Entrechtung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der deutschen Juden - die Nürnberger Gesetze von 1935 schufen die entscheidende Grundlage aller späteren Maßnahmen. Sie und die anderen Elaborate der NS-Ideologen und NS-Bürokraten zur "Lösung der Judenfrage" sind das Thema dieser großen Synthese.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2003Blutaberglaube und Bürokratie
Der nationalsozialistische Rassenwahn: Gefühlsantisemiten und Vernunftantisemiten
Cornelia Essner: Die "Nürnberger Gesetze". Die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 477 Seiten, 50,- [Euro].
Obwohl Rassekult und Judenhaß 1933 Staatsdoktrin und - so der gemäßigte Justizminister Franz Gürtner - "ein Glaubenssatz des neuen Staates" wurden, bei dem es "völlig zwecklos sei, über richtig und unrichtig zu reden", blieb bis 1945 ungeklärt, was man sich unter einer wertvollen Rasse vorzustellen habe und wer genau als Jude anzusehen sei. Um so hemmungsloser stürzten sich Parteiideologen und Ministerialbeamte fernab gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnis in die barbarische Debatte darüber, wie der nationalsozialistische Blutaberglaube am effektivsten in bürokratische Alltagsroutine umzusetzen sei. Ziel war nichts weniger als die reinliche Abspaltung des rassevergiftenden "jüdischen Blutes" vom wertvollen "deutschen oder artverwandten Blut".
Ertragreich wie wenige vor ihr vollzieht Cornelia Essner alle Stadien jenes überaus verwickelten politisch-ideologisch-juristischen Tauziehens im Innern eines Weltanschauungsregimes nach, das mit der sofortigen Enthegung der Gewalt sowie der schrittweisen Beseitigung aller Barrieren der menschlichen Gesittung und des Rechts ungeahnte Chancen zur Stigmatisierung, Degradierung, Deportierung und schließlich Ermordung Unerwünschter eröffnet hatte. Dank ihrer akribischen Quellenauswertung gelingt es der Autorin dabei sogar, neues Licht auf so gründlich beackerte Felder wie die Entstehung und Handhabung der Nürnberger Gesetze von 1935, die berüchtigte Wannsee-Konferenz unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942, die Rolle Adolf Eichmanns und auf die inhärente Dynamik des deutschen Staatsrassismus generell zu werfen.
Daß Menschen unterschiedlich viel wert seien und namentlich die Juden durch ihre pure Präsenz ganze Völker schwächten und daß deswegen nur ein volklich homogenisierter Staat im Innern stabil und außenpolitisch schlagkräftig sein könne, war seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland verbreitete Überzeugung. Doch nach der nationalen Katastrophe von 1918 stellte sich diese Frage im Lager der Rechtsradikalen und der konservativen Antidemokraten viel dringlicher als anderswo, wenn das Reich wieder zu einstiger Größe zurückfinden wollte. Die als ungelöst geltende "Judenfrage", in der sich inzwischen alle Stränge des traditionellen Antijudaismus, wirtschaftlichen Antisemitismus und biologistischen Rassismus verknüpften, rückte nun als Ursache allen Unglücks schärfer denn je in den Vordergrund.
Den im Schatten der Weltwirtschaftskrise zur stärksten politischen Kraft aufgestiegenen Nationalsozialisten galten die Juden als mächtige "Gegenrasse", deren Weltherrschaftsstreben im Mimikry des Liberalismus, Kapitalismus und Bolschewismus nur in einem apokalyptischen Endkampf zu stoppen sei. Dieser "Erlösungsantisemitismus" (Saul Friedländer) konnte nicht nur bei einer Revidierung von Emanzipation und Assimilation, auch nicht bei dauerhafter Ghettoisierung stehenbleiben. Vielmehr strebte er die physische Entfernung der Juden aus seinem Herrschaftsbereich und die Ausscheidung jenes "jüdischen Blutes" an, das seit der Judenbefreiung im Gefolge der Aufklärung durch Mischehen in den deutschen Volkskörper eingedrungen sei. Die deutsche Demokratieschwäche führte 1933 dazu, daß mitten im zivilisierten Europa aus diesem Wahn Wirklichkeit werden konnte.
Die Autorin arbeitet zwei unvereinbare antisemitische Strömungen innerhalb des Staatsrassismus heraus. In ihrem permanenten Kampf gegeneinander sieht sie eine wesentliche Schubkraft der tödlichen Dynamik in der nationalsozialistischen Judenpolitik: auf der einen Seite der "kontagionistische", auf der anderen der "erbbiologische" Antisemitismus. Innerhalb des nationalsozialistischen "Doppelstaates" (Ernst Fraenkel) findet Essner ersteren vor allem auf seiten der maßnamenstaatlich orientierten Eliten in Partei und Staat, letzteren bei den langfristig immer mehr an Terrain verlierenden Verfechtern normenstaatlicher Berechenbarkeit; diese empfanden sich selbst als "Vernunftantisemiten".
Die "gefühlsantisemitischen" Kontagionisten hingen dem breit popularisierten Glauben an, "jüdisches Blut" habe eine so große Durchschlagskraft, daß es trotz fortschreitender Verdünnung innerhalb "gutrassiger" Partnerschaften über Generationen - im Grunde unbegrenzt - dominant bleibe und das Wesen aller Nachkommen in gefährlicher Weise jüdisch präge. Mehr noch: "Ein einziger Beischlaf eines Juden bei einer arischen Frau genügt", so der fränkische Gauleiter Julius Streicher 1935, "um deren Blut für immer zu vergiften. Sie hat mit dem ,artfremden Eiweiß' auch die fremde Seele in sich aufgenommen." Sie könne selbst mit einem arischen Manne hinfort nur noch mischrassige Bastarde gebären. "Man nennt diesen Vorgang ,Imprägnation'."
Diese mittelalterliche Obsession widersprach der gängigen Theorie der Erbbiologen im nationalsozialistischen Staat, nach der sich die "jüdische Erbmasse" mit jedem weiteren "Mischlingsgrad" ("Halb"-, "Viertel"-, "Achteljude") allmählich verlor. Offiziell orientierte sich der staatliche Antisemitismus wegen des überzeugenderen wissenschaftlichen Anstrichs an Erbbiologie und Eugenik und verurteilte die kontagionistischen Behauptungen als Irrlehre. Tatsächlich aber blieb ein großer Teil der führenden Nationalsozialisten der antisemitischen Alchimie von der Präpotenz des jüdischen Blutes verhaftet - auch Hitler selbst.
Für Essner war die Rassengesetzgebung von 1935 der Versuch des Reichskanzlers Hitler, die bedrohlich angewachsenen Spannungen zwischen den zu Einfluß gelangten Gefühlsantisemiten und Vernunftantisemiten zu entschärfen und in einem Gesetzeskompromiß ruhig zu stellen. Minutiös belegt sie die enge inhaltliche Verknüpfung des Reichsbürgergesetzes, das den Juden einen minderen Status als Staatsangehörige brachte, und dem Blutschutzgesetz, das ein Verbot von Ehe und Sexualverkehr mit "Deutschblütigen" beinhaltete. Vor allem kann die Autorin an der ständigen Verschärfung und Verfeinerung dieser Bestimmungen nachweisen, wie von hier aus eine direkte legislatorische Linie zur Klassifikation von Menschen für ihre spätere Deportation (nebst exakt geregelter Vermögensberaubung) in den Tod führt. Von dem nach 1945 clever inszenierten Mythos der beteiligten hohen Beamtenschaft, sie sei inmitten des Rassenwahns die mäßigende Kraft gewesen, bleibt nichts übrig.
In seinem Nürnberger System hatte der Rassestaat die Definition des "Juden" festgelegt, die in Ermangelung objektiver biologischer Kriterien und äußerer Merkmale freilich aus der Religionszugehörigkeit abgeleitet werden mußte. Die Vertreter des Normenstaates sahen in dem Gesetzeswerk das Ende der Unsicherheit in Rassefragen, die kontagionistisch fühlenden Verfechter des Maßnahmenstaates dagegen nur den Ausgangspunkt für eine viel weitergreifende Ausschaltung "jüdischen Blutes". Sie hatten längst jene "Zwischenrasse" der Mischlinge ("Bastarde") im Visier, die ihre präpotente Erbmasse auch nach Nürnberg wenig gehindert weitergeben konnten: Aufsaugen oder Ausschließen der Mischlinge, also deren Stempelung zu "Volljuden", lautete die über Leben und Tod entscheidende Streitfrage der Debatte, die bis 1945 in und zwischen den zentralen Instanzen des "Dritten Reiches" fortgeführt wurde. Dieser gespenstische Diskurs wird in Essners gewichtiger Studie in alle Verästelungen aufgefächert.
Ungeachtet des massiven Drängens von Heydrich und verschiedener Dienststellen im besetzten Osten auf eine "Endlösung" auch der Mischlingsfrage hielt Hitler als entscheidende Instanz in den überbordenden ideologisch-bürokratischen Rivalitäten an dem System und an dem enger gefaßten Judenbegriff von Nürnberg fest. Daran änderte auch die vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes geschickt instrumentalisierte Konferenz am Wannsee nichts. Der Reichskanzler blieb unbeeindruckt, weil er das Widerstandspotential der mitbetroffenen "arischen" Verwandten und Partner der Mischlinge in Rechnung stellte, zum anderen, weil eine uferlose Ausdehnung des die ganze nationalsozialistische Zeit hindurch umstrittenen Judenbegriffes ein letztlich suizidäres Unternehmen sein würde. Greife die Rassenfrage erst einmal auf die Mischlingsfrage über, gebe es keine "natürliche oder logische Grenze" für den mörderischen Rassismus mehr, hatte Staatssekretär Wilhelm Stuckart aus dem Berliner Innenministerium im Herbst 1942 an Heinrich Himmler geschrieben. Der war ohnehin gegen eine Neudefinition des Judenbegriffes, mit der man sich - so der Organisator des längst auf Hochtouren laufenden Völkermordes - doch nur "selbst die Hände binde".
Der in Händen der maßnahmenstaatlichen Instanzen liegende Mord an den europäischen Juden Nürnberger Klassifikation führte nicht zur Beunruhigung der hohen Reichsbürokratie. Sie hatte zu der von Himmler bis in die Gaskammern exekutierten Rassehierarchie mit ungefähr 2000 Gesetzen, Verordnungen und Bestimmungen einen stabilen justizförmigen Rahmen beigesteuert. Das vermittelte den Beteiligten nicht nur das Gefühl rechtmäßigen Handelns, das ordnende und klassifizierende Ethos der Ministerialbürokratie war selber eine maßgebliche Schubkraft bei der Verwaltung des Rassenwahns.
KLAUS-DIETMAR HENKE
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Der nationalsozialistische Rassenwahn: Gefühlsantisemiten und Vernunftantisemiten
Cornelia Essner: Die "Nürnberger Gesetze". Die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 477 Seiten, 50,- [Euro].
Obwohl Rassekult und Judenhaß 1933 Staatsdoktrin und - so der gemäßigte Justizminister Franz Gürtner - "ein Glaubenssatz des neuen Staates" wurden, bei dem es "völlig zwecklos sei, über richtig und unrichtig zu reden", blieb bis 1945 ungeklärt, was man sich unter einer wertvollen Rasse vorzustellen habe und wer genau als Jude anzusehen sei. Um so hemmungsloser stürzten sich Parteiideologen und Ministerialbeamte fernab gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnis in die barbarische Debatte darüber, wie der nationalsozialistische Blutaberglaube am effektivsten in bürokratische Alltagsroutine umzusetzen sei. Ziel war nichts weniger als die reinliche Abspaltung des rassevergiftenden "jüdischen Blutes" vom wertvollen "deutschen oder artverwandten Blut".
Ertragreich wie wenige vor ihr vollzieht Cornelia Essner alle Stadien jenes überaus verwickelten politisch-ideologisch-juristischen Tauziehens im Innern eines Weltanschauungsregimes nach, das mit der sofortigen Enthegung der Gewalt sowie der schrittweisen Beseitigung aller Barrieren der menschlichen Gesittung und des Rechts ungeahnte Chancen zur Stigmatisierung, Degradierung, Deportierung und schließlich Ermordung Unerwünschter eröffnet hatte. Dank ihrer akribischen Quellenauswertung gelingt es der Autorin dabei sogar, neues Licht auf so gründlich beackerte Felder wie die Entstehung und Handhabung der Nürnberger Gesetze von 1935, die berüchtigte Wannsee-Konferenz unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942, die Rolle Adolf Eichmanns und auf die inhärente Dynamik des deutschen Staatsrassismus generell zu werfen.
Daß Menschen unterschiedlich viel wert seien und namentlich die Juden durch ihre pure Präsenz ganze Völker schwächten und daß deswegen nur ein volklich homogenisierter Staat im Innern stabil und außenpolitisch schlagkräftig sein könne, war seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland verbreitete Überzeugung. Doch nach der nationalen Katastrophe von 1918 stellte sich diese Frage im Lager der Rechtsradikalen und der konservativen Antidemokraten viel dringlicher als anderswo, wenn das Reich wieder zu einstiger Größe zurückfinden wollte. Die als ungelöst geltende "Judenfrage", in der sich inzwischen alle Stränge des traditionellen Antijudaismus, wirtschaftlichen Antisemitismus und biologistischen Rassismus verknüpften, rückte nun als Ursache allen Unglücks schärfer denn je in den Vordergrund.
Den im Schatten der Weltwirtschaftskrise zur stärksten politischen Kraft aufgestiegenen Nationalsozialisten galten die Juden als mächtige "Gegenrasse", deren Weltherrschaftsstreben im Mimikry des Liberalismus, Kapitalismus und Bolschewismus nur in einem apokalyptischen Endkampf zu stoppen sei. Dieser "Erlösungsantisemitismus" (Saul Friedländer) konnte nicht nur bei einer Revidierung von Emanzipation und Assimilation, auch nicht bei dauerhafter Ghettoisierung stehenbleiben. Vielmehr strebte er die physische Entfernung der Juden aus seinem Herrschaftsbereich und die Ausscheidung jenes "jüdischen Blutes" an, das seit der Judenbefreiung im Gefolge der Aufklärung durch Mischehen in den deutschen Volkskörper eingedrungen sei. Die deutsche Demokratieschwäche führte 1933 dazu, daß mitten im zivilisierten Europa aus diesem Wahn Wirklichkeit werden konnte.
Die Autorin arbeitet zwei unvereinbare antisemitische Strömungen innerhalb des Staatsrassismus heraus. In ihrem permanenten Kampf gegeneinander sieht sie eine wesentliche Schubkraft der tödlichen Dynamik in der nationalsozialistischen Judenpolitik: auf der einen Seite der "kontagionistische", auf der anderen der "erbbiologische" Antisemitismus. Innerhalb des nationalsozialistischen "Doppelstaates" (Ernst Fraenkel) findet Essner ersteren vor allem auf seiten der maßnamenstaatlich orientierten Eliten in Partei und Staat, letzteren bei den langfristig immer mehr an Terrain verlierenden Verfechtern normenstaatlicher Berechenbarkeit; diese empfanden sich selbst als "Vernunftantisemiten".
Die "gefühlsantisemitischen" Kontagionisten hingen dem breit popularisierten Glauben an, "jüdisches Blut" habe eine so große Durchschlagskraft, daß es trotz fortschreitender Verdünnung innerhalb "gutrassiger" Partnerschaften über Generationen - im Grunde unbegrenzt - dominant bleibe und das Wesen aller Nachkommen in gefährlicher Weise jüdisch präge. Mehr noch: "Ein einziger Beischlaf eines Juden bei einer arischen Frau genügt", so der fränkische Gauleiter Julius Streicher 1935, "um deren Blut für immer zu vergiften. Sie hat mit dem ,artfremden Eiweiß' auch die fremde Seele in sich aufgenommen." Sie könne selbst mit einem arischen Manne hinfort nur noch mischrassige Bastarde gebären. "Man nennt diesen Vorgang ,Imprägnation'."
Diese mittelalterliche Obsession widersprach der gängigen Theorie der Erbbiologen im nationalsozialistischen Staat, nach der sich die "jüdische Erbmasse" mit jedem weiteren "Mischlingsgrad" ("Halb"-, "Viertel"-, "Achteljude") allmählich verlor. Offiziell orientierte sich der staatliche Antisemitismus wegen des überzeugenderen wissenschaftlichen Anstrichs an Erbbiologie und Eugenik und verurteilte die kontagionistischen Behauptungen als Irrlehre. Tatsächlich aber blieb ein großer Teil der führenden Nationalsozialisten der antisemitischen Alchimie von der Präpotenz des jüdischen Blutes verhaftet - auch Hitler selbst.
Für Essner war die Rassengesetzgebung von 1935 der Versuch des Reichskanzlers Hitler, die bedrohlich angewachsenen Spannungen zwischen den zu Einfluß gelangten Gefühlsantisemiten und Vernunftantisemiten zu entschärfen und in einem Gesetzeskompromiß ruhig zu stellen. Minutiös belegt sie die enge inhaltliche Verknüpfung des Reichsbürgergesetzes, das den Juden einen minderen Status als Staatsangehörige brachte, und dem Blutschutzgesetz, das ein Verbot von Ehe und Sexualverkehr mit "Deutschblütigen" beinhaltete. Vor allem kann die Autorin an der ständigen Verschärfung und Verfeinerung dieser Bestimmungen nachweisen, wie von hier aus eine direkte legislatorische Linie zur Klassifikation von Menschen für ihre spätere Deportation (nebst exakt geregelter Vermögensberaubung) in den Tod führt. Von dem nach 1945 clever inszenierten Mythos der beteiligten hohen Beamtenschaft, sie sei inmitten des Rassenwahns die mäßigende Kraft gewesen, bleibt nichts übrig.
In seinem Nürnberger System hatte der Rassestaat die Definition des "Juden" festgelegt, die in Ermangelung objektiver biologischer Kriterien und äußerer Merkmale freilich aus der Religionszugehörigkeit abgeleitet werden mußte. Die Vertreter des Normenstaates sahen in dem Gesetzeswerk das Ende der Unsicherheit in Rassefragen, die kontagionistisch fühlenden Verfechter des Maßnahmenstaates dagegen nur den Ausgangspunkt für eine viel weitergreifende Ausschaltung "jüdischen Blutes". Sie hatten längst jene "Zwischenrasse" der Mischlinge ("Bastarde") im Visier, die ihre präpotente Erbmasse auch nach Nürnberg wenig gehindert weitergeben konnten: Aufsaugen oder Ausschließen der Mischlinge, also deren Stempelung zu "Volljuden", lautete die über Leben und Tod entscheidende Streitfrage der Debatte, die bis 1945 in und zwischen den zentralen Instanzen des "Dritten Reiches" fortgeführt wurde. Dieser gespenstische Diskurs wird in Essners gewichtiger Studie in alle Verästelungen aufgefächert.
Ungeachtet des massiven Drängens von Heydrich und verschiedener Dienststellen im besetzten Osten auf eine "Endlösung" auch der Mischlingsfrage hielt Hitler als entscheidende Instanz in den überbordenden ideologisch-bürokratischen Rivalitäten an dem System und an dem enger gefaßten Judenbegriff von Nürnberg fest. Daran änderte auch die vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes geschickt instrumentalisierte Konferenz am Wannsee nichts. Der Reichskanzler blieb unbeeindruckt, weil er das Widerstandspotential der mitbetroffenen "arischen" Verwandten und Partner der Mischlinge in Rechnung stellte, zum anderen, weil eine uferlose Ausdehnung des die ganze nationalsozialistische Zeit hindurch umstrittenen Judenbegriffes ein letztlich suizidäres Unternehmen sein würde. Greife die Rassenfrage erst einmal auf die Mischlingsfrage über, gebe es keine "natürliche oder logische Grenze" für den mörderischen Rassismus mehr, hatte Staatssekretär Wilhelm Stuckart aus dem Berliner Innenministerium im Herbst 1942 an Heinrich Himmler geschrieben. Der war ohnehin gegen eine Neudefinition des Judenbegriffes, mit der man sich - so der Organisator des längst auf Hochtouren laufenden Völkermordes - doch nur "selbst die Hände binde".
Der in Händen der maßnahmenstaatlichen Instanzen liegende Mord an den europäischen Juden Nürnberger Klassifikation führte nicht zur Beunruhigung der hohen Reichsbürokratie. Sie hatte zu der von Himmler bis in die Gaskammern exekutierten Rassehierarchie mit ungefähr 2000 Gesetzen, Verordnungen und Bestimmungen einen stabilen justizförmigen Rahmen beigesteuert. Das vermittelte den Beteiligten nicht nur das Gefühl rechtmäßigen Handelns, das ordnende und klassifizierende Ethos der Ministerialbürokratie war selber eine maßgebliche Schubkraft bei der Verwaltung des Rassenwahns.
KLAUS-DIETMAR HENKE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auf große Zustimmung stößt bei Jürgen Zarusy Cornelia Essners Untersuchung der Nürnberger Gesetze, die Raul Hilberg die Grundgesetze des Holocaust nannte und die Carl Schmitt als die "Verfassung der Freiheit" bejubelte, wie der Rezensent erinnert. In ihrer Studie untersucht die Autorin in Zarusys Augen sehr präzise die Kriterien und Methoden, mit denen von recht und Verwaltung der "Rassenwahn zum Verwaltungsgegenstand" gemacht wurden. Zurecht spreche sie hierbei von einem "verwalteten Irrsinn", meint der Rezensent, denn in sich stimmig waren die Nürnberger Gesetze beileibe nicht. So argumentierten sie mal biologistisch, mal ideologisch, mal religiös - Hauptsache den Opfern blieb keine rechtliche Sicherheit und kein Schlupfloch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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