Ob wir eine Kreditkarte benutzen, im Internet surfen oder mit dem Handy telefonieren - immer hinterlassen wir digitale Spuren. Diese Spuren fügen sich zusammen zu klaren, regelmäßigen Mustern - für den, der sie zu lesen weiß.
Findige Experten können so etwas: Sie sind die "Numerati" - mathematisch geschulte Experten, die darauf trainiert sind, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nichts als Chaos sehen. Sie pflügen durch gewaltige Datenmengen, durchkämmen Logdateien und Verkaufsstatistiken: Wer besucht welche Webseiten - und wie lange? Wer entscheidet sich für welchen MP3-Player? Empfiehlt er ihn seinen Freunden? Wo lassen sich Luxusartikel verkaufen - wo liegen sie wie Blei im Regal? Warum werden Kleinwagen besonders gerne von Liebhabern romantischer Filme gemietet?
Die Numerati wissen, was Menschen kaufen, wie sie wählen, was sie lieben, worauf sie hören. Das ist gefährlich. Denn wer berechnen kann, wie Menschen funktionieren, kann sie auch manipulieren. Nicht umsonst interessieren sich clevere Marketingstrategen, politische Parteien und Geheimdienste brennend für die Nutzerprofile, Käufertypen und Wählergruppen, die die Numerati aus riesigen Datenmengen herausdestillieren.
Stephen Baker wirft einen beunruhigenden Blick auf die verborgenen Machenschaften der Numerati, die uns genauer kennen, als uns recht sein kann.
Findige Experten können so etwas: Sie sind die "Numerati" - mathematisch geschulte Experten, die darauf trainiert sind, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nichts als Chaos sehen. Sie pflügen durch gewaltige Datenmengen, durchkämmen Logdateien und Verkaufsstatistiken: Wer besucht welche Webseiten - und wie lange? Wer entscheidet sich für welchen MP3-Player? Empfiehlt er ihn seinen Freunden? Wo lassen sich Luxusartikel verkaufen - wo liegen sie wie Blei im Regal? Warum werden Kleinwagen besonders gerne von Liebhabern romantischer Filme gemietet?
Die Numerati wissen, was Menschen kaufen, wie sie wählen, was sie lieben, worauf sie hören. Das ist gefährlich. Denn wer berechnen kann, wie Menschen funktionieren, kann sie auch manipulieren. Nicht umsonst interessieren sich clevere Marketingstrategen, politische Parteien und Geheimdienste brennend für die Nutzerprofile, Käufertypen und Wählergruppen, die die Numerati aus riesigen Datenmengen herausdestillieren.
Stephen Baker wirft einen beunruhigenden Blick auf die verborgenen Machenschaften der Numerati, die uns genauer kennen, als uns recht sein kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2009Die große Überrumpelung
Wie verändern die Entwicklungen in Mathematik, Informatik und Molekularbiologie die Standards unseres Wissens? Zwei Bände geben Aufschluss.
Das Bonmot, wonach die Zukunft früher auch besser war, hat einen wahren Kern. Ihn bilden empirisch überprüfbare Hoffnungen und Ängste über das, was uns künftig erwarten mag. Die große Kulisse für das Theater der Fortschrittsgefühle bilden jene Wissenschaftsrevolutionen, die in den vergangenen Jahren in dichter Folge über uns hereingebrochen sind. Disziplinen ändern ihr Profil, sie verbinden sich mit anderen Fachrichtungen zu neuen Handlungsmöglichkeiten. Was an den Peripherien von Fächern und scheinbar verstreut geschieht, wirkt sich infolge zunehmender Vernetzungen in rasanter Weise gesellschaftlich aus. Das geschieht häufig unerwartet für die Betroffenen und auch für den Gesetzgeber.
Zwei kompakt geschriebene Bücher folgen den Spuren zweier atemberaubender disziplinärer Umwälzungen, deren Konsequenzen bereits jetzt praktisch greifbar sind. Stephen Baker ist mit seinem Band "Die Numerati" auf Spurensuche bei den Mathematikern und Informatikern, die unsere Daten lesen und im Auftrag wechselnder Agenten interpretieren. Helga Nowotny und Giuseppe Testa denken in ihrem Buch "Die gläsernen Gene" über die gesellschaftlichen Folgen der Molekularbiologie nach.
Den zunächst disparat klingenden Themen ist mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Sie verdeutlichen, welche regulatorischen Herausforderungen für eine Gesellschaft zu meistern sind, in der der zeitliche Abstand von Grundlagenforschung zu Anwendung geschrumpft ist, in der Grundbegriffe unseres Weltverständnisses neu mit Inhalten gefüllt werden und in denen es noch kaum Übereinkünfte über die angemessenen Standards in Recht und Ethik gibt.
Der manipulierbare Bürger.
Bakers Buch "Die Numerati" ist anschaulich um sieben Personenkreise komponiert, bei denen die Datenrevolution aktuell besondere Leistungsversprechungen macht oder womöglich schön eingelöst hat: Arbeitende, Käufer, Wähler, Blogger, Terroristen, Patienten, Liebende lauten Bakers personalisierende Kapitel. Sie sind im Visier der "Numerati", seines neuen Kollektivs aus Mathematikern und Informatikern, das in der Lage sei, "die Informationen in unserem Leben zu beherrschen".
Die technische Botschaft Bakers lautet auf all diesen Feldern optimistisch, dass Statistiker weitreichende Schlüsse aus unserem Verhalten ziehen können: Mit einigen Angaben ist der Bürger in seinen Werthaltungen und politischen Orientierungen klassifiziert und in seinem Konsumverhalten entlarvt; immer ist er dabei manipulierbar. Baker neigt dabei wie seine wissenschaftlichen Protagonisten zu Pauschalierungen und Gruppenbildungen, seine Szenarien entsprechen nicht unbedingt den Alltagserfahrungen. Netzbewohner, denen der Computer schon so manches völlig unpassende Produkt nahebringen wollte, weil er sich über Cookies auf der richtigen Spur unseres Geschmacks wähnte, wissen das.
Auch wenn man der Leistungszuversicht also (noch) nicht folgen will, so bleibt doch die Faszination einer kollektiven Anstrengung, das data mining zu optimieren. Baker berichtet über die automatisierte Auswertung der Einträge von Bloggern, aus denen Werber herauslesen wollen, wie ihr Produkt öffentlich dasteht; die amerikanischen Wahlkampfmaschinerien möchten wissen, wo und wann der Einsatz um schwankende Wähler besonders lohnt. Patienten und Ärzte fragen, welche Indikatoren verlässliche Rückschlüsse auf bestimmte Krankheiten zulassen, die die Praktiker in der klinischen Zeitnot und situativen Beschränktheit nicht ermitteln können. Je komplexer die Herausforderung wird, desto neugieriger darf man auf das Ergebnis sein. Ob die Partnersuche per Fragebogen doch mal zu brauchbareren Ergebnissen führen wird als die Spontaneinschätzung in der Dorfdisco?
Hoch im Kurs stehen bei Baker die Abwehr terroristischer Gefahren durch Datensammeln. Überwachungstechnologien am Arbeitsplatz werden nicht als jener Horror benannt, als die sie sich auch ohne rechtswidrige Übergriffe darstellen. Umso dankbarer darf man dem Übersetzer für jene Fußnote sein, die auf rechtskulturelle Differenzen beim Datenschutz verweist. Ein weiteres Fragezeichen gehörte hinter jene Weltsicht, die von einer technokratischen Planungs- und Steuerungseuphorie getragen wird.
Ein Parallelstück zur Mobilisierung der Statistik bilden die von Nowotny und Testa beschriebenen "gläsernen Gene". Ihre Sichtbarkeit repräsentiert die Biomedizin, welche unsere Identität aktuell durch wissenschaftliche Dechiffrierungen neu erfindet: Wer wir sind und was wir sein könnten, ist zugleich gewisser und ungewisser denn je. Dem Autorentandem ist das Kunststück gelungen, ein ebenso knappes wie gedankenreiches Buch zu schreiben, das vor allem durch seine Kombination von Ausgewogenheit, Scharfsinn und Perspektivenreichtum überzeugt.
Folgt man dem Buch in seiner Bestandsaufnahme, dann wird nach der biomedizinischen Revolution kaum etwas beim Alten bleiben. Anders als Baker können der Molekularbiologe Testa und die Wissenschaftssoziologin Nowotny auch die theoretischen Implikationen benennen. Zu den Diskontinuitäten gehört, dass die Natur ihre moralische Autorität verliert; dass sich Natürlichkeit als ein zunehmend fragwürdiges kulturelles Konstrukt entpuppt.
Was die Forschungslabors hervorgebracht haben, ist durch Kommerzialisierungen schneller an die Gesellschaft herangetreten, als wir vor wenigen Jahren wahrhaben wollten. Die Überrumpelung zieht eine Leere nach sich, die durch Faktizität aufgefüllt wird.
Wo Bakers munterer Technikoptimismus im kecken Staunen endet, da diktieren Nowotny und Testa präzise die Zukunftsfragen: Was ist Leben, was heißt Gemeinschaft oder Zugehörigkeit und was Individuum? Schon jetzt ist erkennbar, wie die Standardsetzung im bioethischen Diskurs die Parameter ändert. Nationale Gesetze werden teils flankiert, teils unterminiert durch neue Institutionen und ihre normativen Produkte. Anstelle des Parlaments und seiner verbindlich klaren Vorgaben wird es zunehmend hybride und fragmentierte Formen von Regulierungen geben.
Einhegung des Neuen.
Das fügt sich gut in die Szenarien des Wandels von Staatlichkeit, die auch durch andere Felder vorangetrieben werden. Was manchem wie eine bedenkliche Schwächung von tradierter Nationalstaatlichkeit anmutet, wird von Nowotny und Testa ausdrücklich gutgeheißen. Ihre Präferenzen lauten Prozeduralisierung, Audits, Governance-Netzwerke: Das Neue ist mehr Diskurs als Antwort, mehr Pluralität als hegemoniale Deutungen. Vermutlich, sagen sie, wird es die angloamerikanische Kultur mit ihrem richterlich geprägten Case Law besser in den Griff bekommen als das kontinentale Recht in seiner Vorliebe für das Gesetz.
Interessanterweise wird gerade von den beiden Wissenschaftlern die Regulierungsaufgabe stärker herausgestellt als beim Beobachter Baker. Trotz ihrer Zurückhaltung gegenüber harten Verboten ist ihr Buch von einer untergründigen Skepsis gegen die Segnungen vermehrten Wissens durchdrungen. Das Neue wird durch technische, ethische und rechtliche Standards eingehegt werden müssen, deren Konturen wir noch nicht kennen. Schon die Repräsentation von Wissen und von Identität wird die Linien der Intervention vorgeben. Es liegt nahe, dies auch als Selbstbeobachtung der Wissenschaft zu verstehen. Die skeptische Positionierung wäre dann ein Plädoyer für Zurückhaltung: Auf hohem Wohlstands- und Wissensniveau werden die Entscheidungen komplizierter, und manche Technovision verliert an Reiz.
MILOS VEC.
Stephen Baker: "Die Numerati". Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften. Aus dem Amerikanischen von Karsten Petersen, Carl Hanser Verlag, München 2009. 266 S., br., 19,90 [Euro].
Helga Nowotny/Giuseppe Testa: "Die gläsernen Gene". Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 160 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie verändern die Entwicklungen in Mathematik, Informatik und Molekularbiologie die Standards unseres Wissens? Zwei Bände geben Aufschluss.
Das Bonmot, wonach die Zukunft früher auch besser war, hat einen wahren Kern. Ihn bilden empirisch überprüfbare Hoffnungen und Ängste über das, was uns künftig erwarten mag. Die große Kulisse für das Theater der Fortschrittsgefühle bilden jene Wissenschaftsrevolutionen, die in den vergangenen Jahren in dichter Folge über uns hereingebrochen sind. Disziplinen ändern ihr Profil, sie verbinden sich mit anderen Fachrichtungen zu neuen Handlungsmöglichkeiten. Was an den Peripherien von Fächern und scheinbar verstreut geschieht, wirkt sich infolge zunehmender Vernetzungen in rasanter Weise gesellschaftlich aus. Das geschieht häufig unerwartet für die Betroffenen und auch für den Gesetzgeber.
Zwei kompakt geschriebene Bücher folgen den Spuren zweier atemberaubender disziplinärer Umwälzungen, deren Konsequenzen bereits jetzt praktisch greifbar sind. Stephen Baker ist mit seinem Band "Die Numerati" auf Spurensuche bei den Mathematikern und Informatikern, die unsere Daten lesen und im Auftrag wechselnder Agenten interpretieren. Helga Nowotny und Giuseppe Testa denken in ihrem Buch "Die gläsernen Gene" über die gesellschaftlichen Folgen der Molekularbiologie nach.
Den zunächst disparat klingenden Themen ist mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Sie verdeutlichen, welche regulatorischen Herausforderungen für eine Gesellschaft zu meistern sind, in der der zeitliche Abstand von Grundlagenforschung zu Anwendung geschrumpft ist, in der Grundbegriffe unseres Weltverständnisses neu mit Inhalten gefüllt werden und in denen es noch kaum Übereinkünfte über die angemessenen Standards in Recht und Ethik gibt.
Der manipulierbare Bürger.
Bakers Buch "Die Numerati" ist anschaulich um sieben Personenkreise komponiert, bei denen die Datenrevolution aktuell besondere Leistungsversprechungen macht oder womöglich schön eingelöst hat: Arbeitende, Käufer, Wähler, Blogger, Terroristen, Patienten, Liebende lauten Bakers personalisierende Kapitel. Sie sind im Visier der "Numerati", seines neuen Kollektivs aus Mathematikern und Informatikern, das in der Lage sei, "die Informationen in unserem Leben zu beherrschen".
Die technische Botschaft Bakers lautet auf all diesen Feldern optimistisch, dass Statistiker weitreichende Schlüsse aus unserem Verhalten ziehen können: Mit einigen Angaben ist der Bürger in seinen Werthaltungen und politischen Orientierungen klassifiziert und in seinem Konsumverhalten entlarvt; immer ist er dabei manipulierbar. Baker neigt dabei wie seine wissenschaftlichen Protagonisten zu Pauschalierungen und Gruppenbildungen, seine Szenarien entsprechen nicht unbedingt den Alltagserfahrungen. Netzbewohner, denen der Computer schon so manches völlig unpassende Produkt nahebringen wollte, weil er sich über Cookies auf der richtigen Spur unseres Geschmacks wähnte, wissen das.
Auch wenn man der Leistungszuversicht also (noch) nicht folgen will, so bleibt doch die Faszination einer kollektiven Anstrengung, das data mining zu optimieren. Baker berichtet über die automatisierte Auswertung der Einträge von Bloggern, aus denen Werber herauslesen wollen, wie ihr Produkt öffentlich dasteht; die amerikanischen Wahlkampfmaschinerien möchten wissen, wo und wann der Einsatz um schwankende Wähler besonders lohnt. Patienten und Ärzte fragen, welche Indikatoren verlässliche Rückschlüsse auf bestimmte Krankheiten zulassen, die die Praktiker in der klinischen Zeitnot und situativen Beschränktheit nicht ermitteln können. Je komplexer die Herausforderung wird, desto neugieriger darf man auf das Ergebnis sein. Ob die Partnersuche per Fragebogen doch mal zu brauchbareren Ergebnissen führen wird als die Spontaneinschätzung in der Dorfdisco?
Hoch im Kurs stehen bei Baker die Abwehr terroristischer Gefahren durch Datensammeln. Überwachungstechnologien am Arbeitsplatz werden nicht als jener Horror benannt, als die sie sich auch ohne rechtswidrige Übergriffe darstellen. Umso dankbarer darf man dem Übersetzer für jene Fußnote sein, die auf rechtskulturelle Differenzen beim Datenschutz verweist. Ein weiteres Fragezeichen gehörte hinter jene Weltsicht, die von einer technokratischen Planungs- und Steuerungseuphorie getragen wird.
Ein Parallelstück zur Mobilisierung der Statistik bilden die von Nowotny und Testa beschriebenen "gläsernen Gene". Ihre Sichtbarkeit repräsentiert die Biomedizin, welche unsere Identität aktuell durch wissenschaftliche Dechiffrierungen neu erfindet: Wer wir sind und was wir sein könnten, ist zugleich gewisser und ungewisser denn je. Dem Autorentandem ist das Kunststück gelungen, ein ebenso knappes wie gedankenreiches Buch zu schreiben, das vor allem durch seine Kombination von Ausgewogenheit, Scharfsinn und Perspektivenreichtum überzeugt.
Folgt man dem Buch in seiner Bestandsaufnahme, dann wird nach der biomedizinischen Revolution kaum etwas beim Alten bleiben. Anders als Baker können der Molekularbiologe Testa und die Wissenschaftssoziologin Nowotny auch die theoretischen Implikationen benennen. Zu den Diskontinuitäten gehört, dass die Natur ihre moralische Autorität verliert; dass sich Natürlichkeit als ein zunehmend fragwürdiges kulturelles Konstrukt entpuppt.
Was die Forschungslabors hervorgebracht haben, ist durch Kommerzialisierungen schneller an die Gesellschaft herangetreten, als wir vor wenigen Jahren wahrhaben wollten. Die Überrumpelung zieht eine Leere nach sich, die durch Faktizität aufgefüllt wird.
Wo Bakers munterer Technikoptimismus im kecken Staunen endet, da diktieren Nowotny und Testa präzise die Zukunftsfragen: Was ist Leben, was heißt Gemeinschaft oder Zugehörigkeit und was Individuum? Schon jetzt ist erkennbar, wie die Standardsetzung im bioethischen Diskurs die Parameter ändert. Nationale Gesetze werden teils flankiert, teils unterminiert durch neue Institutionen und ihre normativen Produkte. Anstelle des Parlaments und seiner verbindlich klaren Vorgaben wird es zunehmend hybride und fragmentierte Formen von Regulierungen geben.
Einhegung des Neuen.
Das fügt sich gut in die Szenarien des Wandels von Staatlichkeit, die auch durch andere Felder vorangetrieben werden. Was manchem wie eine bedenkliche Schwächung von tradierter Nationalstaatlichkeit anmutet, wird von Nowotny und Testa ausdrücklich gutgeheißen. Ihre Präferenzen lauten Prozeduralisierung, Audits, Governance-Netzwerke: Das Neue ist mehr Diskurs als Antwort, mehr Pluralität als hegemoniale Deutungen. Vermutlich, sagen sie, wird es die angloamerikanische Kultur mit ihrem richterlich geprägten Case Law besser in den Griff bekommen als das kontinentale Recht in seiner Vorliebe für das Gesetz.
Interessanterweise wird gerade von den beiden Wissenschaftlern die Regulierungsaufgabe stärker herausgestellt als beim Beobachter Baker. Trotz ihrer Zurückhaltung gegenüber harten Verboten ist ihr Buch von einer untergründigen Skepsis gegen die Segnungen vermehrten Wissens durchdrungen. Das Neue wird durch technische, ethische und rechtliche Standards eingehegt werden müssen, deren Konturen wir noch nicht kennen. Schon die Repräsentation von Wissen und von Identität wird die Linien der Intervention vorgeben. Es liegt nahe, dies auch als Selbstbeobachtung der Wissenschaft zu verstehen. Die skeptische Positionierung wäre dann ein Plädoyer für Zurückhaltung: Auf hohem Wohlstands- und Wissensniveau werden die Entscheidungen komplizierter, und manche Technovision verliert an Reiz.
MILOS VEC.
Stephen Baker: "Die Numerati". Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften. Aus dem Amerikanischen von Karsten Petersen, Carl Hanser Verlag, München 2009. 266 S., br., 19,90 [Euro].
Helga Nowotny/Giuseppe Testa: "Die gläsernen Gene". Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 160 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2009Wirtschaftsbuch
Jeder Tastendruck hinterlässt eine Spur
Sie folgen den Spuren unserer Wanderung durch das Internet wie Biologen den Zugvögeln oder Buckelwalen folgen. Sie verwandeln die Bits unseres Alltags in Symbole, verfassen Statistiken und suchen nach Mustern in unseren Daten – seien es Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Blogeinträge oder Einkäufe. Das sind die „geheimen Machenschaften” der Numerati, sagt Stephen Baker in seinem neuen gleichnamigen Buch.
Darin beschreibt der amerikanische Wirtschaftsjournalist, wie die Numerati – es sind Topmathematiker und Informatiker – anscheinend wertlose Informationsschnipsel zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Denn jeder Tastendruck auf einem digitalen Gerät hinterlässt eine Spur, die irgendwo im digitalen Universum gespeichert ist. Diese Informationen beschreiben unseren Alltag und dokumentieren unseren Arbeitstag. Daraus rekonstruieren die Numerati Eigenheiten und Vorlieben: „Sie wollen herausfinden, wen wir wählen, mit wem wir zusammenarbeiten wollen, vielleicht sogar, zu wem wir in der Liebe am besten passen” – um uns dann zu manipulieren. Das ist Bakers These und eine Perspektive, die Parteien und Geheimdiensten ebenso wie „Marketingfachleuten das Wasser im Munde zusammenlaufen” lasse.
Wer jetzt allerdings erwartet, dass Baker gegen diesen Einbruch in die Privatsphäre Stellung bezieht, wird enttäuscht. Genauso wenig reflektiert er diese „Machenschaften” im Kontext des Datenschutzes. Er beschreibt lediglich – das aber sehr spannend und anschaulich –, wie die Numerati Informationen sammeln und entschlüsseln. Dabei jongliert der Autor mit Daten, dass einem schwindlig wird. Den roten Faden bilden sieben Personengruppen, denen jeweils ein Kapitel des Buches gewidmet ist: Arbeitende, Käufer, Wähler, Blogger, Terroristen, Patienten und Liebende.
Besonderes Augenmerk gilt dem Arbeitsplatz, an dem wir mehr als anderswo zu „Sklaven der Information” werden, die wir produzieren. Doch wozu sollte ein Unternehmen jeden Tastendruck speichern und mathematisch analysieren? Jede Bewerbung, jeden Lebenslauf, alle Projektberichte und Online-Kalender-Vermerke bis hin zu Telefonverbindungen und E-Mails? Baker sagt lapidar: „Um unsere Produktivität zu steigern.”
Deshalb beschäftige IBM beispielsweise 40 „promovierte Experten”, vom Statistiker bis hin zum Anthropologen, die nur zwei Tabus kennen: die Personalakte und die jährliche Mitarbeiter-Beurteilung. So wolle IBM die Stärken und Schwächen der Angestellten identifizieren, um sie dort einsetzen zu können, wo sie sich entfalten, wie Baker den Entwicklungsleiter von IBM, Samer Takriti, zitiert. Zudem würden Außenseiter ebenso erkennbar wie informelle Netzwerke oder Mitarbeiter, die mit „der Konkurrenz liebäugeln”. Letztendlich geht es also nur um eines: um Kontrolle.
Aus diesem Grund durchwühlen auch Computerprogramme viele Tausende Blogs auf der Suche nach Beurteilungen von Produkten und Dienstleistungen. Diese Informationen werden anschließend an Werbetreibende verkauft. Das ist der entscheidende Punkt, den das Buch klar herausarbeitet: Wir sind nicht mehr Herr der Daten, die wir generieren. Weder an der Supermarktkasse noch im Krankenbett oder in der Partnerbörse.
So entsteht ein verdichtetes Szenario, das klar beschreibt, in welche Richtung die Entwicklung geht: Unsere Daten sind heiß begehrt und viel Geld wert. Anderes klingt allzu phantastisch. Etwa die Vorstellung, man könne in absehbarer Zeit das Leben der Menschen so exakt durch mathematische Modelle simulieren, dass sich sogar genaues Verhalten vorhersagen ließe. Diese Vorstellung ist äußerst unangenehm – und sie dürfte unrealistisch sein. Noch. Florian Michl
Stephen Baker:
Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften.
Carl Hanser Verlag, München 2009, 264 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Jeder Tastendruck hinterlässt eine Spur
Sie folgen den Spuren unserer Wanderung durch das Internet wie Biologen den Zugvögeln oder Buckelwalen folgen. Sie verwandeln die Bits unseres Alltags in Symbole, verfassen Statistiken und suchen nach Mustern in unseren Daten – seien es Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Blogeinträge oder Einkäufe. Das sind die „geheimen Machenschaften” der Numerati, sagt Stephen Baker in seinem neuen gleichnamigen Buch.
Darin beschreibt der amerikanische Wirtschaftsjournalist, wie die Numerati – es sind Topmathematiker und Informatiker – anscheinend wertlose Informationsschnipsel zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Denn jeder Tastendruck auf einem digitalen Gerät hinterlässt eine Spur, die irgendwo im digitalen Universum gespeichert ist. Diese Informationen beschreiben unseren Alltag und dokumentieren unseren Arbeitstag. Daraus rekonstruieren die Numerati Eigenheiten und Vorlieben: „Sie wollen herausfinden, wen wir wählen, mit wem wir zusammenarbeiten wollen, vielleicht sogar, zu wem wir in der Liebe am besten passen” – um uns dann zu manipulieren. Das ist Bakers These und eine Perspektive, die Parteien und Geheimdiensten ebenso wie „Marketingfachleuten das Wasser im Munde zusammenlaufen” lasse.
Wer jetzt allerdings erwartet, dass Baker gegen diesen Einbruch in die Privatsphäre Stellung bezieht, wird enttäuscht. Genauso wenig reflektiert er diese „Machenschaften” im Kontext des Datenschutzes. Er beschreibt lediglich – das aber sehr spannend und anschaulich –, wie die Numerati Informationen sammeln und entschlüsseln. Dabei jongliert der Autor mit Daten, dass einem schwindlig wird. Den roten Faden bilden sieben Personengruppen, denen jeweils ein Kapitel des Buches gewidmet ist: Arbeitende, Käufer, Wähler, Blogger, Terroristen, Patienten und Liebende.
Besonderes Augenmerk gilt dem Arbeitsplatz, an dem wir mehr als anderswo zu „Sklaven der Information” werden, die wir produzieren. Doch wozu sollte ein Unternehmen jeden Tastendruck speichern und mathematisch analysieren? Jede Bewerbung, jeden Lebenslauf, alle Projektberichte und Online-Kalender-Vermerke bis hin zu Telefonverbindungen und E-Mails? Baker sagt lapidar: „Um unsere Produktivität zu steigern.”
Deshalb beschäftige IBM beispielsweise 40 „promovierte Experten”, vom Statistiker bis hin zum Anthropologen, die nur zwei Tabus kennen: die Personalakte und die jährliche Mitarbeiter-Beurteilung. So wolle IBM die Stärken und Schwächen der Angestellten identifizieren, um sie dort einsetzen zu können, wo sie sich entfalten, wie Baker den Entwicklungsleiter von IBM, Samer Takriti, zitiert. Zudem würden Außenseiter ebenso erkennbar wie informelle Netzwerke oder Mitarbeiter, die mit „der Konkurrenz liebäugeln”. Letztendlich geht es also nur um eines: um Kontrolle.
Aus diesem Grund durchwühlen auch Computerprogramme viele Tausende Blogs auf der Suche nach Beurteilungen von Produkten und Dienstleistungen. Diese Informationen werden anschließend an Werbetreibende verkauft. Das ist der entscheidende Punkt, den das Buch klar herausarbeitet: Wir sind nicht mehr Herr der Daten, die wir generieren. Weder an der Supermarktkasse noch im Krankenbett oder in der Partnerbörse.
So entsteht ein verdichtetes Szenario, das klar beschreibt, in welche Richtung die Entwicklung geht: Unsere Daten sind heiß begehrt und viel Geld wert. Anderes klingt allzu phantastisch. Etwa die Vorstellung, man könne in absehbarer Zeit das Leben der Menschen so exakt durch mathematische Modelle simulieren, dass sich sogar genaues Verhalten vorhersagen ließe. Diese Vorstellung ist äußerst unangenehm – und sie dürfte unrealistisch sein. Noch. Florian Michl
Stephen Baker:
Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften.
Carl Hanser Verlag, München 2009, 264 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Milos Vec liest diesen kompakten Band als Spurensuche im Bereich der Mathematik und Informatik. Welche gesellschaftlichen Umwälzungen diese Disziplinen in Gang setzen und welche rechtlichen und ethischen Veränderungen das notwendig macht, verfolgt Vec anhand des anschaulich um Personenkreise (Käufer, Wähler, Blogger usw.) komponierten Buches. Die positive Sicht Stephen Bakers betreffend das Datensammeln und -verwerten möchte Vec allerdings lieber nicht teilen. Nicht nur in puncto Überwachungstechnologien hat er Einwände gegen Bakers Optimismus. Allzu oft erscheint ihm die Botschaft des Autors auf "Pauschalisierungen und Gruppenbildungen" zu basieren und der Alltagserfahrung zu widersprechen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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