Alle Menschen werden mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren. Diese Aussage erscheint normativ ebenso unumstößlich wie empirisch unzutreffend; die Realität widerlegt sie mit jedem Tag aufs Neue - und bestätigt damit ihre Bedeutung. Die Wahrheit dieses Prinzips ist philosophisch im Rückgang auf Kants Idee einer »noumenalen Republik« aufzuklären, in der jede Person dem allgemeinen Gesetz unterworfen ist, das sie zugleich als Gesetzgeber mitkonstruiert. Inwiefern die Wirklichkeit dem Hohn spricht, muss eine kritische Analyse von Gesellschaft und Politik zeigen. Damit diese Perspektiven nicht auseinanderfallen in ein weltfernes Ideal und eine Diagnose der Ausweglosigkeit, bedarf es einer kritischen Theorie nach Kant, wie sie Rainer Forst in diesem Band entwirft.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Meyer bekommt vom Politiktheoretiker und Philosophen Rainer Forst Mittel an die Hand, die heutige Krisen der Demokratien besser zu verstehen. Die sechzehn im Band enthaltenen Essays setzen sich laut Meyer ferner mit der Kritischen Theorie auseinander, in deren Tradition der Autor agiert, wie Meyer weiß. Gelesen als "Dialektik der Demokratie" vermitteln die Texte dem Rezensenten "strukturelle und normative" Probleme der Demokratie und werben für ihr soziales Gestaltungspotenzial. Dass Forst seine Ideen politiktheoretisch grundiert und begriffssensitiv vorgeht, scheint Meyer angebracht und zielführend. Als Einstieg in Forsts politisches Denken eignet sich der Band laut Meyer gut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2022Gegen das ewige Eigeninteresse
Der Frankfurter Politiktheoretiker Rainer Forst erkundet, was es heißt, wirklich solidarisch zu sein
Bücher, die sich mit Fragen von Demokratie und Macht und dem Problem der Begründung von Handlungen auseinandersetzen und vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine geschrieben wurden, lesen sich nunmehr anders.
Das gilt auch für den neuesten Sammelband des 57-jährigen Frankfurter Philosophie-Professors und Politiktheoretikers Rainer Forst, seines Zeichens prominentester Habermas-Schüler der dritten oder vierten (je nachdem, wie man zählt) Generation der Frankfurter Schule. Die 16 Essays bieten Auseinandersetzungen mit den Ansätzen verschiedener Ausprägungen der Kritischen Theorie sowie Weiterführungen zu einer Theorie der Gerechtigkeit und der daraus zwangsläufig entstehenden Rechtfertigungsprobleme.
Wollte man Forsts Anliegen mit einem Schlagwort versehen, dann käme womöglich „Dialektik der Demokratie“ in Frage. Dazu gehört die Analyse der Krisensymptome gegenwärtiger Demokratien und ihrer, wie Forst schreibt, „strukturellen“ und „normativen“ Probleme. Die Zukunft der Demokratie hängt seines Erachtens davon ab, dass sie ihre soziale Gestaltungsmacht zurückerlangt und Politik sich nicht nur darauf beschränkt, einen nationalen Platz an der Sonne der globalen Ökonomie zu ergattern: „Progressive Politik muss Wege finden, transnationale demokratische Macht zu entfalten, und es wäre gut, zumindest in Europa damit anzufangen und die entsprechenden ‚Parteienfamilien‘ zu echten transnationalen Parteien zu formen, die das, was Gemeinwohl heißt, neu bestimmen.“
Emphatische Aussagen wie diese stehen bei Forst allerdings nicht im luftleeren Raum, er versucht vielmehr seit nun gut 20 Jahren die Spannungen zwischen Individuen und Kollektiven politiktheoretisch aufzulösen. Sein großes Anliegen ist dabei, Machtverhältnisse in Rechtfertigungsverhältnisse zu verwandeln.
Dazu dient ihm ein ebenso gehaltvoller, wie vielfach kritisierter – weil moralisch voraussetzungsreicher – Begriff der „Normativität“: „Es ist und bleibt Aufgabe der Demokratie als Praxis kollektiver Rechtfertigung, die Kräfte und Machtverhältnisse zu zivilisieren und zu transformieren, die willkürlich über das Leben der Menschen bestimmen oder die zumindest nicht ausreichend gemeinwohlverträglich kontrolliert werden. Nur wenn diese Transformation und Kontrolle gelingt, erfüllt die Demokratie ihren Zweck der Gerechtigkeit.“
Begriffe wie Solidarität, Toleranz, Gerechtigkeit oder Freiheit, so Forst, müssten, um ihre stabilisierende und fordernde Rolle in der Demokratie spielen zu können, zunächst neutralisiert werden. Das macht Forsts Sache natürlich erst einmal abstrakt und theoretisch, genau darum geht es allerdings: Die Begriffe müssen für ihn quasi geschont werden, um bei ihrer Verwendung dann tatsächlich wirksam werden zu können.
Er argumentiert damit letztlich gegen eine „Promiskuität“ der Begriffe. Bevor so geläuterte Begriffe in die „Dialektik der Demokratie“ eingespeist werden können, benötigt man laut Forst also jeweils einen Idealtypus und eine Idee davon, ob und wie er sich im Diskurs konkret bewährt.
Seine methodische Vorsicht führt dabei nicht zum Ideologieverdacht gegenüber der moralphilosophischen Überlieferung, sie ermöglicht vielmehr deren Wiederverwendung, weil sie aufs Konkrete zielt. Besonders eindrücklich wird die Leistungsfähigkeit dieses Konstrukts im Buch bei der Analyse der Menschenrechte belegt.
Der sich klar auf die Seite der „Solidarität als gemeinsamer Aktion“ stellende Philosoph, schreibt: „Das allgemeine Konzept der Solidarität beinhaltet keine bestimmte Maßvorgabe in Bezug auf das, was Solidarität in konkreten Kontexten erfordert. Dies wird durch die verschiedenen Konzeptionen der kollektiven Verbundenheit bestimmt, die besondere kontextuelle Formen der Solidarität ausbilden.“
Damit wird der selbstverordnete Boden der „Neutralität“ bei der Begriffsbestimmung nicht verlassen. Und doch ist mit „Verbundenheit“ – Forst bestimmt sie „als die motivierende Kraft“, die aus sich heraus „zu bestimmten Handlungen jenseits des eng verstandenen Eigeninteresses anhalten“ kann – ein Begriff eingefügt, dessen normative Aufladung nicht geleugnet werden kann.
Zumindest könnte man so Rainer Forsts Quintessenz verstehen, dass „im kantischen Verständnis Solidarität nur dann eine Tugend ist, wenn sie auf praktischer Vernunft beruht, die sich auf die beste Rechtfertigung unter gleichgestellten Menschen stützt. So gesehen verweist die Frage nach der Solidarität auf die umfassendere Frage, wie wir uns als moralische Wesen verstehen sollten.“
Mit anderen Worten: Der neue Band bietet einen guten Einstieg in Forsts politisches Denken, er belegt das Interesse des Theoretikers an der politischen Gegenwart und ist in den historischen und systematischen Bezügen stets klar. Dass er darüber hinaus theoretische Möglichkeiten eröffnet, sich in der neuen europäischen Wirklichkeit argumentativ zu bewegen, ist nicht sein geringstes Verdienst.
„Verbundenheit“ als Bestimmungsgröße für das „moralische Wesen“ von Menschen – das ist – genau besehen – ein radikalerer, ein sozialerer Ansatz, der weit über das hinaus geht, was viele andere zur Zeit zu denken wagen.
THOMAS MEYER
Es geht darum, Machtverhältnisse
in Rechtfertigungsverhältnisse
zu verwandeln
Rainer Forst:
Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant.
Suhrkamp, Berlin 2021.
360 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Frankfurter Politiktheoretiker Rainer Forst erkundet, was es heißt, wirklich solidarisch zu sein
Bücher, die sich mit Fragen von Demokratie und Macht und dem Problem der Begründung von Handlungen auseinandersetzen und vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine geschrieben wurden, lesen sich nunmehr anders.
Das gilt auch für den neuesten Sammelband des 57-jährigen Frankfurter Philosophie-Professors und Politiktheoretikers Rainer Forst, seines Zeichens prominentester Habermas-Schüler der dritten oder vierten (je nachdem, wie man zählt) Generation der Frankfurter Schule. Die 16 Essays bieten Auseinandersetzungen mit den Ansätzen verschiedener Ausprägungen der Kritischen Theorie sowie Weiterführungen zu einer Theorie der Gerechtigkeit und der daraus zwangsläufig entstehenden Rechtfertigungsprobleme.
Wollte man Forsts Anliegen mit einem Schlagwort versehen, dann käme womöglich „Dialektik der Demokratie“ in Frage. Dazu gehört die Analyse der Krisensymptome gegenwärtiger Demokratien und ihrer, wie Forst schreibt, „strukturellen“ und „normativen“ Probleme. Die Zukunft der Demokratie hängt seines Erachtens davon ab, dass sie ihre soziale Gestaltungsmacht zurückerlangt und Politik sich nicht nur darauf beschränkt, einen nationalen Platz an der Sonne der globalen Ökonomie zu ergattern: „Progressive Politik muss Wege finden, transnationale demokratische Macht zu entfalten, und es wäre gut, zumindest in Europa damit anzufangen und die entsprechenden ‚Parteienfamilien‘ zu echten transnationalen Parteien zu formen, die das, was Gemeinwohl heißt, neu bestimmen.“
Emphatische Aussagen wie diese stehen bei Forst allerdings nicht im luftleeren Raum, er versucht vielmehr seit nun gut 20 Jahren die Spannungen zwischen Individuen und Kollektiven politiktheoretisch aufzulösen. Sein großes Anliegen ist dabei, Machtverhältnisse in Rechtfertigungsverhältnisse zu verwandeln.
Dazu dient ihm ein ebenso gehaltvoller, wie vielfach kritisierter – weil moralisch voraussetzungsreicher – Begriff der „Normativität“: „Es ist und bleibt Aufgabe der Demokratie als Praxis kollektiver Rechtfertigung, die Kräfte und Machtverhältnisse zu zivilisieren und zu transformieren, die willkürlich über das Leben der Menschen bestimmen oder die zumindest nicht ausreichend gemeinwohlverträglich kontrolliert werden. Nur wenn diese Transformation und Kontrolle gelingt, erfüllt die Demokratie ihren Zweck der Gerechtigkeit.“
Begriffe wie Solidarität, Toleranz, Gerechtigkeit oder Freiheit, so Forst, müssten, um ihre stabilisierende und fordernde Rolle in der Demokratie spielen zu können, zunächst neutralisiert werden. Das macht Forsts Sache natürlich erst einmal abstrakt und theoretisch, genau darum geht es allerdings: Die Begriffe müssen für ihn quasi geschont werden, um bei ihrer Verwendung dann tatsächlich wirksam werden zu können.
Er argumentiert damit letztlich gegen eine „Promiskuität“ der Begriffe. Bevor so geläuterte Begriffe in die „Dialektik der Demokratie“ eingespeist werden können, benötigt man laut Forst also jeweils einen Idealtypus und eine Idee davon, ob und wie er sich im Diskurs konkret bewährt.
Seine methodische Vorsicht führt dabei nicht zum Ideologieverdacht gegenüber der moralphilosophischen Überlieferung, sie ermöglicht vielmehr deren Wiederverwendung, weil sie aufs Konkrete zielt. Besonders eindrücklich wird die Leistungsfähigkeit dieses Konstrukts im Buch bei der Analyse der Menschenrechte belegt.
Der sich klar auf die Seite der „Solidarität als gemeinsamer Aktion“ stellende Philosoph, schreibt: „Das allgemeine Konzept der Solidarität beinhaltet keine bestimmte Maßvorgabe in Bezug auf das, was Solidarität in konkreten Kontexten erfordert. Dies wird durch die verschiedenen Konzeptionen der kollektiven Verbundenheit bestimmt, die besondere kontextuelle Formen der Solidarität ausbilden.“
Damit wird der selbstverordnete Boden der „Neutralität“ bei der Begriffsbestimmung nicht verlassen. Und doch ist mit „Verbundenheit“ – Forst bestimmt sie „als die motivierende Kraft“, die aus sich heraus „zu bestimmten Handlungen jenseits des eng verstandenen Eigeninteresses anhalten“ kann – ein Begriff eingefügt, dessen normative Aufladung nicht geleugnet werden kann.
Zumindest könnte man so Rainer Forsts Quintessenz verstehen, dass „im kantischen Verständnis Solidarität nur dann eine Tugend ist, wenn sie auf praktischer Vernunft beruht, die sich auf die beste Rechtfertigung unter gleichgestellten Menschen stützt. So gesehen verweist die Frage nach der Solidarität auf die umfassendere Frage, wie wir uns als moralische Wesen verstehen sollten.“
Mit anderen Worten: Der neue Band bietet einen guten Einstieg in Forsts politisches Denken, er belegt das Interesse des Theoretikers an der politischen Gegenwart und ist in den historischen und systematischen Bezügen stets klar. Dass er darüber hinaus theoretische Möglichkeiten eröffnet, sich in der neuen europäischen Wirklichkeit argumentativ zu bewegen, ist nicht sein geringstes Verdienst.
„Verbundenheit“ als Bestimmungsgröße für das „moralische Wesen“ von Menschen – das ist – genau besehen – ein radikalerer, ein sozialerer Ansatz, der weit über das hinaus geht, was viele andere zur Zeit zu denken wagen.
THOMAS MEYER
Es geht darum, Machtverhältnisse
in Rechtfertigungsverhältnisse
zu verwandeln
Rainer Forst:
Die noumenale Republik. Kritischer Konstruktivismus nach Kant.
Suhrkamp, Berlin 2021.
360 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Der neue Band bietet einen guten Einstieg in Forsts politisches Denken, er belegt das Interesse des Theoretikers an der politischen Gegenwart und ist in den historischen und systematischen Bezügen stets klar.« Thomas Meyer Süddeutsche Zeitung 20220621