Produktdetails
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Der Schmerz beginnt bereits mit der Einleitung, mit namenlosen Gräbern nahe der Nickel-Besserungsanstalt für Jungen. Und wenn Whitehead in die Sechzigerjahre nach Tallahassee blendet, zu dem klugen und fleißigen Elwood Curtis, der 15-jährig bereits ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl besitzt und dessen wertvollster Besitz eine LP mit der Rede Martin Luther Kings auf dem Zion Hill ist, zieht er in den Knochen wie ein nahendes Gewitter. Der Leser weiß, dass jeder Schritt, den Elwood in seinem weiteren Leben macht, ihn an diesen verteufelten Ort führen wird. Whitehead, der für "Underground Railroad" mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, ist ein gnadenloser Chronist des Unrechts. Seine Sprache, so federleicht wie unmissverständlich und intensiv, spürt den Zusammenhängen der finsteren Tatsachen nach und dokumentiert die vielen Wunden und Demütigungen, die Menschen dunkler Hautfarbe ertragen müssen. Die Geschichte der Nickel Boys wartet mit Überraschungen auf, doch das Grauen, ausgelöst durch Männer, deren Väter bereits schlugen, und der tief verinnerlichte Freibrief, den sie in sich tragen, andere Menschen zu unterdrücken, peinigt wie erwartet - auf höchstem literarischem Niveau.

© BÜCHERmagazin, Meike Dannenberg (md)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2019

Du sollst nicht lieben!

Ein Junge wollte aufs College, es kam aber anders, er in eine Besserungsanstalt, in der Kinder wie Vieh behandelt wurden. Was mit ihm dort geschah, erzählt Colson Whitehead in "Die Nickel Boys", seinem neuen Roman

Es kommt mit der Zeit nicht immer alles ans Licht. Aber wenn es sich um Leichen handelt, dann doch meistens. Wie ließe sich ein geheimer Friedhof auf Dauer geheim halten, wenn er dort liegt, wo ein Büroviertel entstehen soll? In Florida, am Rand einer Müllkippe auf einem verwilderten Grundstück, auf dem einmal eine Besserungsanstalt für Jugendliche stand, tauchen bei solch einer Gelegenheit lukrativer Flächenentwicklung Reste von Körpern auf. Der Boden wird ausgehoben, und plötzlich liegt etwas zunächst unbestimmt Organisches auf der Baggerschaufel. Das ist in jeder Hinsicht unerfreulich, macht dem Staatsanwalt Ärger, der Hinweisen auf tödliche Misshandlungen in jener Anstalt nur sehr nachlässig nachging und dann die Ermittlungen einstellte, und der Immobilienfirma auch, weil sie die Arbeiten am Bauprojekt fürs Erste abbrechen muss. Archäologiestudentinnen der nahen Universität durchsieben die Erde und legen nebeneinander auf ihre Tabletts, was sie finden, "Knochen, Gürtelschnallen und Limonadenflaschen, eine rätselhafte Ausstellung".

"Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger." Mit diesem Satz und der beschriebenen Szene beginnt Colson Whiteheads neuer Roman "Die Nickel Boys". Aber was Whitehead nach diesem Prolog erzählt, ist nicht die Geschichte des Grundstücks oder der Archäologiestudentinnen und nicht die Geschichte der Besserungsanstalt, die in Zeiten der Segregation nach Hautfarbe ihrerseits Schwarze und Weiße streng getrennt hielt. Was nicht bedeutet, dass es die Weißen sehr viel besser dort hatten. Aber ein bisschen schon. Whitehead erzählt vielmehr von dem Jungen Elwood Curtis. Woher er kam. Wovon er träumte, was er las und wer er sein wollte. Wie er einer der "Nickel Boys" wurde. Was in der Anstalt mit ihm geschah. Und was aus ihm wurde, als es vorbei war. Und er erzählt von Turner, einem zweiten Jungen. Turner wird im "Nickel" Elwoods Freund, obwohl er dessen Vorstellungen von moralischer Größe und der reinen Liebe für ihre gemeinsamen Unterdrücker, wie Martin Luther King sie predigte und wie auch Elwood sie eine Weile lang für möglich und erstrebenswert hielt, als unbrauchbar erkennt. Die Lehren der Welt sehen anders aus: "Du sollst nicht lieben, denn man wird dich im Stich lassen; du sollst nicht vertrauen, denn man wird dich verraten; du sollst nicht aufbegehren, denn man wird dich Mores lehren."

Die Geschichte geht zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den frühen sechziger Jahren los, der Ort ist Südflorida. Frenchtown in Tallahassee, um genau zu sein, eine afroamerikanische Gemeinde. Dort lebt Elwood, nachdem seine Eltern sich nach Westen verdrückt haben, mit seiner Großmutter, die sehr zufrieden damit ist, dass er gern lernt, sich ungern prügelt und von den weißen Arbeitgebern der Stadt wegen seines Fleißes, und weil er ehrlich ist, gern beschäftigt wird ("eine Zierde für seine Rasse"). Erst im Hotel Richmond. Dann im Tabakladen von Mr. Marconi, einem Geschäft in unmittelbarer Nähe des Militärstützpunkts. Schwarze Soldaten "tobten sich das ganze Wochenende in Frenchtown aus und sackten dann in einen Zug, der sie in den Krieg schaffte". Mr. Marconi verstand sich auf die "Ökonomie der Rassentrennung" und konnte mit entsprechenden Tabaksorten und Kondomen "richtig Geld scheffeln". Elwoods Großmutter zieht die Hälfte von Elwoods Lohn für Kost und Logis und zukünftige Collegegebühren ein. Denn ins College wird Elwood gehen, das ist ein Traum und eine Möglichkeit. Die Großmutter schenkt ihm an Weihnachten 1962 die Schallplatte "Martin Luther King At Zion Hill". So bekommt Elwood Ideen, die ihm später nicht gut tun.

Denn statt ins College kommt Elwood in die "Nickel Academy". Er will zur Aufnahme ins College trampen, gerät aber an einen Autodieb. Und während von den Straßen und aus dem Radio die Parolen der Bürgerrechtsbewegung ("Was wollen wir? Freiheit!") das Land überziehen, verfahren Polizei und Behörden, wie es bis heute üblich ist: Schwarz ist verdächtig - besser wegsperren.

Was für eine Einrichtung die "Nickel Academy" war, davon gibt schon der Name des Speisesaals einen Eindruck. "Futterkrippe" wird er genannt, als stünden die Jungen, die sich hier bessern und eine Ausbildung erhalten sollen, auf einer Stufe mit dem Vieh. Wie sollte jemand an einem Gefühl der Würde festhalten, der hier so notdürftig ernährt oder, wenn "Eiscreme" ansteht, zu Matsch geschlagen wird? Elwood, der zu Hause immer wieder seine Schallplatte mit der Rede von Martin Luther King vor den Schülern der Highschool in Washington D.C. gehört hatte mit der Aufforderung, sein Leben der Menschlichkeit zu widmen, hält lange daran fest. Aber sein Glaube an Dr. Kings Lehren wird brüchig, und die Wut von Colson Whitehead, so scheint es, immer größer.

Vielleicht könnte für die nächste Auflage die Übersetzung von Henning Ahrens nachgebessert werden, die streckenweise klingt, als sei sie unter großem Zeitdruck entstanden. So bleibt man immer wieder in diesem so fesselnden wie bedrückenden Buch an hölzernen (oder auch schlichtweg falschen) Formulierungen hängen. Da ist vom "Kreischen trockener Hosenschlitze" die Rede (obwohl doch nicht einmal trockene Reißverschlüsse kreischen) oder von Buchsbaumhecken, "die sich aus der roten Erde krallten", Soldaten verlassen die "Armeebasis", der "Wutbürger" hat bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit im amerikanischen Süden einen Auftritt, ein Foyer in einem Wohnhaus ist eine "Vorhalle", und es werden "verschwitzte Hände voller Candy Corn" verteilt. Dialoge klingen mitunter so: "Ich hoffe, du hast viel Gewinn davon." Oder auch: "Ich glaube, ich fühle mich versucht." Das ist außerordentlich schade und wohl dem Ehrgeiz des Verlags geschuldet, dem amerikanischen Original zuvorzukommen, das erst Mitte Juli herauskommt.

Colson Whitehead weist in der Danksagung die Quellen aus, auf deren Grundlage er seinen Roman erfunden hat. Die Anstalt, aus der hier die "Nickel Academy" wurde, hieß Dozier School for Boys und lag in Marianna in Florida. Ein Zeitungsreporter, Ben Montgomery, hat die Geschichte in der "Tampa Bay Times" sorgfältig recherchiert und die Studentinnen der University of South Florida haben die Ergebnisse ihrer Grabungen und Forschungen in einem Bericht zusammengefasst. Whitehead weist auch auf die Website der Überlebenden jener Anstalt hin, auf der einzelne Geschichten in ihren eigenen Worten nachzulesen sind: eine professionell gemachte Website für eine wahrhaft grauenvolle Lektüre über die teilweise fast vollkommene Vernichtung von Persönlichkeiten. Es gibt aber auch andere Quellen, die Whitehead nennt, Berichte über Justizskandale und die Korruption in Haftanstalten, die Reden Martin Luther Kings, ein Buch über die Geschichte von Frenchtown.

Gerade einmal drei Jahre liegt die Veröffentlichung von Colson Whiteheads vielfach ausgezeichnetem Roman "Underground Railroad" zurück, in dem er die Geschichte der Sklaverei, historisch unabgeschlossen und wirksam bis heute, anhand der versklavten Cora erzählte, die durch die Jahrhunderte und von Süden nach Norden flieht und wandert, immer neuen Formen von Sklaverei und rassistischer Gewalt ausgesetzt. Mit bewusst gesetzten Anachronismen und futuristischen Elementen hatte Whitehead dort eine eigensinnige Form geschaffen, die sowohl historische Wahrheit als auch aktuelle Gegenwärtigkeit in sich aufnahm und dabei eine Figur gestaltet, die in all ihrer Unwahrscheinlichkeit lebendig vor einem stand.

Sein neues Buch ist auf den ersten Blick einfacher. Mit ihm kommen die wahren Gegebenheiten, auf die es sich bezieht, fiktionalisiert für eine breitere Öffentlichkeit ans Licht wie die Knochen unter der Erde des geheimen Friedhofs. Über weite Strecken realistisch mit den Mitteln des Internatsromans (die Anstalt ist ja durchaus eine Extremform des Internats) erzählt, schildert es ungeheuerliche Zustände von Missbrauch, Folter, Mord und Korruption, deren Wahrheitsgehalt durch das, was tatsächlich unter der Erde lag, bezeugt ist. Und doch hat Whitehead keinen dokumentarischen Bericht geschrieben. Denn im dritten Teil des Romans bricht er aus, aus der Chronologie wie aus dem geographischen Raum. Er führt sein Publikum nach New York, macht Zeitsprünge nach vorn und wieder zurück und landet schließlich im Jahr 2004. In einer mehrseitigen Beschreibung des New-York-City-Marathons entwirft er ein Miniatur- und Traumbild dieser Stadt, nach dem man sofort seinen "Koloss von New York" von vor vielen Jahren wieder aus dem Regal ziehen möchte.

Und kurz vor Schluss der "Nickel Boys" schlägt Whitehead, wie schon in "Underground Railroad", noch ein letztes Mal eine überraschende erzählerische Volte, die dem Ganzen eine unerwartete Dimension hinzufügt - und erweist sich damit als Künstler seinem Material gegenüber als so frei, wie es seine Figuren verdient haben. Ist es ein glückliches Ende? Natürlich nicht, wie könnte das sein bei dieser Geschichte. Aber literarisch beglückend ist es doch, wie Whitehead sich schließlich ganz seiner Vorstellungskraft überlässt.

VERENA LUEKEN

Colson Whitehead: "Die Nickel Boys", übersetzt von Henning Ahrens, Carl Hanser, 224 Seiten, 23 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2019

Wer man sein möchte
Colson Whitehead schildert den Horror in einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare
Jugendliche. Sein Roman „Die Nickel Boys“ zeigt, was Rassismus ist
VON NICOLAS FREUND
Am schlimmsten ist die Angst. In der ersten Nacht weiß Elwood noch nicht, was ihn erwartet, als ein seltsames Geräusch über das Gelände der Nickel-Besserungsanstalt dröhnt und ihn aus dem Schlaf reißt. „Es kam von draußen, ein monotones Rauschen und Sausen. Bedrohlich und mechanisch und absolut nicht einzuordnen. (…) Auf der anderen Seite des Raumes sagte jemand: ‚Da geht einer Eiscreme holen‘, und ein paar Jungs kicherten.“ Sie wissen, was dem Neuen noch bevorsteht, und auch der Leser weiß schon nach dem ersten Satz des neuen Romans von Colson Whitehead, wie die Geschichte enden wird: „Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.“
Seinen letzten, 2016 erschienenen Roman „Underground Railroad“ über die Flucht der jungen Sklavin Cora von einer Baumwollplantage in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts hatte Whitehead während der Präsidentschaft Barack Obamas geschrieben. „Immer, wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“, hatte er damals in einem Interview gesagt, als schon feststand, dass Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten auf Barack Obama folgen wird. Sein neuer Roman, „Die Nickel Boys“, ist wie eine Fortsetzung von „Underground Railroad“ ins 20. Jahrhundert, in dem es zwar keine Sklaverei mehr gibt, aber der Rassismus noch immer die gesamte amerikanische Gesellschaft durchdringt. Bis in die Sechziger herrschte strikte öffentliche Rassentrennung. Auch nach deren Aufhebung lauert der Rassismus wie ein Gespenst oder eine ansteckende Krankheit hinter vielen Gesten und Äußerungen.
Colson Whitehead ist, wie er einmal im Gespräch mit der SZ verriet, ein großer Fan von Horrorfilmen. Er hat sogar einen Zombie-Roman geschrieben, „Zone One“, mit der Monsterjagd als großer Popkultur-Satire. Auch „Underground Railroad“ hatte mit der Eisenbahn, die geflohene Sklaven unter der Erde aus dem Süden der USA in den liberaleren Norden brachte, ein fantastisches Element, das gegen den unvorstellbaren Maßstab und die Grausamkeiten der Sklavereiindustrie etwas verblasste. „Die Nickel Boys“ ist dagegen ein realistischer Roman, aber trotzdem durchzieht den Text eine bedrohliche Atmosphäre, die Ahnung von einem lauernden Bösen – wie in einer Stephen-King-Story. Das unheimliche Dröhnen in der Nacht, eine Krankenschwester, wie eine „zu unheilvollem Leben erwachte Puppe, eine Gestalt aus Horror-Comics“, Knochen in der Erde.
Der kluge, sechzehn Jahre alte Elwood könnte auch eine Hauptrolle in Kings „Es“ oder der Netflix-Gruselserie „Stranger Things“ spielen. Obwohl er noch zur Schule geht, darf er dank der Vermittlung seines engagierten Lehrers Kurse am College besuchen. Er entscheidet sich für englische Literatur. Zur ersten Seminarsitzung trampt er, aber der Wagen, in dem ihn der nette Rodney mitnimmt, ist gestohlen. „Der Deputy hatte die Waffe gezogen. ‚Dachte ich mir doch gleich, als es hieß, wir sollten auf einen Plymouth achten‘, sagte er. ‚Den klaut nur ein Nigger.‘“
Anstatt auf dem College landet Elwood als vermeintlicher Autodieb in der Nickel-Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jungen. Es ist kein Gefängnis und es gibt keine Mauern, aber die gibt es draußen auch nicht überall, und trotzdem konnte Elwood nie den Fun-Town-Vergnügungspark besuchen. Schwarze und Weiße werden auch im Nickel streng getrennt, nur ein mexikanischstämmiger Junge wird immer hin und her gereicht, je nachdem, welcher der sadistischen Aufseher gerade Dienst hat. „Wenn er an die Nächte im Nickel dachte, in denen bis auf das Weinen und die summenden Insekten Stille geherrscht hatte, fragte er sich, wie er damals in einem mit sechzig Jungs vollgestopften Raum hatte pennen und sich auch noch einbilden können, er wäre der einzige Mensch auf Erden. Alle waren da und gleichzeitig nicht.“ Identität ist in dem Roman ein Konstrukt. Die Frage ist nur, ob selbst geschaffen oder auferlegt. Freiheit heißt in dem Roman, selbst zu entscheiden, wer man sein möchte.
Das Nickel ist dazu in jeder Hinsicht der Gegenentwurf. Die Jungs werden dort zu Arbeit gezwungen, es gibt Schulunterricht, der aber ein Witz ist, da viele der Schüler nicht einmal lesen können, während Elwood mit Dickens-Romanen unterm Arm herumläuft. Es herrschen unter den Kindern die in solchen gesellschaftlichen Biotopen üblichen Grausamkeiten, die aber gegen die Brutalität der Aufseher vollkommen harmlos sind. Weil sich Elwood in einen Streit eingemischt hat, kommen sie eines Nachts, um ihn zu holen. „In der Zelle, in der man die Hiebe verabreichte, erblickte er eine blutige Matratze und ein nacktes Kopfkissen, übersät von den Abdrücken der Zähne, die die Jungs hineingeschlagen hatten. Außerdem: ein riesiger Industrie-Ventilator, Quelle des Dröhnens, des Lärms, der auf dem ganzen Anstaltsgelände zu hören war.“ Der Ventilator soll die Schreie der Jungen übertönen. „Eiscreme holen“ ist unter den Schülern die Chiffre für das Auspeitschen. Manche kommen von diesen nächtlichen Entführungen nicht zurück.
Dieser Horror, den Whitehead in seinem Roman beschreibt, ist echt. Das Nickel gab es, es hieß Dozier School oder Florida School for Boys und wurde erst 2011 geschlossen. Seit wenigen Jahren werden die Geschichte der Anstalt und die Morde, die dort verübt wurden, vom Staat aufgearbeitet. Whitehead hat die Beschreibung der Schule, wie man sie in den Berichten der Polizei und des Department of Justice findet, kaum fiktionalisiert, aber die Geschichte Elwoods und seines Freundes Turner, die bald die Flucht aus dem Nickel beschließen, liest sich wie ein Abenteuerroman, dessen Spannung aber immer wieder von der eigenen Handlung unterlaufen wird. Denn Whitehead theoretisiert den Rassismus nicht, sondern zeigt ihn. Nicht nur den offenen Rassismus, wie die Rassentrennung, sondern das Erlebnis von Diskriminierung und das Leben mit jahrzehntealten Traumata, die sich manchmal nur an der Unaufmerksamkeit einer Kellnerin zeigen können. „Sie tat, als würde sie ihn nicht bemerken, und er startete eine Runde ‚Rassismus oder schlechter Service?‘.“
Whitehead öffnete in seinen letzten beiden Romanen keine assoziativen Räume und erbaute keine komplexen, poetischen Konstrukte, obwohl er das auch kann, wie er zum Beispiel in „Zone One“ oder „Der Koloss von New York“ gezeigt hat. In seinen historischen Rassismusromanen setzt er ganz präzise und gezielt Motive und Themen in Kontext zueinander und erschafft eine mimetische Darstellung der historischen und der empfundenen Wirklichkeit. Er zeigt, wie sich Rassismus anfühlt, und nimmt den Leser durch die schnörkellose Darstellung mit in die Verantwortung, sich zu dem Horror zu verhalten und zu entscheiden, wer man sein möchte.
Colson Whitehead: Die Nickel Boys. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München 2019. 224 Seiten, 23 Euro.
Sie tat,
als würde sie
ihn nicht bemerken,
und er startete
eine Runde ‚Rassismus
oder schlechter
Service?‘.“
Der Roman öffnet keine
komplexen Räume,
er bildet ab, präzise und konkret
„Auf der anderen Seite des Raumes sagte jemand: ‚Da geht einer Eiscreme holen‘, und ein paar Jungs kicherten.“ – Colson Whitehead, Jahrgang 1969.
Foto: imago/Leemage
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Johannes Franzen bedauert, dass die deutsche Übersetzung von Colson Whiteheads politischem Roman wie eine Doku über deutsche Jugenkriminalität in den achtziger Jahren klingt. Das hat der Text schon deshalb nicht verdient, findet er, weil Whitehead eine erstaunlich zeitgemäße Version engagierter Literatur vorlegt, indem er die echte Geschichte einer Besserungsanstalt in Florida zu einer Analyse des Rassismus in den USA um- beziehungsweise weiterschreibt. Wie er zu diesem Zweck den Stoff seine Figuren charakterisiert und Emotionen schürt, findet Franzen höchst gelungen: Gerade die Vereinfachung, meint Franzen, verleihe dem Roman seine emotionale Wucht. So entsteht laut Rezensent eine Geschichte der Gewalt, die durch verhaltene erlebte Rede jeder Sensationslust entgeht.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein politischer Roman, der die Probleme politischer Literatur nach Möglichkeit vermeidet - ein Beispiel dafür, wie eine gelungene engagierte Literatur heute aussehen könnte, die nicht nur agiert, sondern auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen kann." Johannes Franzen, taz, 08.07.19

"Trotz seiner ernüchternden Botschaft kommt 'Die Nickel Boys' ohne Sensationalismus aus. Das ist das Verdienst von Whiteheads Prosa, die nüchtern und detailreich beschreibt, wie sich die Burschen in diesem Regime der Unterdrückung zu behaupten versuchen, den Exzess dabei aber behände verknappt." Dominik Kamalzadeh, Der Standard, 27.06.19

"Der Roman ist wahnsinnig schmerzhaft zu lesen. Die Auswegslosigkeit nimmt einem beim Lesen oft den Atem." Volker Weidermann, Der Spiegel 15.06.19

"Dürfen sich Weiße mit schwarzen Opfergeschichten beschäftigen? Ich finde, dass Colson Whitehead sehr, sehr souverän und wirklich als großer Erzähler damit umgeht. Das ist wirklich große Literatur, die sich einfach an jeden Leser, der ein irgendwie noch schlagendes Herz hat und einen wachen Geist, richtet." Thea Dorn, Das Literarische Quartett, 14.06.19

"Colson Whitehead schreibt diesen Roman in einer präzisen, nüchternen Sprache und das macht ihn nur würdevoller. Durch die sprachliche Distanz gestaltet er bewusst weder Empörung noch Sentimentalität, aber sie entstehen automatisch." Henning Ahrens, NDR Kultur, 13.06.19

"Literarisch beglückend." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.06.19

"Whitehead zeigt, wie sich Rassismus anfühlt, und nimmt den Leser durch die schnörkellose Darstellung mit in die Verantwortung, sich zu dem Horror zu verhalten und zu entscheiden, wer man sein möchte." Nicolas Freund, Süddeutsche Zeitung, 08.06.19

"In Zeiten, in denen der liberale Rechtsstaat weltweit unter Beschuss gerät, kann man 'Die Nickel Boys' als Parabel darüber lesen, was es bedeutet, wenn Menschen das Recht, Rechte zu haben, abgesprochen wird." Martina Mescher, Der Freitag, 06.06.19

"Wenn häufig missbräuchlich benutzte Floskeln wie 'eindringlich', 'bestürzend' oder 'ergreifen' auf ein Buch zutreffen, dann auf Whiteheads von der ersten bis zur letzten Seite spannend, glänzend und vom Schriftsteller Henning Ahrens auch ausgezeichnet übersetzten Roman." Christoph Schröder, Deutschlandfunk Büchermarkt, 06.06.19

"Dieses Buch zeigt Whiteheads Fähigkeit, eine brisante und komplexe Thematik wirkungsvoll darzustellen. ... Seine Kunst besteht darin, niemals anklagend oder gar larmoyant zu sein. Mit seinem sachlichen, von leisem Sarkasmus geprägten Ton nötigt er dem Leser die Empörung nicht auf, sondern bringt ihn dazu, selbst empört zu sein." Ulrich Greiner, Die Zeit, 05.06.19

"Von Rassismus und Qualen: Ein packender Roman über ein grausames Kapitel der jüngeren Geschichte der USA." Carsten Otte, Zeit Online, 02.06.19

"Whitehead will nicht mit aller Macht aufrütteln, gar schockieren, plakativ anklagend sein. Sondern betont unaufgeregt und damit umso nachdrücklicher reiht er Szenen aus dem Innern einer Institution, die stellvertretend für Rassentrennung und den institutionellen Rassismus jener Zeit steht, für die Rassenhierarchie in allen Bereichen der US-Gesellschaft - trotz beginnender Veränderungen durch die civil rights movement." Gerrit Bartels, Tagesspiegel Online, 01.06.19

"Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Roman die Chancenlosigkeit von Schwarzen im rassistischen System dieser Zeit darstellt, verschlägt einem den Atem. Dabei klagt Whitehead nicht an. Er erzählt, er singt, er schaut hin." Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 01.06.19

"Colson Whitehead hat in den letzten zwanzig Jahren viele unvergessliche Figuren geschaffen ... Elwood Curtis gehört in diese Reihe." Wieland Freund, Die Welt, 01.06.19

"Analytisch präzise zeigt der Roman auf, wie fatal Macht, Scham und Ohnmacht ineinander wirken." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.19
…mehr