
In allem, was er unternahm, war Hans Delbrück ein Kämpfer aus Passion. Als Sproß einer angesehenen und weitverbreiteten Beamten- und Gelehrtenfamilie 1848 in Bergen auf Rügen geboren, studierte er Geschichte und wurde 1873 bei Henrich von Sybel mit einer mediävistischen Dissertation promoviert. Sein hierbei bewiesenes kritisches Temperament wandte er anschließend bereits früh auf die Militärgeschichte an. Als junger Leutnant hatte er 1870 am Krieg teilgenommen und gedachte die hierbei gewonnenen Erfahrungen auch methodisch zu reflektieren: Er erwählte sich die "Geschichte der Kriegskunst", die er nicht den Berufsmilitärs und den Historiographen des Generalstabs meinte überlassen zu können, zu seiner Lebensaufgabe.
Delbrück hatte bereits früh mit heftigen Widerständen zu kämpfen, denn nicht nur die Militärs, die sich ihr scheinbar ureigenes Gebiet von einem "Laien" (der "nur" aktiver Reserveoffizier war) nicht nehmen lassen wollten, sondern auch seine Kollegen machten ihm Schwierigkeiten. Nur mit Mühe konnte er sich mit seinen kriegsgeschichtlichen Studien 1881 in Berlin habilitieren, und erst 1896 erhielt er in der Nachfolge Heinrich von Treitschkes an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine ordentliche Professur. Doch als "begabter Intellektualist von gewaltiger Vitalität und größtem Selbstbewußtsein" (Friedrich Meinecke) setzte er sich durch. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit war er zeitweilig Landtags- und Reichstagsabgeordneter der Freikonservativen Partei, und fast drei Jahrzehnte lang gab er darüber hinaus eine der wichtigsten historisch-politischen Zeitschriften des Reiches heraus: die vor allem von hohen Beamten gelesenen, gemäßigt liberalen "Preußischen Jahrbücher".
Sein Hauptwerk schuf er unter vielen Mühen: Schon der alte Ranke hatte den Plan einer "Geschichte der Kriegskunst" abgelehnt, und Mommsen erklärte dem jungen Kollegen bei Entgegennahme des ersten, die Antike behandelnden Bandes rundheraus, "seine Zeit werde ihm doch wohl kaum erlauben, dieses Buch zu lesen". Doch Delbrück ließ sich auch durch diese Giganten der Gelehrsamkeit nicht einschüchtern und schon gar nicht verunsichern: "Neue Ideen haben sich durchzusetzen nicht nur gegen den zähen Widerstand des Überlieferten, sondern auch gegen das fast noch unbelehrbarere Mißverständnis."
So entstand in den Jahren 1900 bis 1919 im Geschützfeuer heftigster Kontroversen das vierbändige Hauptwerk, ein überaus eindrucksvolles Textgebirge von mehr als 2700 Druckseiten. Bereits in seinen früheren Publikationen, der Biographie Gneisenaus oder der vergleichenden Studie "Die Strategie des Perikles erläutert durch die Strategie Friedrichs des Großen", hatte Delbrück seine spezifische Methode der "Sachkritik" ausgebildet, die darin bestand, alle scheinbar autoritative Quellenüberlieferung kritisch in Frage zu stellen und dabei auch den Anachronismus, die direkte Konfrontation mit Gegenwartserfahrungen, keineswegs zu scheuen. Das betraf - neben geographischen Aspekten - zuerst und vor allem die Zahlenangaben antiker Heeresstärken, die er im Anschluß an Karl Julius Belochs demographische Forschungen radikal reduzierte.
Ein berühmtes Beispiel für die Anwendung der sachkritischen Methode ist die Rekonstruktion der Schlacht bei Marathon im ersten Band der "Geschichte der Kriegskunst". Herodots Bericht wird schon in den Zahlenangaben quellenkritisch derart zerpflückt, daß von der athenischen Heldengeschichte des Kampfes gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner kaum noch etwas übrigbleibt. Und der Lauf, mit dem sich die Athener, so Herodot, über eineinhalb Kilometer hinweg auf den Feind "gestürzt" hätten, wird unter Berufung auf das preußische Reglement (nach dessen Vorschrift mit Gepäck nicht länger als zwei Minuten gelaufen werden durfte) und mit Hinweis auf das Alter der athenischen Krieger wohl zu Recht ins Reich der Fabel verwiesen.
Dabei wurde gleich noch ein Fakultätskollege, der berühmte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, ins Visier genommen, der jegliche militärhistorische Einwände gegen Herodots Bericht als "Bagatellen" abgelehnt und hinzugefügt hatte, Artemis selbst habe den Athenern die Kraft zum Sieg gegeben. Dies tat der Verfasser der "Geschichte der Kriegskunst" als absurd ab. Es entstand eine jener sprichwörtlichen, von ihrem Helden geradezu lustvoll durchgefochtenen Delbrück-Kontroversen, denn natürlich wehrte sich der große Gräzist, unterstützt von Delbrücks Lieblingsgegner, dem Archäologen Johannes Kromayer, gegen diese Kritik - und wurde von Delbrück wiederum in den "Preußischen Jahrbüchern" mit einem dreißigseitigen Artikel als "Theologischer Philologe" vernichtend abgefertigt. Das war überaus kennzeichnend für diesen umtriebigen Mann, den sein früherer Gönner und späterer Gegner Treitschke ironisch als "Hans Tapps" zu titulieren pflegte und der sich nirgends wohler zu fühlen schien als inmitten einer Schar wirklicher oder auch nur potentieller Feinde.
Der Darstellung ist dies in allen vier Bänden auch immer wieder anzumerken. Wohl ohne Nietzsche gelesen zu haben, betrieb Delbrück tatsächlich "kritische Historie" im Sinne der zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung"; er betätigte sich als Legendenzerstörer, dem es darum ging, unwahrscheinliche Überlieferungen "quellenkritisch und sachlich aufzulösen und zu widerlegen", die sich nicht selten als "Wachstubengeschichten und Adjutantenklatsch" (eine typische Delbrück-Formulierung) herausstellten. Das hinderte ihn aber nicht daran, militärische Genies ausdrücklich und mit starken Worten zu rühmen - so etwa Hannibal und vor allem Caesar, den er als Gipfel der antiken Kriegskunst ebenso pries, wie Mommsen im dritten Band seiner "Römischen Geschichte" einst den Politiker Caesar in den Himmel gehoben hatte.
Der dem Mittelalter gewidmete dritte Band verliert sich mehr als die drei anderen im Detail, in einzelnen Schlachtschilderungen, denn vom Fortschritt der Taktik konnte hier in der Sicht des Autors keine Rede mehr sein. Das feudale Ritterheer wurde von Delbrück im Vergleich mit der griechisch-römischen Kriegskunst eher als Signum des Verfalls angesehen. Erst mit der Entstehung der Schweizer Infanterie in den Burgunderkriegen des späten vierzehnten Jahrhunderts erhielt, so seine These, die Entwicklung der Kriegskunst wieder Anschluß an einstige Höhen: "Wie in den Perserkriegen hat in den Burgunderkriegen das Fußvolk mit der blanken Waffe gesiegt über das Heer von Rittern und Schützen. Dieser Sieg muß alles wandeln." So also begann nach Delbrück militärgeschichtlich die Neuzeit.
Der vierte Band, der vom "Kriegswesen der Renaissance" bis zur "Epoche der Volksheere", also bis zu den Revolutions- und Befreiungskriegen, reicht, nimmt eine heftige Kontroverse wieder auf, die Delbrück als junger Gelehrter initiiert hatte: Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Vernichtungs- und Ermattungsstrategie sowie speziell um die Frage, ob Friedrich der Große (wie die Historiker des Generalstabes behaupteten) Vernichtungsstratege in der Vorläuferschaft Napoleons oder (so Delbrück) einer der letzten Vertreter der Ermattungsstrategie gewesen sei.
Was das erste anbetraf, so berief er sich, wohl zu Recht, auf Clausewitz, der diese Differenzierung bereits im Ansatz entwickelt, aber noch nicht ausgeführt und erläutert hatte: Unter gewissen Bedingungen und unter dem Druck äußerer Umstände sei die Hauptform kriegerischer Aktion, die Vernichtung oder Niederwerfung des Gegners in der Schlacht, nicht immer zu verwirklichen. Ein Feldherr in solcher Lage müsse zur Ermattungsstrategie greifen, den Gegner durch kleinere taktische Überfälle, gewagte Manöver, durch Schädigung seiner Wirtschaft, durch Blockaden, partielle Landbesetzung und anderes in die Enge treiben und zum Friedensschluß veranlassen. So stellte Delbrück den großen "Vernichtungsstrategen" Alexander, Caesar und Napoleon die "Ermattungsstrategen" Perikles, Wallenstein, Gustav Adolf und vor allem Friedrich den Großen gegenüber.
Daraus entwickelte sich der "Strategiestreit", in dessen Verlauf die profiliertesten Historiker unter den Militärs, die Generale Colmar von der Goltz und Friedrich von Bernhardi, ihren Konkurrenten mit großer Schärfe attackierten. Denn Delbrück hatte gleich gegen zwei Tabus verstoßen: zum einen gegen das seinerzeit geheiligte militärische Dogma von der Vernichtungsstrategie, und zum anderen schien er am Ruhm des "großen Friedrich" dadurch gekratzt zu haben, daß er ihm das scheinbar "unheroische" Etikett des Ermattungsstrategen aufklebte. Diese - mit einer aus dem Blickwinkel der Gegenwart kaum verständlichen Heftigkeit geführte - Kontroverse war nicht weniger typisch für das wissenschaftspolitische Klima des Wilhelminismus als etwa der "Historikerstreit" der achtziger Jahre für das der alten Bundesrepublik. Delbrück konnte sich mit seiner These allerdings gegen die Meinungsführer jener Zeit nicht vollständig durchsetzen, und auch aus heutiger Sicht wird man wohl zugeben müssen, daß sich bei Friedrich beide taktisch-strategischen Elemente finden lassen.
Es ist kennzeichnend für Delbrücks Werk - und hierin liegt ein wichtiges Element seiner Aktualität -, daß er sich von Spezialisten nicht einschüchtern ließ: Den Militärs, die seine Kompetenz in Frage stellten, hielt er entgegen, auch vom Kunsthistoriker verlange niemand, daß er Bilder male oder Statuen erschaffe. Auch bestand er darauf, daß Militärgeschichte als Teil gesamtgeschichtlicher Bemühungen zu betreiben sei, denn "alle Einzel-Geschichten fließen zusammen in der Universal-Geschichte und befruchten sich gegenseitig". Mit diesem Ziel einer integralen Historie rechtfertigte er die Existenz und die Bedeutung einer eigenständigen Militärgeschichte. Und nicht zuletzt kam es ihm darauf an, niemals im militärischen Detail steckenzubleiben, denn nur "die Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen Taktik, Strategie, Staatsverfassung und Politik wirft ihr Licht auf den Zusammenhang der Universalgeschichte".
Genau hierin ist und bleibt die "Geschichte der Kriegskunst" ein immer noch vorbildliches Werk. Auch wenn sich die Militärgeschichte unserer Tage völlig zu Recht anderen, früher vernachlässigten Gebieten zuwendet - etwa den Lebensbedingungen der einfachen Soldaten, dem Problem der Desertion, einer psychologisch vertieften Analyse des kriegerischen Phänomens "Gewalt" -, bleibt doch auch weiterhin das Ziel einer integrativen Geschichtsschreibung bestehen, die möglichst alle Aspekte des Militärischen im Zusammenhang sozialer und politischer Gegebenheiten und Entwicklungen analysieren und interpretieren sollte.
In diesem Sinne darf man den Verfasser der "Geschichte der Kriegskunst" weiterhin als einen der "letzten Klassiker der Geschichtsschreibung" ansehen, wie ihn Theodor Heuß 1948 in einem Artikel zum einhundertsten Geburtstag genannt hat. In anderer Hinsicht war er es sicher nicht. Als Stilist ist er mit Burckhardt und Ranke ebensowenig zu vergleichen wie mit Mommsen und Treitschke. Und der Militärhistoriker erlangte in seinen wissenschaftlichen Bemühungen auch nicht die quellenmäßig erschöpfende Genauigkeit solcher fußnotengespickter Werke wie etwa des "Deutschen Genossenschaftsrechts" seines Berliner Universitätskollegen Otto von Gierke.
Delbrücks Ziele waren bescheidener. Obwohl er zeitweilig, während des Ersten Weltkrieges, den Versuch unternahm, mit seinen großangelegten Analysen des Kriegsgeschehens (später in drei umfangreichen Bänden gesammelt) und im Kontakt zu führenden Militärs, etwa Falkenhayn, Einfluß auf die deutsche Strategie zu gewinnen (und hiermit scheiterte), legte es sein Hauptwerk, wie er selbst formulierte, nicht darauf an, "den Krieg zu lehren in lauter historischen Beispielen. Was die Geschichte für den praktischen Zweck etwa leisten könnte, das ist Sache des Militärs. Ich bin nichts als Historiker und wollte ein Werk für Geschichtsfreunde und ein Hilfsbuch für Historiker im Geiste Leopold Rankes schreiben." Mit diesen Worten endet das Vorwort zur ersten Auflage.
Heutige Spezialisten urteilen überwiegend positiv; so meinte Gordon Craig, es bestehe kein Zweifel, "daß die ,Geschichte der Kriegskunst' eines der besten Beispiele für die Anwendung der modernen Wissenschaft auf das Erbe der Vergangenheit bleiben wird. Wenn auch in Einzelheiten anfechtbar, steht der Hauptteil des Werkes unerschüttert." Und Andreas Hillgruper wertete das Werk als "große originelle Leistung", die in mehr als einer Hinsicht bahnbrechend gewirkt habe. Diese Einschätzungen bleiben gültig - auch dann, wenn manche Aspekte von Person und Werk der Gegenwart sehr fernstehen, so etwa der von heutigen Kritikern gerne monierte hegelianisch grundierte Kulturoptimismus Delbrücks oder auch die zuweilen etwas sehr vehement sich äußernde "protestantische" Wahrheitsattitüde, mit welcher der Historiker (dessen Schwager und engster Freund Adolf von Harnack war) vor sein Publikum zu treten pflegte.
Friedrich Meineckes abwägendes Urteil über den berühmten älteren Kollegen dürfte noch heute Bestand haben: "Delbrück ist in der Wissenschaft dadurch so ungemein fruchtbar geworden, daß man bei seinen kühnen und immer anregenden, oft aufregenden Thesen lernen mußte, scharf aufzupassen, wie weit man ihnen dankbar folgen könne, wie weit man sie abzulehnen habe." Und er fügte hinzu: "Die Zunft hat ihm nach meinem Gefühl nicht den Dank abgestattet, auf den ein solcher starker Einzelkämpfer, der gern seine eigenen Schlachten schlug, Anspruch hatte." Die längst fällige Neuauflage der "Geschichte der Kriegskunst" sollte zum Anlaß genommen werden, dieses Versäumnis nachzuholen.
Hans Delbrück: "Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte". Vier Bände. Einleitung zur Neuausgabe von Ulrich Raulff. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2000. LVI u. 720, VII u. 564, IX u. 793, XI u. 640 S., geb., in Kassette, 198,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main