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2 Kundenbewertungen

Als das »Letzte Epos« (mit großem »L«) hat Peter Handke seinen neuen Roman bezeichnet. Mit der Niederschrift begann er am 1. August 2016: »Diese Geschichte hat begonnen seinerzeit an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras wie eh und je zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.« Dieser Stich wird, wie der Autor am 2. August festhält, zum »Zeichen«. »Ein gutes oder ein schlechtes? Weder als gutes noch als ein schlechtes, gar böses - einfach als ein Zeichen. Der Stich jetzt gab das Zeichen, aufzubrechen. Zeit, daß du dich auf den Weg machst. Reiß dich los von…mehr

Produktbeschreibung
Als das »Letzte Epos« (mit großem »L«) hat Peter Handke seinen neuen Roman bezeichnet. Mit der Niederschrift begann er am 1. August 2016: »Diese Geschichte hat begonnen seinerzeit an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras wie eh und je zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.« Dieser Stich wird, wie der Autor am 2. August festhält, zum »Zeichen«. »Ein gutes oder ein schlechtes? Weder als gutes noch als ein schlechtes, gar böses - einfach als ein Zeichen. Der Stich jetzt gab das Zeichen, aufzubrechen. Zeit, daß du dich auf den Weg machst. Reiß dich los von Garten und Gegend. Fort mit dir. Die Stunde des Aufbruchs, sie ist gekommen.«

Die Reise führt aus der Niemandsbucht, Umwegen folgend, sie suchend, in das Landesinnere, wo die Obstdiebin, »einfache Fahrt«, keine Rückfahrt, bleiben wird, oder auch nicht? Am 30. November 2016, dem letzten Tag der Niederschrift des Epos, resümiert Peter Handke die ungeheuerlichen und bisher nie gekanntenGefahren auf ihrem Weg dorthin: »Was sie doch in den drei Tagen ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hatte: seltsam. Oder auch nicht? Nein, seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.«
Autorenporträt
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.« 2019 wurde Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Rezensionen
»Sehr reizvoll ist, dass die 'Obstdiebin' über die ganze Erzählung hinweg zwischen einer Figur aus Fleisch und Blut und einem Phantasma schillert ...« Jan Wiele Frankfurter Allgemeine Zeitung 20171116

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Lothar Müller hat sich gern mit Peter Handkes "Obstdiebin" auf den Weg gemacht, um "Lesefrüchte" zu pflücken. Ohnehin schätzt der Kritiker Handkes Erzählungen für die Kunst der "Augenblicke und Schrecksekunden".  Davon gibt es im neuen Text allerhand, meint er. Mit dem Finger auf der Landkarte die Stationen von Handkes Heldin abschreitend zwischen Chaville und Picardie erlebt Müller Abenteuer und kommt in Berührung mit dem Mythos noch an den profansten Plätzen, am Spielplatz vor dem Bahnhof, im Supermarkt. Nicht der Gehalt der Erzählung (der Weg der Heldin zu einer Familienfeier) ist für den Rezensenten das Entscheidende, sondern der Satzbau, der laut Müller den Rhythmus des Voranschreitens imitiert. Wie der Autor damit den Kurzsatzstil auf die Plätze verweist und weiter gegen den Bildverlust anschreibt, findet Müller nach wie vor lesenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2017

Alles war gegen sie, und sie war gegen alles

Peter Handke und Botho Strauß sind die Monolithen der deutschen Literatur: Jeder ein Fels für sich. Warum sie sich vollkommen fremd und doch ohneeinander nicht zu denken sind, zeigt Handkes neuer Roman "Die Obstdiebin"

Aus dem geistigen Mittelgebirge der deutschsprachigen Literatur ragen zwei Gipfel heraus, einsam und schroff: Botho Strauß und Peter Handke. Jeder von beiden ein Fels für sich. Und doch kann man den einen nicht ohne den anderen denken. Es ist, als hätte jeder eben das im Übermaß, was dem anderen fehlt. Bei Strauß: die Intellektualität, die Schärfe, der analytische, fassadenfressende Blick. Bei Handke: das Erzählenwollen, Erzählenmüssen, die O-Mensch-Geste, der Prosa-Gesang. Undenkbar, dass der eine auf den anderen zugeht, sich ihm gar anverwandelt. Und doch geben sie sich gegenseitig Kontur: als die beiden letzten überlebenden Varianten dessen, was bei uns einmal "Genie" hieß oder, bescheidener, Dichter. Im staatlich geschützten Biotop aus Lyrikern und Prosaisten, Stadtschreibern, Stipendiaten und Akademiemitgliedern sind sie die abwesenden Sendboten vom Parnass.

Schon die Orte, an denen sie wohnen, sagen viel über ihr Verhältnis zur Welt. Botho Strauß hat sich entschlossen, in der Wildnis seines Landes zu leben, am Rand der Uckermark, im tiefen Osten vor den Toren Berlins. Hier züchtet er die erlesenen Früchte seiner Lektüren und seiner Ranküne: "Auf ihrem Heimweg vergoß eine Schale Zorn die hagere, pferdgesichtige Frau, klackerte auf ihren Absätzen durch die nächtliche Gasse, schnauzte ihre Wut in die Hauseingänge." - "Unterm Lichthut versinnst du dich mit den Jahren in das Weiß bei Plotin" (aus "Oniritti"). Handke dagegen haust im Exil am Stadtrand von Paris, in der "Niemandsbucht" im Seinebogen, um den nötigen Abstand zu seiner intellektuellen und biographischen Herkunft zu halten, der seiner Prosa ihre sehnsüchtige Spannung gibt. Er lebt in Frankreich und schreibt auf Deutsch, weil sein ganzes Werk ein Werk des Heimwehs ist - nach einem Ort, der zugleich in der Welt und außerhalb der Welt ist, im Hier und Heute und außerhalb der Zeit.

Dieser Ort kann ein Spielplatz sein (in der "Stunde der wahren Empfindung") oder ein Holzstapel (in "Langsame Heimkehr"), eine Kneipe mit einer Jukebox (im "Versuch über die Jukebox") oder das "neunte Land" hinter den Bergen der Kindheit. Immer aber trägt er die Signatur einer profanen Offenbarung: Wer ihn findet, ist für einen Moment von allen Schmerzen, allen Zweifeln, allem Hass und aller Gier erlöst.

Die Tragödie des politischen Individuums Peter Handke besteht darin, dass er diesen Ort in den neunziger Jahren im zerbrochenen Jugoslawien gefunden hat. Deshalb ergriff er Partei für die Serben, die jenes Land zu verteidigen vorgaben, deshalb schloss er Freundschaft mit Mördern, deshalb färbten sich die "andersgelben Nudelnester" seiner Serbienreise mit dem Blutton von Srebrenica. Handkes Prosa freilich ist von diesem lebensgeschichtlichen Irrweg unberührt geblieben. Ja, vielleicht hat ihn der donquichotteske Kampf gegen die moralische Mehrheit im Jugoslawienkonflikt sogar beflügelt, indem er ihn endgültig der Verpflichtung enthob, die Literatur Österreichs, die deutsche Sprachgemeinschaft, die europäische Kultur oder irgendetwas anderes zu repräsentieren. Jedenfalls schreibt Handke, seit er nur noch für sich selbst steht, gelöster und unverkrampfter als je zuvor.

"Die Obstdiebin", Handkes neuer Roman, beginnt mit einer Schrecksekunde: Der Erzähler wird im Garten von einer Biene gestochen. Doch es tut nicht weh, denn derlei stößt ihm "seit jeher" im Sommer zu; außerdem, hofft er, wird das Gift seine taub gewordenen Zehen wenigstens "eine Zeitlang wiederbeleben". Aber der Stich will gelesen werden. Er gibt "das Zeichen, aufzubrechen". Wer sagt das? "Ich. Ich beschloss es." Die Erzählung braucht keinen Stoff, sondern einen Anlass. Sie bringt sich selbst in Gang.

Es ist der Sommer 2016. Frankreich wird von einer Terrorwelle heimgesucht: die Messerattacke in Magnanville, der Anschlag von Nizza, die Ermordung des Priesters in der Normandie. Die Furcht, die der Terror auslöst, schreibt sich der Erzählung ein. Zuerst ist da nur eine drückende Stille, "wie die Druckwelle einer weltweiten Katastrophe". Später wird der Druck konkret. Vor dem Bahnhof in Versailles stehen bewaffnete Polizisten, die bei jedem lauten Geräusch aufhorchen. Im Vorortzug fällt ein Fahrrad um, und es klingt wie ein Schuss. Dann bleibt der Zug stehen. Erschrocken blicken sich die Fahrgäste an: "Wieder ein Streik? Oder ein Terroralarm?" Handkes Figuren mögen Weltflüchtige sein, doch sie leben in dieser, in unserer Welt.

Aber noch eine weitere Furcht treibt den Erzähler an. Es ist die Befürchtung, nichts mehr zu sagen zu haben, zum Verwalter, zum Denkmal des eigenen Schreibens zu werden. "Das Geleistete verduftet, und ich in seinem staubtrockenen Sog geschwächt, schwächer nicht möglich". Zugleich weckt die Betrachtung der eigenen "Werkstücke" (also Bücher) das Verlangen, das Kunststück von damals, die Entgrenzung, zu wiederholen. So beginnt die Reise mit zwiespältigen Gefühlen: "Sehnsucht und Beklommenheit".

Die Anspannung entlädt sich in einem Bahnhofscafé. Zwischen den Stammgästen sitzend, bricht aus dem Erzähler der alte Handke-Hass - der, mit anderen Akzenten, auch der Hass von Botho Strauß ist - auf die Menschheit im Allgemeinen heraus, die für jeden Zuspruch taub ist: "Nichts wundert sie. Nichts macht sie aufhorchen." Aber, und hier trennen sich die Wege von Handke und Strauß, der Erzähler der "Obstdiebin" will diese "soundsoviel Milliarden unerreichbarer Zweibeiner" mit seinen Worten rühren. Zugleich weiß er, dass dieser Wunsch "nackter Unsinn" ist. Deshalb träumt er von einer Folterkammer, in der ihm all die Unerreichbaren in "einem lichtlosen Schrank, gefesselt und geknebelt", zuhören müssten. Was natürlich ebensolcher Unsinn ist.

Aber der Erzähler Handke braucht diesen Folterschrank gar nicht, um wieder Anschluss an die Menschheit zu gewinnen. Er muss sich nur verwandeln: sich und seine Geschichte. Es ist "ein Umschwung ins Höhere und Offene, ein Schwingen weg von all dem Definierten ins Undefinierbare", der so passiert. Man könnte auch sagen: eine Fiktion. Der Erzähler erfindet sich eine Gestalt. Er gibt ihr einen Namen: "Die Obstdiebin". Und dann folgt er ihrem Weg.

Die Obstdiebin - später erfahren wir, dass sie Alexia heißt - fällt nicht vom Himmel, sondern steigt aus dem Fundus von Handkes Phantasie: So viel Wiederholung muss sein. Sie ist die Tochter der "Bankfrau", die im Roman "Der Bildverlust" von 2002 in der Sierra de Gredos unterwegs war; und so wie diese damals ihre Tochter suchte, sucht jene jetzt nach der Mutter. Auch der getrennt lebende Vater tritt auf, ein Hobby-Historiker und verhinderter Volksredner, der einem aus vielen Handke-Büchern bekannt vorkommt, und dazu der Bruder, der sein Studium abgebrochen hat, um eine Lehre als Bauschreiner zu beginnen. Trotzdem ist "Die Obstdiebin" kein Familienroman. Es geht nicht um Beziehungen. Es geht um Erfahrungen, um den Gang durch eine Landschaft in einer bestimmten Zeit, mit Einschüben von Zeitlosigkeit.

"Die Welt, das war die Dreiecksgeschichte zwischen einem selber, der Natur und den Anderen." Um an diese Anderen heranzukommen, ohne ständig von "einem selber" reden zu müssen, holt der Erzähler Alexia auf die Bühne. Sie ist seine Muse, seine Maske und sein Medium, und im Traum, der beide "von ihren gegenseitigen Leibern erlöst und zur gleichen Zeit ganz Körper" sein lässt, wird er ihr Liebhaber. Doch sie trägt auch, obgleich "blutjung", seine Altlasten mit sich herum. "Die Zeit war ein Stoff, ein guter und lieber . . . Ihr jetziger Zustand aber hieß: Unzeit." - "Alles war gegen sie, und sie war gegen alles." Aber statt sich ihrem Überdruss grübelnd zu ergeben, lebt sie ihn aus: in der Natur, der Landschaft.

"Die Obstdiebin" beginnt mit einem Zitat aus Wolfram von Eschenbachs Ritter-Epos "Willehalm", das viele Rezensenten auf die Suche nach versteckten Bezügen geschickt hat. Dabei ist, natürlich, Wolframs anderes, bekannteres Epos der Bezugspunkt: der "Parzival". Die Geschichte vom reinen Toren, seinen Abenteuern, seiner Schuld, seiner Erziehung durch das Leben. Ein Bildungsroman.

Die Obstdiebin läuft von Cergy-Pontoise über Courdimanche, Osny und Chars nach Chaumont-en-Vexin. Ihre Route, etwa eine halbe Autostunde, kann man auf der Karte nachschlagen. Über die "Schlacht im Vexin", die letzte, sinnlose Gegenoffensive der geschlagenen Wehrmacht nördlich von Paris, hat der im Roman erwähnte "Parisien" im August 2016 berichtet. Zeitbezüge, Daten, historische Klammern überall. Dann aber ermahnt sich der Erzähler, "jede Ansteckung mit alten stories", selbst den biblischen, zu vermeiden. Auch die Naturbeschreibungen, sonst die Kronjuwelen in Handkes Prosa, fallen diesmal eher spärlich aus. Dieser Roman malt keine Landschaften. Er zeichnet Figuren.

Da ist die Dorfschullehrerin, die einen Krimi schreiben will, "Die Mutter aller Morde", und sich dann entschließt, das Geheimnis der Landschaft lieber nicht an eine mystery story zu verraten. Der Familienvater, der verzweifelt seine Katze sucht und sie ohne jeden Dank von der Finderin entgegennimmt. Der Gastwirt, der sein verfallendes Hotel an der Staatsstraße wiedereröffnen will, um die Autofahrer der Welt zu verköstigen. Vor allem aber der Pizzabote, der seinen Scooter stehen lässt, um mit Alexia übers Land zu gehen. In ihm hat Handke eine Gestalt des gegenwärtigen Unheils zu skizzieren versucht. Im Hotel, vor der Jukebox, träumt der Bote von Selbsttötung. Da zieht ihn die Obstdiebin in einen Tanz hinein, den er als Geheilter verlässt. Von allen Gesten in diesem Buch ist das die gewinnendste, weil sie ohne Pathos auskommt, ohne Sprachmagie, weil sie ganz Aktion und Bewegung ist und doch viel mehr.

Die Obstdiebin und ihr Vater, der Pizzabote, der Katzensucher, die Lehrerin. Auch bei Botho Strauß könnte man solchen Menschen begegnen. Aber er würde sie am Faden einer Sucht, eines Ticks, einer Verletzung, einer Pferde- oder Katzengesichtigkeit tanzen lassen. Bei Handke bekommen sie, was sie bei Strauß nicht haben: Atem. Der Erzähler entreißt ihnen nicht ihr Geheimnis. Der Preis, den er für diese Zurückhaltung zahlt, ist Unschärfe. Keine von Handkes Figuren prägt sich tiefer ein, auch die Obstdiebin nicht. Ihr größter Moment ist ein Duell, das sie kurz vor dem abschließenden Familienfest mit ihrer Doppelgängerin in der Arena eines abgebauten Zirkuszelts austrägt. Die beiden fetzen sich wie die Androidenknaben in Spielbergs "A. I.", mit "Totschlagswut" im Blick. Die Obstdiebin wirbelt wie ein "Meteorstein" und bleibt Siegerin. Am Ende ist der Kampf mit dem eigenen Spiegelbild doch das härteste Parzival-Erlebnis.

Was haften bleibt, sind die Momente, in denen die Geschichte stillsteht. Die Bahnhofsuhr von Cergy, durch die der Abendhimmel durchscheint. Der Wald, der sich wie ein Naturkäfig über den Wanderern schließt. Das Aufglühen von Wolkenfetzen, der Tanz der drei Fremden. Und die Suaden, die Verfluchungen und Anrufungen der Menschheit, der Geschichte, der Erzählung, der Autofahrer, der Staatenlosen. "Lasst uns ein Volk sein heute", sagt der Vater in seiner langen, wirren Festrede, nach der die Geschichte wie ein müdes Kind die Augen schließt - "ein anderes, das machtlose, vor dem Zifferblatt der Anderen Zeit." Da ist Handke wieder ganz nah bei Botho Strauß. Auch der träumt ja von der Gemeinschaft der Wissenden, der Eingeweihten, vom großen Anderswo, an dem die Jetztzeit, die böse, seinsvergessene, aufgehoben ist. Die Eremiten der deutschen Literatur, der Monolith und die Monade, sie wollen einen Bund stiften, jeder für sich. "Eine Partei gründen? Die Partei der Obstdiebe? Aber gab es die nicht schon?" Es gibt sie. Sie heißt Poesie.

ANDREAS KILB.

Peter Handke: "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere". Suhrkamp, 559 Seiten, 34 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2017

Wenn die Uhr steht
In seinem Buch „Die Obstdiebin“ setzt Peter Handke seine Suche
nach dem Epos fort – und findet Augenblicke, Schrecksekunden
VON LOTHAR MÜLLER
Zu den Doppelgängerfiguren, die in seinem Werk auftauchen, gehört Peter Handke selbst. In ihm gibt es, nunmehr schon seit Jahrzehnten, zwei Autoren, die einander zum Verwechseln ähnlich sehen, einander zuarbeiten, miteinander rivalisieren, hin und wieder über einander den Kopf schütteln, sich voneinander entfernen, aber nie aus den Augen verlieren. Der eine verfasst, auf Reisen oder an seinem jeweiligen Wohnort, Notizen, Aufzeichnungen, Kommentare zu Lektüren, Einfälle, und macht daraus irgendwann ein Buch. Der andere arbeitet derweil in immer neuen Anläufen daran, ein Erzähler zu werden und hat es dabei nicht leicht, weil er kein Geschichtenerfinder ist.
So nimmt er, was ihm seit der Kindheit andere erzählt haben, was er im Kino gesehen, in Bluesballaden und Rocksongs gehört hat, und nicht zuletzt den Stoff des eigenen Lebens, um es in die Form von Geschichten zu bringen und so zum Erzähler zu werden. Lange Zeit hat er, etwa seit 1989, „Versuche“ über alles mögliche geschrieben, die Jukebox, die Müdigkeit, den geglückten Tag oder den stillen Ort, die trotz ihres Titels nicht Essays waren, sondern Versuche des Erzählers, seinen Doppelgänger in den Helden einer Geschichte zu verwandeln.
Peter Handke geht inzwischen auf seinen 75. Geburtstag zu. An diesem Montag erscheint nach längerer Zeit wieder einer seiner epischen Großversuche. Er heißt „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“. Wer darin nach Verbindungslinien zu seinen Vorläufern und nach dem Lebensstoff seines Autors sucht, wird rasch fündig. In dem Buch „Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos“ (2002) war ebenfalls eine weibliche Heldin, die im Finanzsektor arbeitende „Bankfrau“, zu einer Abenteuerreise in die spanische Hochebene aufgebrochen und war auf der Suche nach ihrer Tochter. Nun ist die junge Obstdiebin auf der Suche nach ihrer Mutter unterwegs, zwischen den nördlichen Ausläufern der Île de France und einem – freilich niedrigeren – Hochplateau in der angrenzenden Picardie.
Aber ehe die junge Frau auftaucht, bricht der Erzähler aus seinem Haus in der „Niemandsbucht“ Richtung Picardie auf, an einem Sommertag im August, nachdem er von einer Biene gestochen worden ist. Der Autor hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Niemandsbucht um das Haus in Chaville südwestlich von Paris herum entworfen hat, in dem er seit fast dreißig Jahren lebt. Und in Interviews hat er berichtet, er habe vor einigen Jahren ein weiteren Haus erworben, in der Picardie.
Das Buch „Mein Jahr in der Niemandsbucht“(1994) firmierte im Untertitel als „ein Märchen aus neueren Zeiten“, und „Der Bildverlust“ gab sich im Untertitel offenkundig nur deshalb als „Roman“ aus, um zum „Don Quijote“ des Miguel de Cervantes hinüber zu grüßen, dem er sein Motto verdankte: „Vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten“. Mit dem landläufigen Roman, seinen Plots, seinen Handlungsmustern hat der Schriftsteller Peter Handke seit je nichts zu schaffen. Und vom James Joyce des „Ulysses“ wie vom „Mann ohne Eigenschaften“ Robert Musils hat Handke sich mit Grausen abgewandt, als er das „epische“ Erzählen zu seinem Ideal und das Mittelalter zu seiner Wahlheimat erklärte. Früh tauchte dabei, etwa in der „Niemandsbucht“, die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Wolfram von Eschenbach als Autor der Gegenwart auf. Er ist nun der wichtigste Schirmherr der „Obstdiebin“, die sich in Handkes letztem Aufzeichnungsband „Vor der Baumschattenwand nachts“ als Projekt eines „letzten Epos“ findet.
Wolfram von Eschenbach erzählt von Ereignissen, die in Frankreich stattfinden,und im „Willehalm“, dem Handke eines seiner Motti entnimmt („Man gesach den liehten summer in sô maniger varwe nie“, „Man sah den lichten Sommer in so mannigfacher Farbe nie“), begegnen sich Christen und Muslime, wie auf dieser kurzen, nur wenigen Tage dauernden Reise in die Picardie, der alten Kornkammer der französischen Könige, deren Name in den Ohren der Obstdiebin etwas „Ritterliches“, „Chevaleresques“ hat.
Nach etwa 150 Seiten verlässt der Erzähler als leibhaftige Figur seine Geschichte, um nur noch Begleiter der Obstdiebin zu sein, die kein Obst stiehlt, sondern nur einzelne Früchte, also allenfalls Mundraub begeht und nur dem Namen nach eine Diebin ist. Sie ist eine Art Wünschelrutengängerin, wo sie eine Frucht pflückt, auch eine Lesefrucht, findet der Erzähler Berichtenswertes. Was aber ist erzählenswert? In einem Epos vor allem Abenteuer, die sich episodisch aneinander reihen, wenn der Held erst einmal aufgebrochen ist. Doch wo gibt es die, in der Jetztzeit, beim Wandern durch die industrialisierte Provinz, in den Regionalzügen, vor den Supermärkten, in den Kebab-Imbissen, im Niemandsland zwischen Metropole und Provinz?
Nur in Form der Verwandlung von Alltagsbegebenheiten in Prüfungen, Gefahrenmomente, vermiedene Katastrophen. „Verwandlung“ ist das Schlüsselwort in Handkes Projekt eines neuen epischen Erzählens. Und so gehören zu den schönsten Passagen des Aufbruchs die Seiten, auf denen sich die Supermarktkassiererin auf dem Spielplatz am Bahnhof der Niemandbucht in eine epiphanische Erscheinung verwandelt.
Ihnen stehen die Schrecksekunden und Gefahrenmomente gegenüber, das wichtigste Organ ihrer Wahrnehmung ist das Gehör. Ein Tritt auf dröhnende Kanalisationsplatten ruft die Vorstellung automatisch aus dem Boden schießender Sperrvorrichtungen hervor, das Krachen im Regionalzug, der plötzlich auf freiem Feld stoppt, lässt Anschlagsangst über die Passagiere gleiten, in der Gratiszeitung taucht „der Mörder des greisen Priesters in der Kirche bei Rouen“ auf, angesichts verschleierter junger Frauen muss der Erzähler einen Wutanfall in sich unterdrücken. Und der todessüchtige junge Pizzabote, der sich eine Zeitlang der Obstdiebin auf ihrer Wanderung anschließt, gerät momentweise in eine Panik und ein Zwielicht, die ununterscheidbar werden lassen, ob in ihm ein Selbstmordattentäter oder nur ein Selbstmörder steckt. Die Reise ins Landesinnere führt auch ins Innere eines vom Terror erschütterten Landes
Man kann die Stationen dieses Buches auf der Landkarte verfolgen, es gibt die riesige Uhr am Regionalbahnhof von Cergy-Saint-Christophe, die stehengeblieben ist, um der Zeit der epischen Erzählung den Vortritt zu lassen. Aber nicht der Gehalt der Erzählung ist das Entscheidende, der Weg der Obstdiebin zur Familienzusammenkunft mit der Mutter, dem Vater und dem jüngeren Bruder, die Begegnung mit einem Ungeheuer, das sich als kleiner gallischer Hahn entpuppt, die Rettung einer halbtoten Katze, die Einkehr in ein Totenhaus, eine Herberge, die Teilnahme an der heiligen Messe.
Entscheidend ist der Satzbau, der in Appositionen und Einschüben den Rhythmus des Aufbruchs und Voranschreitens in sich aufnimmt, als eine einzige lange Polemik gegen den „lakonischen“ Kurzsatzstil und den Aufstieg des Präsens als Erzähltempus in der Gegenwartsliteratur. Und, auf der anderen Seite, die in Schrift, in Prosa verwandelten Nachbilder, die alle behaupteten Bildverluste dementieren: „Die Sonne ging unter. Ein erster kühler Hauch kam nach dem sommerwarmen Tag daher über die Picardie und das Vexinplateau. Die dunkelnden, da abgeernteten Felder zeigten sich unversehens weiß in weiß von den vorher verborgenen Möwen. Hoch im Zenit, ebenso weiß Wolkenbänder als Schaumstellen im Sand nach dem Zurückfließen einer Meereswelle. Zwei dieser Wölkchen, im Abstand, wurden von einem Strahl der sonst allüberall schon verschwundenen Sonne erfasst, trieben jetzt sacht aufeinander zu und gleißten auf in dem einen Moment, da eins auf das andere traf.“
Man findet solche Prosa auch in den Notizheften Handkes. Anders, als der Autor glauben mag, liegt die Stärke dieses wie seiner anderen epischen Großprojekte nicht im weltumspannenden Gestus des Erzählers. Sondern in den Passagen, in denen er seinem Doppelgänger den Vortritt lässt, dem Verfasser von Aufzeichnungen und Meister der Prosa des Augenblicks.
„Man sah den lichten Sommer in
so mannigfacher Farbe nie“, heißt
es bei Wolfram von Eschenbach
„Die Sonne ging unter. Ein erster
kühler Hauch kam nach dem
sommerwarmen Tag daher . . .“
„Die Uhr von Cergy-Saint-Christophe war freilich an jenem Abend stehengeblieben, oder stand vielleicht schon seit längerem. Hinter den Speichen dieser Uhr fast in Form eines Riesenrads, zu denen jetzt auch das stehengebliebene Zeigerpaar gehört, wurde der Himmel, obwohl weiterhin hell, ein Abendhimmel.“
Foto: picture-alliance/MAXPPP
Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
560 Seiten, 34 Euro.
E-Book 29,99 Euro.
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